Die Zeichnung zeigt ein symmetrisches, ornamental reich komponiertes Figurenkapitell. Auf dem Akanthusblattkranz stehen links und rechts an der Stelle herkömmlicher Voluten zwei nach außen schauende, geflügelte und eher jugendliche statt kindliche Eroten. Auf ihren Schultern tragen sie eine Fruchtgirlande, auf deren Mittelachse ein nach rechts blickender Adler mit offenen Flügeln sitzt. Der Bereich unter der Girlande ist mit zwei symmetrisch arrangierten Bändern gefüllt. Der Abakus ist mit einem fein gezeichneten Eierstabmotiv über einem Rosettenfries verziert.
Die Zeichnung wurde sorgfältig in mehreren Etappen mit Hilfe von Konstruktionslinien angefertigt (siehe Zeichnerischer Prozess und historische Nutzung ). Wahrscheinlich wurde mit der linken Hälfte begonnen, wofür eine kräftige, unter dem Rötel deutlich erkennbare Vorzeichnung in schwarzer Kreide angelegt wurde. Bei der Überarbeitung in Rötel wurde die Vorzeichnung vor allem im Bereich der welligen Bänder korrigiert. Aufgrund dieser Vorzeichnung in schwarzer Kreide wirkt die linke Seite des Kapitells markanter als die rechte. Zu diesem Eindruck tragen auch die mit kurzen parallelen Strichen bearbeiteten Schattierungen in der linken Hälfte bei.
Das Kapitell ist in gleicher Größe in Tafel 111 der Vasi, candelabri abgebildet (Abb. 1). Diese Tafel besteht aus zwei Druckplatten: Das Kapitell erscheint im rechten Druck, der von Francesco Piranesi signiert ist, und wird dort als „Capitello che si vede nel palazzo Massimi“ („Kapitell, das im Palazzo Massimi zu sehen ist“) bezeichnet. Ein solches Bauornament ist heute in der Sammlung des Palazzo Massimo jedoch nicht zu finden. Im Druck wurden der Säulenwulst und -schaft unterhalb des Kapitells wahrscheinlich aufgrund mangelnden Platzes nicht dargestellt. Das Kapitell wird dort zudem mit einer künstlerisch fragmentierten, nicht zugehörigen Säulenbasis abgebildet, die laut der Legende ehemals in Piranesis eigener Antikensammlung stand.
Abb. 1: Giovanni Battista Piranesi, Zwei Tafeln mit antiken Bauornamenten, Radierung, 1790, in: Vasi, candelabri, Taf. 111, Biblioteca Histórica de la Universidad Complutense de Madrid, BH GRL 13CC BY-NC 4.0 Die Radierung zählt zu den Tafeln, die der Serie von Francesco erst nach dem Tod des Vaters 1778 hinzugefügt wurden. Der rechte dazugehörige Druck auf derselben Tafel ist auch von Francesco signiert und zusätzlich 1790 datiert – ein Datum, das ebenfalls für diese linke Tafel gelten dürfte.[1] Die technische Analyse hat gezeigt, dass das Blatt als Vorzeichnung für den Druck diente (siehe Historische Nutzung ). 1790 gilt also als terminus ante quem für die Datierung der Zeichnung.
Wie in anderen Fällen auch ist trotz der motivischen Übereinstimmung ein gewisser stilistischer Unterschied zwischen der Zeichnung und seiner gedruckten Wiedergabe zu beobachten, beispielsweise in Details der Gesichter der Eroten. Diese stilistische Diskrepanz lässt sich wahrscheinlich mit der Umsetzung des Motivs im Druck durch einen anderen Werkstattmitarbeiter erklären. Die Umsetzung geschah wahrscheinlich erst einige Zeit nach der Entstehung der Zeichnung, die möglicherweise schon zu Giovanni Battista Piranesis Lebzeiten (vor 1778) in der Werkstatt vorhanden war. Dies kann aufgrund weiterer Elemente aus der zugehörigen, zweiten Radierung auf der gleichen Tafel begründet werden (Abb. 1, links ).
Dort wird ein weiteres Kapitell dargestellt, für das eine Vorzeichnung ebenfalls in den Klebealben der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe vorhanden ist (IX 5159-35-31-1 ). Sie wurde in der Werkstatt, vermutlich von Piranesis Hand, mit kräftigem Duktus in schwarzer Kreide stark überarbeitet. Auch die am Rand vergrößerten Details in Rötel können aufgrund der stilistischen Verbindung mit anderen Zeichnungen (z.B. IX 5159-35-19-5 ) der Hand Piranesis zugeschrieben werden. Eine Vorzeichnung des Säulenfragments , das ebenfalls in diesem Druck abgebildet wird, ist im Klebealbum des Weinbrenner-Schülers Heinrich Geier im Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau (saai) am KIT in Karlsruhe aufbewahrt.[2] Auf dessen Rückseite befindet sich eine fragmentarisch erhaltene Vorzeichnung für einen Kamin, der in der Serie der Diverse Maniere (1769) publiziert wurde (siehe Essay „Die Piranesi-Zeichnung aus dem Geier-Album“). Die Zeichnung der Säule auf der Vorderseite dürfte vor nach der beschnittenen Zeichnung des Kamins auf der Rückseite entstanden sein, also nach 1769 und vor 1790, mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Mitte der 1770er Jahre. Eine vergleichbare Datierung wäre für die hier besprochene Kapitell-Zeichnung möglich.
Die Zeichnung weist in den Gesichtern und Schattierungen zudem stilistische Verbindungen zu der Zeichnung eines Brunnens aus der Villa Albani in der Morgan Library auf (Abb. 2), und dadurch auch mit Zeichnungen der Gruppe 8 in Karlsruhe wie IX 5159-35-15-6 und IX 5159-35-15-5 . Die gleiche Ausführung der Gesichter, vor allem der Augen, sowie kurze und regelmäßige Schraffurlinien findet man auf dem geölten Papier IX 5159-36-18-4 (Abb. 3). Auch die Hände und Füße sind vergleichbar (Abb. 4).
Abb. 2: Detailvergleich zwischen Inv. IX 5159-35-29-3, Piranesi-Werkstatt, Brunnen aus der Villa Albani, schwarze Kreide, 24,8 x 13,6 cm, New York, Morgan Library & Museum, 1966.11.112 (© The Morgan Library & Museum.1966.11.112. Bequest of Junius S. Morgan and gift of Henry S. Morgan) und Inv. IX 5159-36-18-4Abb. 3: Detailvergleich zwischen Inv. IX 5159-35-29-3 und IX 5159-36-18-4CC0 1.0
Abb. 4: Detailvergleich zwischen Inv. IX 5159-35-29-3 und IX 5159-36-18-4CC0 1.0 In Karlsruhe ist noch eine weitere Zeichnung desselben Kapitells aufbewahrt (IX 5159-35-32-5 ). Diese Version ist etwas kleiner und nur in der linken Hälfte ausgeführt. Sie ist dem Druck weniger nah als das hier besprochene Blatt (Abb. 5).
Abb. 5: Detailvergleich zwischen Inv. IX 5159-35-29-3, IX 5159-35-32-5 und DruckCC0 1.0 Zudem sind deutliche Unterschiede zu beobachten, wie der eine Schräge bildende Eros und die Kanneluren der Säule. Der Zeichner von IX 5159-35-29-3 ist erfahrener als jener von IX 5159-35-32-5. In letztgenannter Darstellung stimmen die Proportionen von Oberkörper und Beinen des Eros nicht überein, der Fuß und das Gesicht sind viel gröber gezeichnet. Diese Zeichnung wurde also höchstwahrscheinlich von einer anderen Hand angefertigt. Dass beide Blätter eine Entwicklungsreihe bilden, in der IX 5159-35-32-5 eine skizzenhaftere Ausgangsphase bildet, wäre eine alternative Hypothese.
Bénédicte Maronnie
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