Dasselbe Kapitell wurde in den gleichen Maßen und in vollständiger Form als Vignette auf der ersten Seite der Publikation Ragionamento apologetico in Difesa dell’architettura Egizia e Toscana (Verteidigungsschrift zugunsten der ägyptischen und toskanischen Kunst) gedruckt (Abb. 1).[1] In diesem dreisprachigen Text, der das Druckwerk der Diverse maniere (1769) einführt und in einer Folge polemischer Schriften der 1760er Jahre zu verorten ist, nimmt Piranesi Stellung zur Kunst antiker Zivilisationen (ägyptischer, etruskischer, römischer und griechischer) als Inspirationsquelle für zeitgenössische Künstler, insbesondere für sein eigenes Werk im Rahmen des Kunsthandwerks und der Innendekoration. So geht aus dem Ragionamento hervor, dass sein Rückgriff auf ein antikes Ornamentrepertoire, basierend auf archäologischen Kenntnissen antiker Monumente, seinen Schaffensprozess legitimierte und gleichzeitig den freien künstlerischen Ausdruck eines originären Assoziationsprinzips ermöglichte.[2] Die Tafeln der Kamine, die dem Text folgen, illustrieren dieses Prinzip: Sie stellten eine neue und einzigartige Ornamentvielfalt dar und boten anderen Künstlern und Architekten neue Kombinationsvorbilder.[3] In dem Ragionamento spielen die etruskische (auch toskanisch genannt) und die ägyptische Kunst und Architektur eine wichtige Rolle. Die in Italien entstandene etruskische Zivilisation und ihre Kunst werden als Wurzeln der römischen Kunst verstanden. Im Rahmen der zeitgenössischen Debatte verteidigte Piranesi mit diesem Argument den Vorrang der römischen vor der griechischen Kunst, da diese ihren Ursprung vor Ort gefunden habe und nicht in der griechischen Antike begründet sei.[4]
Abb. 1: Giovanni Battista Piranesi, Erste Seite des Ragionamento apologetico mit Vignette, in: Diverse maniere d’adornare i cammini, Rom 1769, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.692CC BY-NC-SA 3.0 Die Zeichnung diente wohl als Vorzeichnung für den Druck, da sowohl die Maße als auch die Abbildungsdetails übereinstimmen. Die Vignette ist mit der Legende „Capitello etrusco che si vede fra le ruine dell’antica Tarquini vicino a Corneto“[5] beschriftet. Es handelt sich um eine Variante eines ionischen Kapitells mit Voluten. Die Beschriftung der Zeichnung, die vermutlich als „finale etrusco“[6] gedeutet werden kann, könnte deskriptiv auf das wiedergegebene Motiv hinweisen, das Endstück eines etruskischen Kapitells. Der schnell skizzierte und dabei präzise Zeichenduktus sowie die Beschriftung von der Hand Piranesis lassen vermuten, dass das Kapitell vor Ort nach einem originalen Marmorstück gezeichnet wurde. Somit unterscheidet es sich von anderen etruskischen Motiven, die Piranesi meistens aus vorhandenen Druckwerken wie dem Museum etruscum (1737) von Antonio Francesco Gori entnahm, um sie in seinen eigenen Radierungen neu zu verarbeiten.[7] Laut Mauro Cristofani wurden vergleichbare Kapitelle im Areal der antiken Stadt von Corneto in der Mitte des 20. Jahrhunderts an der Stelle des Haupttempels Ara della Regina aufgefunden.[8] Die antike Stadt dehnte sich auf einem Kalkplateau aus, das auch „Pian di Civita“ genannt wird. Die Beschriftung „Civita piano“ könnte sich demnach auf diesen Fundort beziehen. Piranesi hatte die etruskischen Überreste in der Gegend von Tarquinia vor allem in der ersten Hälfte der 1760er Jahre erkundet. Er könnte also ein solches Kapitell, von dem heute jedoch kein direkt vergleichbares Beispiel zu existieren scheint, vor Ort gesehen haben.[9]
Anders als erwartet wird im Text vom Ragionamento nicht direkt auf das abgebildete etruskische Kapitell eingegangen. Dennoch nimmt das Kapitell als Architekturelement einen wichtigen Platz im Diskurs ein. Wie Corinna Höper erläutert, versuchte Piranesi die Eigenart der etruskischen Kunst mittels Parallelen zu Naturelementen zu erklären. Dem Künstler zufolge lassen sich ihre Grundformen von Muscheln ableiten, was er anhand zweier Texttafeln illustriert.[10] In Bezug auf die Entstehung des ionischen Kapitells als Bauelement verweist Piranesi ebenfalls auf die Muschelformen: „ […] die Ähnlichkeit dieser Muscheln mit den Voluten des ionischen Kapitells ist zu groß, um daraus nicht zu schließen, dass die einen nach den anderen kopiert wurden.“[11] Darüber hinaus bildet das Kapitell als Bauelement eines der wichtigsten Kennzeichen der jeweiligen Architekturordnung: Ein solches Motiv findet am Anfang vom Ragionamento – einem Text, der sich explizit für die „Verteidigung der etruskischen Kunst“ einsetzt und die Spezifika dieser Architektur erläutert – seinen begründeten Platz.
Die Schrift auf der Rückseite des Blattes ähnelt sehr der kleinen und zügigen Federschrift von Giovanni Battista (Abb. 2), die vergleichbar auf einem Textfragment über die toskanische Kunst auf der Rückseite eines Blattes in der Morgan Library zu finden ist.[12] Im Falle des Karlsruher Blattes ist das Schriftfragment nicht zu entziffern. Die vielen Streichungen lassen jedoch an erste und spontane Gedanken über ein unbekanntes Thema denken. Eventuell gehörte das Blatt ursprünglich zu einem Skizzenbuch oder einem transportablen Papierheft, in dem unterwegs – ähnlich dem Taccuino B in Modena – schriftliche und gezeichnete Notizen nebeneinander festgehalten wurden.
Abb. 2: Durchlichtaufnahme Rückseitige Beschriftungen sind deutlich erkennbar, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-19-5CC0 1.0 Bénédicte Maronnie
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