Wie auf einem Vorlagenblatt sind die einzelnen Zeichnungen hier dicht nebeneinandergesetzt, ohne dass direkte inhaltliche Bezüge erkennbar wären. Offenbar wurde das Papier dort, wo bereits beim Trocknen des Papiers auf der Leine eine Quetschfalte entstanden war, gefaltet und von beiden Seiten bezeichnet. Einige der in Rötel ausgeführten Darstellungen wurden in einem zweiten Schritt mit schwarzer Kreide überarbeitet und damit akzentuiert. Giovanni Battista Piranesi griff verschiedene der Motive in seinen Druckgrafiken auf.
Werkdaten
Künstler
Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793) (?) oder Zeichner der Piranesi-Werkstatt, Gruppe 2
Ort und Datierung
Rom, nach 1761 bis 1767
Abmessungen (Blatt)
575 x 438 mm
Inventarnummer
IX 5159-36-19-1
- Zeichenmedien
Rötel mit Überarbeitungen in schwarzem Stift (Kreide) mit fetthaltigem Bindemittel; weitere Informationen, siehe: Merkmale der Zeichenmedien
- Beschriftungen
Keine
- Literatur
Georg Kabierske: A Cache of Newly Identified Drawings by Piranesi and His Studio at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Master Drawings 53, 2015, S. 147–178, hier S. 153f, Abb. 9; Georg Kabierske: Weinbrenner und Piranesi. Zur Neubewertung von zwei Grafikalben aus dem Besitz Friedrich Weinbrenners in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, in: Brigitte Baumstark/Joachim Kleinmanns/Ursula Merkel (Hg.): Friedrich Weinbrenner, 1766–1826: Architektur und Städtebau des Klassizismus, Ausst. Kat. Karlsruhe, Städtische Galerie und Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Petersberg 2015 (2. Aufl.), S. 75–87, hier S. 78.
- Hadernpapier
Vergé; italienische Herstellung (vermutlich in den Marken oder Umbrien, Pioraco oder Foligno); Zeichnung vermutlich auf der Siebseite; weitere Informationen, siehe: Merkmale des Papiers
- Rückseite
Giovanni Battista Piranesi (1720-1778): Plan des Circus Maximus aus Della Magnificenza, Radierung 1761
Das Werk im Detail
- Bildgegenstand und ikonographische Bedeutung
In Rötel und schwarzer Kreide gezeichnet, sind auf dem Blatt eine Vielzahl von ornamental wirkenden Figurenkompositionen und Köpfen, teils in Rundformen, angeordnet. Unter den Figurengruppen finden sich zwei Viktorien, die einen Dreifuß flankieren, eine einzelne Siegesgöttin, bekrönt von einem Tropaion und begleitet von zwei kleineren Sklaven sowie zwei Mänaden, die eine Herme mit Girlande und Kranz schmücken. Hinzu kommen ein von Zentauren gezogener Streitwagen, eine einzelne Mänade mit Tamburin, ein Genius sowie einzelne Köpfe, Büsten, Gemmen und ein kleines Rhytongefäß. Während die Szenen in der linken Blatthälfte eher aus einem triumphalen oder kultischen Kontext zu stammen scheinen, zeigt die rechte Hälfte mit den Gemmen vornehmlich Motive mit ikonographischem Bezug auf den dionysischen Kontext. Als Inspirationsquelle dienten möglicherweise etruskische Motive oder antike Gemmen. Die in unserer Ansicht am linken Blattrand dargestellte Figur mit Rhyton-Gefäß in der Hand, die auf einem Dreifuß ein Opfer darbringt, könnte von einem genius domesticus (lateinisch für häuslicher Schutzgeist) inspiriert sein, wie er von Antonio Francesco Gori und Giovanni Battista Passeri im dritten Band des Druckwerks Mvsevm Etrvscvm Exhibens Insignia Vetervm Etrvscorvm Monvmenta 1743 publiziert wurde (Abb. 1).
Abb. 1: Detailvergleich des Genius Domesticus, in: Antonio Francesco Gori und Giovanni Battista Passeri, Mvsevm Etrvscvm Exhibens Insignia Vetervm Etrvscorvm Monvmenta, 1743, B.d 3, Universitätsbibliothek Heidelberg und der Zeichnung IX 5159-36-19-1 (Detail)
Public Domain Mark 1.0Georg Kabierske
- Beschreibung und Komposition
Die zahlreichen Einzelmotive wie auch die figürlichen Gruppen wurden auf dem rechteckigen Blatt in zwei gegensätzlichen Richtungen angelegt. Das Blatt ist ursprünglich in der Mitte horizontal gefaltet worden, sodass jeweils eine Hälfte zum Zeichnen verwendet werden konnte. Die Motive wurden zügig in Rötel skizziert, der heute teilweise eine variierende Farbigkeit angenommen hat (siehe Zeichnerischer Prozess). Pentimenti deuten auf eine suchende Linienführung hin. Die größeren figürlichen Kompositionen erhielten zusätzlich eine Überarbeitung in schwarzer Kreide. Dadurch wurden wichtige Konturen präzisiert und mit den verstärkten Kontrasten eine bessere Lesbarkeit ermöglicht.
Georg Kabierske
- Einordnung in das Gesamtwerk Piranesis
Im Piranesi-Konvolut der Morgan Library in New York befindet sich ein motivisch und stilistisch vergleichbares Blatt, das in unmittelbarer zeitlicher Abhängigkeit entstanden sein muss (Abb. 2).
Abb. 2: Zeichner der Piranesi-Werkstatt, Studienblatt mit Widderköpfen, Trophäen und Viktorien, um 1760/61–1767, Rötel und schwarze Kreide, 467 x 374 mm, New York, © The Morgan Library and Museum, Bequest of Junius S. Morgan and gift of Henry S. Morgan, Inv. 1966.11:34 Das Blatt zeigt neben drei Studien mit Widderköpfen verschiedene Viktorien teils als Einzelfigur, teils in figürlichen Gruppen in Rötel und schwarzer Kreide. Bei zwei Szenen wurde auch dort die lockere Rötelskizze mit schwarzer Kreide überarbeitet. Insbesondere die Szene am unteren Blattrand ist wie in Karlsruhe als Dreierkomposition ausgebildet, zwei Viktorien flankieren ein Tropaion. Die Übereinstimmung der beiden Blätter belegt den direkten Zusammenhang der Konvolute in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und der Morgan Library New York und liefert ein wichtiges Indiz dafür, dass diese Zeichnungen ursprünglich aus derselben Quelle, aus Piranesis Werkstatt, stammen. Diese Provenienz wird durch die heutige Rückseite des Karlsruher Blattes bestätigt, die, wie später noch ausgeführt werden wird, eine Radierung Piranesis zeigt (siehe IX 5159-36-19-1v).
Georg Kabierske
- Graphischer Transfer und mediale Umsetzung
Dieses Karlsruher Blatt mit den verschiedenen zeichnerischen Elementen gehört zu Piranesis Motivvorlagen, die er im Kompositionsprozess seiner ornamentalen oder architektonischen Entwürfe zu neuen Kreationen zusammenstellte, wie im Folgenden aufgezeigt werden kann. Drei der Figurengruppen fanden in der 1767 gedruckten, erweiterten Auflage von Piranesis architekturtheoretischer Abhandlung Parere su l’architettura Verwendung. Darin fordert er eine neue einfallsreiche Formensprache, die auf Vielfalt, Variation und Kombination antiker Einzelelemente unterschiedlicher Herkunft – wie ägyptischer, griechischer, etruskischer oder römischer Motive – basieren soll. Die eigenwillige Reliefkomposition auf Tafel 7 ist zudem mit einem Zitat aus Ovids Metamorphosen XV – „rerumque novatrix ex aliis alias reddit [reparat] natura figuras“ zu Deutsch „Veränderung liebend, macht [schafft] die Natur stets Anderes aus Anderem neu“ – überschrieben, das Piranesi als Rechtfertigung seiner neuen Formensprache anführt und sie damit durch das Gesetz der Natur selbst legitimiert. Unterhalb dieser Inschrift kehrt die Gruppe aus zwei Mänaden vom Karlsruher Blatt wieder, die eine Herme mit Kranz und Girlande schmücken, leicht modifiziert und dupliziert, etwas größer und nur in Teilen deckungsgleich mit der Zeichnung. (Abb. 3).
Abb. 3: Detailvergleich von Giovanni Battista Piranesi, Taf. 7, in: Parere su l’architettura, 1767 (hier Abzug zwischen 1800-1807), Madrid, Biblioteca Histórica de la Universidad Complutense, BH GRL 5(6) und der Zeichnung IX 5159-36-19-1
CC BY-NC 4.0Die rechte Mänadengruppe in der Radierung kommt der Karlsruher Zeichnung am nächsten. Die eigenhändige, expressive Vorzeichnung der gesamten Komposition von Piranesis Hand in Feder befindet sich in der National Gallery in Washington D.C. (Abb. 4).
Abb. 4: Giovanni Battista Piranesi, Architekturphantasie eines Wanddenkmals, 1764–1766, Feder, braune Tinte und Lavierung über schwarzer Kreide, 607 x 472 mm, National Gallery of Art Washington D.C., 1966.119.1
Public Domain Mark 1.0Darüber hinaus erinnern zwei weitere Figurengruppen des vorliegenden Karlsruher Blattes, wenn auch stärker modifiziert und im Detail abgeändert, an Elemente anderer Radierungen dieser Serie. So etwa für die beiden weiblichen Figuren, die, einander zugewandt, in der Mitte der Attikazone von Tafel 5 einen antiken Dreifuß flankieren. Stephan Morét stellte die Verbindung zu den beiden geflügelten Viktorien des Karlsruher Blattes her, die ebenfalls einen kleineren Dreifuß – hier jedoch kandelaberartig aus mehreren Segmenten aufgebaut – zwischen sich aufnehmen (Abb. 5).
Abb. 5: Detailvergleich von Giovanni Battista Piranesi, Taf. 5, in: Parere su l’architettura, 1767 (hier Abzug zwischen 1800-1807), Madrid, Biblioteca Histórica de la Universidad Complutense, Inv. BH GRL 5(6) und der Zeichnung IX 5159-36-19-1
CC BY-NC 4.0Die beiden weiblichen Figuren der Radierung sind allerdings strenger, aufrechter und ohne Flügel wiedergegeben, so dass sie sich nicht als Viktorien bezeichnen lassen. Auch zu dieser Drucktafel hat sich für die Gesamtkomposition die Vorzeichnung Piranesis in Feder in der National Gallery in Washington D.C. erhalten (Abb. 6).
Abb. 6: Giovanni Battista Piranesi, Architekturphantasie einer Fassade mit bizzarer Ornamentik, 1764–1766, Feder, braune Tinte und Lavierung über schwarzer Kreide, 601 x 472 mm, National Gallery of Art Washington D.C., Inv. 1991.182.17
Public Domain Mark 1.0Im Unterschied zur Karlsruher Zeichnung ist dort die Komposition, wie auch die aller anderen Figuren der Attikazone, lediglich skizzenhaft angelegt worden. Womöglich gab es daher weitere Detailzeichnungen, die als Vorlage für die kleinteiligen Körper in der Radierung dienten.
Die Figurengruppe mit zentraler Viktoria auf der linken Hälfte des Karlsruher Blattes, die seitlich von kleineren Sklaven mit überkreuz vor dem Körper gefesselten Händen flankiert wird, kehrt als grundlegende Dreifiguren-Komposition im unteren Fries von Tafel 6 in doppelter Ausführung wieder (Abb. 7).
Abb. 7: Detailvergleich von Giovanni Battista Piranesi, Taf. 6, in: Parere su l’architettura, 1767 (hier Abzug zwischen 1800-1807), Madrid, Biblioteca Histórica de la Universidad Complutense, Inv. BH GRL 5(6) und der Zeichnung IX 5159-36-19-1
CC BY-NC 4.0Von Trophäen hinterfangen zeigt Piranesi hier je zwei Sklaven, die anstelle der Siegesgöttin einen größeren Soldaten einrahmen.
In den Karlsruher Klebealben sind noch weitere Zeichnungen vorhanden, die als Motivvorlage und Inspirationsquelle für Piranesis Radierungen in Parere su l’architettura dienten, siehe dazu: IX 5159-35-8-2, IX 5159-35-6-1, IX 5159-35-11-2, IX 5159-35-13-2, IX 5159-35-19-1, IX 5159-35-25-1, IX 5159-36-7-1 (siehe Essay Zusammenhänge der Zeichnungen mit Piranesis Stichwerken).
Georg Kabierske
- Zeichenstil
Die Karlsruher Rötelzeichnung ist in skizzenhafter Zeichenmanier angelegt, wobei die Linienführung formsuchend und unsicher die Körper mehrfach umreißt. Dies lässt sich auch auf dem Blatt der Morgan Library an den beiden Viktorien erkennen, die nicht überarbeitet wurden (siehe Abb. 2). Die Überarbeitung der größeren figürlichen Motive in schwarzer Kreide hat dagegen präzisierenden Charakter, die Kontur- und Binnenlinien sind in klaren Strichen final definiert. Im Gegensatz zu den großen Figuren wirken die gemmenhaften Tondi und bacchantischen Köpfe von Beginn an überraschend sicher ausgeführt. Wahrscheinlich wurden sie deshalb nicht in schwarzer Kreide überarbeitet.
Diese Vorgehensweise, bei einer Rötelzeichnung die wichtigsten Konturen mit schwarzer Kreide zu überarbeiten (oder umgekehrt eine schwarze Kreidezeichnung in Rötel zu überarbeiten) lässt sich bei zahlreichen weiteren Zeichnungen aus der Piranesi-Werkstatt beobachten, so etwa in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (IX 5159-35-8-2, IX 5159-35-29-3, IX 5159-35-31-1) und der Morgan Library (Inv. 1966.11:24, 1966.11:34). Piranesi nutzte den farblichen Kontrast aber auch selbst für die Korrektur von Details, etwa im Entwurfsprozess (Morgan Library, Inv. 1966.11:19, 1966.11:103, 1966.11:106) oder vielleicht bei den Vasen und Kandelaber-Zeichnungen (IX 5159-35-40-1, IX 5159-35-46-1, IX 5159-35-47-1).
Georg Kabierske
- Zuschreibungshypothesen
Die Zuschreibungsfrage ist nicht leicht zu beantworten.
Zunächst könnte man wegen der Verwendung einiger Motive in Parere su l’architettura und aufgrund der Schraffuren an eigenhändige Zeichnungen Giovanni Battista Piranesis denken. Die im Karlsruher Blatt skizzierten Dreifüße scheinen zudem an die locker in Kreide ergänzten Details seiner Kaminentwürfe zu erinnern (siehe Kunstbibliothek Berlin, Inv. Hdz 6318). Auch wenn sich Piranesi in seinem Spätwerk ab 1760 einen präziseren Zeichenstil angeeignet hat (siehe Essay Stilistische Gruppen, Gruppe 1), so ist dieser doch von einem unmittelbaren Duktus und einer lebendigen Linienführung geprägt. Hier hingegen nähert sich der Zeichner überwiegend schrittweise und unsicher der finalen Form an, worauf zahllose Pentimenti hindeuten. Den wiedergegebenen Figuren fehlt zudem die kräftige Linienführung sowie die kantige und sehr lebendige Art, die für Piranesis eigenhändige Rötelzeichnungen so charakteristisch ist. Diese Merkmale sind etwa einem Blatt in der Morgan Library (Inv. 1966.11:23) oder IX 5159-35-32-2 und IX 5159-36-16-1 zu entnehmen. Überdies sind die Schraffuren bei Piranesi zackiger, härter ausgeführt. Den Figuren auf dem Karlsruher Blatt fehlt die Expressivität, die Piranesis eigenhändiger Vorzeichnung für Tafel 7 in Parere su l’architettura zu eigen ist (Abb. 8).
Abb. 8: Detailvergleich von Giovanni Battista Piranesi, Architekturphantasie eines Wanddenkmals, 1764–1766, Feder, braune Tinte und Lavierung über schwarzer Kreide, 607 x 472 mm, National Gallery of Art Washington D.C., Inv. 1966.119.1 und der Zeichnung IX 5159-36-19-1
Public Domain Mark 1.0Auch die Widderköpfe und die vorsichtigen Figurenskizzen auf dem Blatt der Morgan Library (Inv.1966.11:34, siehe Abb. 2) sind – wie John Marciari bereits bemerkt hat – von einer zu schwachen Qualität, um von Piranesi selbst stammen zu können.[1] Von Piranesi selbst stammen dagegen andere Widderköpfe in der Morgan Library (Inv. 1966.11:29).
Grundsätzlich lässt sich das Karlsruher Blatt einer Gruppe von Zeichnungen zuordnen, die von einem Zeichner im unmittelbaren Kontext Piranesis – aber nicht von ihm selbst – ausgeführt worden sein müssen. Dazu zählen mindestens zwei Blätter aus der Morgan Library (Inv. 1966.11:30, 1966.11:34) und der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (IX 5159-35-28-3, IX 5159-35-28-3). Gemeinsames Merkmal dieser Gruppe ist der lockere Zeichenstil und die routiniert und in einem Zug durchlaufende Ausführung der Schraffuren von Hintergrundflächen oder Schattenzonen. Die Gesichter der großen Figuren des hier einzuordnenden Blattes finden außerdem eine stilistische Übereinstimmung im unteren Relieffeld von IX 5159-35-28-3, dem ein Abklatsch zugrunde liegt (Abb. 9).
Abb. 9: Detailvergleich der Zeichnungen IX 5159-35-28-3 und IX 5159-36-19-1 Ein wichtiges Indiz dafür, dass diese Zeichnungsgruppe im unmittelbaren Kontext von Piranesis entstanden ist, sind die hier und bei IX 5159-35-28-3 auf der Rückseite vorhandenen Radierungen. Im Karlsruher Blatt (siehe IX 5159-36-19-1v) ist es die topographische Ansicht des Circus Maximus und der umgebenen, idealisierten Topographie, die in der 1761 erschienenen Serie Della Magnificenza ed Architettura de‘ Romani abgedruckt wurde. Die Wiederverwendung von Makulaturpapieren beziehungsweise von Probedrucken oder überschüssiger Abzüge eigener Radierungen ist charakteristisch für Piranesi, der innerhalb seiner Werkstatt sehr sparsam mit dem damals teuren Rohstoff Papier umging. Heute liefert dieser Umstand wichtige Hinweise für die Einordnung und Datierung der Motive, die auf diesen Papieren in Zweitverwendung gezeichnet wurden. Ebenso von Bedeutung ist die Rezeption der hier gezeichneten Motive in Parere su l’architettura (siehe Graphischer Transfer und mediale Umsetzung). Auch bei einigen Öllampen auf Tafel 13 des zweiten Bandes der Antichita Romane griff Piranesi auf ein heute in der Morgan Library (Inv. 1966.11:30) aufbewahrte Blatt dieses Zeichners zurück.
Als möglicher Urheber dieses Blattes käme vielleicht Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793) oder ein durch ihn geschulter Zeichner in Betracht (siehe Essay “Stilistische Gruppen”, Gruppe 4). Naheliegend erscheint der Vergleich mit den Viktoria-Trophäen-Reliefs aus der Domus Flavia (IX 5159-35-19-1, IX 5159-35-25-1 und Morgan Library, Inv. 1966.11:33), die leicht abgewandelt auch in Parere su l’architettura Verwendung fanden. Zwar ist der Kreideauftrag hier kräftiger, dennoch finden sich vergleichbare Schraffuren, eine suchende Strichführung mit zahlreichen Pentimenti, rundliche Gesichter sowie eine gewisse Weichheit der Arme und des Faltenwurfs der Gewänder. Als Vergleich herangezogen werden könnten auch die Lhuillier-Zeichnungen im Vogel-Escher-Album in der Zentralbibliothek Zürich (Vogel-Escher-Album, FA Escher vG 188.6, fol. 81, siehe auch IX 5159-35-19-1, Abb. 14).[2] Soweit bekannt, wiederholen sich die Motive des Karlsruher Blattes in keiner weiteren Sammlung. Lhuillier hat hingegen oft ähnliche Motive gezeichnet, die sich heute in unterschiedlichen Sammlungen finden lassen. Möglicherweise ist die Zeichenhand auch mit jener der stilistischen Gruppe 5 identisch, worauf der flirrende Gesamteindruck der Rötelzeichnung und die strichartigen Füße und Finger der Überarbeitung in schwarzer Kreide hindeuten könnten (Abb. 10).
Abb. 10: Detailvergleiche der Zeichnungen IX 5159-36-19-1 (oben), IX 5159-36-29-1 (unten Mitte und links) und IX 5159-35-6-3 (unten rechts) Im Unterschied zu anderen Zeichnungen wie IX 5159-35-35-1, die wahrscheinlich von Piranesi impulsiv überarbeitet wurden, ist der Strich hier zu kontrolliert, um von ihm selbst zu stammen. Aufgrund der großen Nähe zu Piranesis unmittelbaren Motivrepertoire wird die Zeichnung hier der stilistischen Gruppe 2 zugeordnet. Diese enthält Blätter, die aufgrund von motivischen sowie stilistischen Kriterien einen Übergang zwischen dem Meister und seiner Werkstatt darstellen und eine eindeutig Zuordnung schwer fällt.
Die Datierung des Blattes resultiert aus den damit verbundenen Druckwerken Piranesis: Die Zeichnungen müssen zwischen 1760/61 (Erstdruck von Della Magnificenza ) und 1767 (Erstdruck von Parere su l’architettura) entstanden sein.
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Für John Marciaris Einschätzung dieser Zeichnung (Inv. 1966.11:30) in der Morgan Library, siehe den Kommentar in der Online-Datenbank.
2. Die Zeichnungen in der Zentralbibliothek Zürich wurden durch Bénédicte Maronnie identifiziert. Siehe dazu Bénédicte Maronnie mit Christoph Frank/Maria Krämer: Nouvelle lumière sur l’album de dessins Vogel-Escher de la Zentralbibliothek de Zurich. Copies et circulation de dessins d’architecture et d’ornements dans l’entourage de Johann Joachim Winckelmann, Giovanni Battista Piranesi et Nicolas François-Daniel Lhuillier, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 76, 2019, S. 19–44.
- Kunsthistorische Bedeutung
Das Blatt liefert wichtige Hinweise für den Arbeits- und Transferprozess innerhalb der Piranesi-Werkstatt. Es legt einmal mehr nahe, dass Piranesi in seiner Werkstatt offenbar Zeichner zum Anfertigen von Motivvorlagen beschäftigte, die er dann in seinen kreativen Entwürfen zu neuen Kompositionen zusammenfügte. Dieses arbeitsteilige Vorgehen leitet zu der in Parere und Diverse maniere geforderten neuen Formensprache über, die auf einem Baukastenprinzip von Motivvorlagen basiert.
Daneben wirft die Zuschreibung des Blattes viele Fragen auf, (vor allem in Bezug auf die Mitarbeiter der Piranesi-Werkstatt.) die eine neue Betrachtung von Piranesis Zeichnungen nach antiken Objekten erfordern. Traditionell wurden vergleichbare Blätter Piranesi selbst zugeschrieben. Durch den Karlsruher Bestand und seine Verbindung mit der Morgan Library zeigt sich nun, dass es weitere Hände zu scheiden gilt und dass es in der Werkstatt Zeichner gegeben haben muss, die jenes immense Motivrepertoire zeichneten, das als Grundlage für Piranesis eigene Kompositionen diente.
Georg Kabierske
- Merkmale des Papiers
Wasserzeichen:
Lilie im Kreisring, darüber das Monogramm “CB”
Belege:
Andrew Robison: Piranesi: Early Architectural Fantasies. A Catalogue Raisonné of the Etchings, Washington 1986, S. 221–224, Nr. 33–40 (Varianten, 1760–1780er Jahre); Edward Heawood: Watermarks Mainly of the 17th and 18th Centuries, Hilversum 1950, Taf. 218, Nr. 1598 (Variante, in: Agostino A. Georgi: Alphabetum Tibetanum, Rom 1762).
Sammlungen:
Karlsruher Alben: Nahe Varianten: IX 5159-35-14-3; IX 5159-35-17-3; IX 5159-35-29-3; IX 5159-35-34-1.
Varianten: IX 5159-35-1-1; IX 5159-35-4-1; IX 5159-35-5-2; IX 5159-35-33-1; IX 5159-35-35-2; IX 5159-35-39-1; IX 5159-35-42-1; IX 5159-35-43-1; IX 5159-36-20-1.
New York, The Morgan Library & Museum: Nahe Varianten: Studies from the Antique with Rams' Heads, Barbarian Trophies, and Figures of Victory, Inv. 1955.11:34; Design for a Mantelpiece with Masks on Lintel, a Bird on Jamb and a Rabbit on the Other, Inv. 1966.11:66.
Varianten: Design for mantelpiece with a vase between volutes, Inv. 1966.11:84; Three Figures and Architectural Details, Inv. 1950.9.
Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz:
Varianten: Le Antichità Romane: Opera di Giambatista Piranesi architetto veneziano divisa in quattro tomi. Tomo primo: De'quali si contengono gli avanzi degli antichi edifizj di Roma […] Rom 1756, Signatur: gr.-2" Nw 4581-1: R, Selbstbildnis, Taf. 11, Taf. 17 ; Tomo qvarto: Contenente I ponti antichi gli avanzi de' teatri de' portici e di altri monvmenti di Roma , Rom 1756, Signatur: gr.-2" Nw 4581-4: R, Taf. 8.
Herstellungsmerkmale:
Ungefärbt; relativ hohe Stärke; knötchenhaltiger Faserstoff; feine Siebstruktur; Stegschatten schwer erkennbar; kräftige Filz- und Siebmarkierung; Trocknungsfalten (markieren Bogenmitte); gelatinegeleimt; leichter Oberflächenglanz.
Maria Krämer
- Merkmale der Zeichenmedien
Rötel (Details 1a, b und 2): Schwach bis kräftig aufgetragener Rötel; bisweilen in das Papier eingedrückter Strich; teils leicht verwischter, teils durch Öleinwirkung deutlich gebundener und gedunkelter Strich; gleichermaßen auf den Erhebungen und in den Vertiefungen der Papieroberfläche angelagerte Partikel.
Detail 1a: Auflicht
Rötelauftrag, teils durch Öleinwirkung gedunkelt (unterer Strich)Detail 1b: Close-up
Rötelauftrag, teils durch Öleinwirkung gedunkelt (unterer Strich)Detail 2: Auflicht
Rötelauftrag, teils durch Öleinwirkung gedunkelt (oberer Bereich)Schwarzer Stift (Kreide) mit fetthaltigem Bindemittel: Überwiegend deckend aufgetragen; kompakter, verdichteter und teils furchiger Strich (Detail 3); durch Alterung des Bindemittels bräunliche Höfe um den Strich (Detail 4); im Reflexlicht deutlicher Oberflächenglanz.
Detail 3a: Auflicht
Fetthaltiger schwarzer Stift (Kreide) über Rötel, deckend und furchig bei kräftigem Auftrag (unterer Strich)Detail 3b: Streiflicht
Fetthaltiger schwarzer Stift (Kreide) über Rötel, deckend und furchig bei kräftigem Auftrag (unterer Strich)Detail 3c: Close-up Auflicht
Fetthaltiger schwarzer Stift (Kreide) über Rötel, deckend und furchig bei kräftigem Auftrag (unterer Strich)Detail 3d: Close-up Streiflicht
Fetthaltiger schwarzer Stift (Kreide) über Rötel, deckend und furchig bei kräftigem Auftrag (unterer Strich)Detail 4a: Auflicht
Akzentuierter Strich in fetthaltigem schwarzem Stift (Kreide); um den Strich ausgetretenes Bindemittel erscheint als verbräunter HofDetail 4b: Streiflicht
Kompakt, leicht glänzendes Erscheinungsbild des schwarzen StiftsDetail 4c: Close-up Auflicht
Akzentuierter Strich in fetthaltiger schwarzer Stift (Kreide); um den Strich ausgetretenes Bindemittel erscheint als verbräunter HofDetail 4d: Close-up Streiflicht
Kompakt, leicht glänzendes Erscheinungsbild des schwarzen StiftsNicht zur Entstehung der Zeichnung gehörende Farbmittel: Flächige Anhaftungen in Rötel.
Maria Krämer
- Zeichnerischer Prozess
Die Zeichnung wurde auf der Rückseite einer Radierung angelegt, deren Motiv im Durchlicht (Abb., zoomen Sie hier in das Blatt) erkennbar ist. Das Motiv zeichnet sich außerdem auf der Rückseite des für die Montierung genutzten Albumblattes ab, dort in Form einer dunklen kontaktbedingten Verbräunung des Papiers. Der Bogen wurde zum Zeichnen in der Mitte senkrecht gefaltet. Gezeichnet wurde jeweils auf einer Hälfte, so dass die Faltung jeweils die Oberkante bildete. Beim Ausarbeiten von zwei der achsensymmetrischen Figurengruppen vereinfachten mit einem Lineal gezogene senkrechte Mittelachsen in Rötel das freihändige Spiegeln der Motive.
Die einzelnen, auf dem Bogen verteilten Motive wurden in hellem Rötel skizzenhaft ausgeführt, wobei die zentralen Figuren mit einem schwarzen, fetthaltigen Stift auf Kreidebasis überarbeitet wurden. Die schwarzen Partien überdecken deutlich sichtbar die Partien in Rötel und finalisieren die Konturenzeichnungen, fügen vereinzelt auch Schattenschraffuren hinzu (IRR, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Der bindemittelhaltige Stift hat in diesem Fall auf die gegenüberliegende Albumseite ausgewirkt, die im geschlossenen Album direkt auf der Zeichnung lag. Während das Papier der Zeichnung auf dem Albumblatt eine Kontaktverbräunung erzeugte, blieben alle mit schwarzem Stift bezeichneten Bereiche davon verschont und erscheinen daher heller (Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Eventuell wirkte das Bindemittel des Stifts als eine Sperrschicht, die Wechselwirkungen zwischen den beiden Papieren verhinderte.
Maria Krämer
- Merkmale historischer Nutzung
An drei Blattkanten Büttenrand, rechte Kante beschnitten; ehemals mittig senkrecht gefaltet (Bergfalte); einige Blindlinien, keinem motivischen Zusammenhang zuzuordnen; ausgerissene Ecken sowie Klebepunkte mit anhaftenden Papierfragmenten verso (frühere Montierung); flächige Öleinwirkung (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt), paarige Einstiche von Stecknadeln (Detail 5); teils aufgeraute Oberfläche mit hochstehenden Fasern (Detail 6); Feuchtigkeitsränder an der oberen und unteren Kante; mehrere Einrisse entlang der Kanten.
Detail 5: Auflicht
Paarige Einstiche einer Stecknadel; hochgewölbte Ränder mit RötelablagerungenDetail 6a: Auflicht
Aufgeraute Papieroberfläche mit hochstehenden Fasern im Verlauf der Kreidestriche erkennbarDetail 6b: Streiflicht
Aufgeraute Papieroberfläche mit hochstehenden Fasern im Verlauf der Kreidestriche erkennbarMaria Krämer
- Prozesse historischer Nutzung
Das Blatt wurde nach Fertigstellung der Zeichnung beansprucht, denn der Rötel wirkt etwas berieben, auch das angrenzende Papier wirkt rötlich verfärbt. Verstärkt wird der Eindruck einer Abnutzung durch zahlreiche hochstehenden Fasern, die die Klarheit der Linien heute stellenweise mindern (Detail 6a).
Der relativ helle Rötel erscheint außerdem stellenweise dunkler (Detail 2). Dies ist auf einen ungleichmäßigen Kontakt mit einem geölten Papier zurückzuführen, worauf eine flächig korrespondierende gelbliche Fluoreszenz hindeutet (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Einige paarige Einstiche von Stecknadeln auf der rechten Hälfte des ehemals gefalteten Blattes (Detail 5, UVF, Abb.) lassen vermuten, dass die Zeichnung oder Teile davon zur Weiterverwendung abgepaust wurden.
Feuchtigkeitsränder an den Kanten deuten darauf hin, dass das Blatt Kontakt mit einer Flüssigkeit hatte, wahrscheinlich ebenfalls im Laufe seiner Nutzung in der Piranesi-Werkstatt. Einige tiefe Einrisse entlang der Blattränder stammen ebenso wie eine große Fehlstelle in der Mitte des oberen Randes von einer frühen unvorsichtigen Handhabung; möglicherweise wurden sie beim Ablösen der früheren Montierung verursacht. Die motivisch einer Zeichnung in der Morgan Library (Inv. 1966.11.34) nahestehende Darstellung wurde auf einem Papier mit verwandten Wasserzeichen (nahe Variante) ausgeführt. Das Papier des New Yorker Blattes ist allerdings deutlich dünner und entspricht damit nicht den von Piranesi für seine Tiefdrucke verwendeten Papieren.
Montierungshistorie:
Auf die frühere Montierung weisen neben der Fehlstelle an der oberen Kante Klebepunkte verso und dort anhaftende Papierfragmente hin. Die Klebepunkte erscheinen im UV-Fluoreszenzbild (UVF, Abb.) dunkel. Die Zeichnung in der Morgan Library (Inv. 1966.11.34) erfuhr wohl eine vergleichbare frühere Montierung, die zu ähnlichen Verbräunungen des Papiers verso im Bereich ehemaliger Klebepunkte führten.
Maria Krämer
Schlagwörter
- Ornamentmotiv
- Rötel
- Fetthaltiger schwarzer Stift (Kreide)
- Giovanni Battista Piranesi
- Piranesi-Werkstatt
- Italienisches Papier
- Mänade
- Parere su l’architettura
- Herme
- IX 5159-36-19-1
- Stilistische Gruppe 02
- Lilie im Kreisring (Beizeichen: CB oberhalb)
- Genius
- Figur
- Viktoria
- Mythologische Szene
- Dreifuß
- Büste
- Studienblatt
- Gemme
- Rhyton
GND-Begriffe
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