Während das Akanthusblatt in Rötel dem Stil des französischen Ornamentzeichners Nicolas François Daniel Lhuillier zugeordnet werden kann (siehe IX 5159-36-31-1 ), handelt es sich bei der Figurenstudie in Feder (Abb. 1) um eine Zeichnung von Giovanni Battista Piranesi. Sowohl der Zeichenstil als auch die Höhe der Figur (210 mm)[1] weisen auf sein Spätwerk ab den frühen 1770er-Jahre hin, als Piranesi die Umrisslinien von Figuren besonders betonte, die Schattenpartien statt durch nervöse Zick-Zack-Linien (vergleiche IX 5159-36-2-4 ) verstärkt durch parallel nebeneinandergesetzte Striche aufbaute und im Gegensatz zu früheren Zeiten auch deutlich größere Figuren darstellte. Dazu passt ebenso die breite Linie der Rohrfeder, mit der in zügigem und dunklem Strich der Sitzende schnell umrissen und schattiert wurde.[2] Diese Merkmale lassen sich beispielsweise auch an einer Studie aus den frühen 1770er-Jahren in der National Gallery in Washington D.C. (Abb. 2) beobachten. Dort wurden die Tische beziehungsweise die Blöcke unter anderem mit einzeln gesetzten Vertikalstrichen verschattet.[3] Dieses Vorgehen kehrt in Piranesis späten Zeichnungen mit Ansichten von Pompeji wieder.[4]
Abb. 1: Giovanni Battista Piranesi, Sitzende Figur in Rückansicht (Detail), um 1770–1778, Rohrfeder in Braunschwarz (Eisengallustinte), 295 x 385 mm (Gesamtblatt), Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-31-1vCC0 1.0 Abb. 2: Giovanni Battista Piranesi, Zwei Arbeiter an Tischen, frühe 1770er Jahre, Feder in braunschwarzer Tinte, 211 x 347 mm, Washington, National Gallery of Art, Inv. 2014.2.1.aPublic Domain Mark 1.0
Die Zeichnung auf der Rückseite kann zudem einer seit der Mitte der 1760er-Jahre entstehenden Gruppe von Figurenstudien zugeordnet werden, in denen man, wie Andrew Robison zu Recht vermutet, die Wiedergabe von Werkstattmitarbeitern sehen könnte.[5] Auf dem Karlsruher Blatt ist ebenfalls ein Zeichner oder ein Radierer an der Druckplatte zu erkennen, Piranesi lässt uns also unmittelbar am Werkstattgeschehen teilhaben, an jenem Ort, an dem die in den Karlsruher Klebealben vorliegenden Zeichnungen entstanden sind. Pentimenti deuten auf einen mehrstufigen Aufbau der Figur hin. Zuerst scheint das linke Bein mit dem Gesäß gezeichnet worden zu sein, das vielleicht für eine ursprünglich schmäler und schlanker geplante Figur vorgesehen war. Aufgesetzt wurde dann aber ein deutlich breiterer Oberkörper, und der Bereich des Oberschenkels wurde mehrfach mit suchenden Linien erweitert und angepasst. Aber sollte wirklich nur der Schenkel selbst vergrößert werden, oder handelt es sich bei den vermeintlichen Korrekturen nicht eher um eine von Anfang an vorgesehene sogenannte „Hüftschürze“, mit denen die Werkstattmitarbeiter ihre Kleidung vor Verschmutzung schützten? Dafür spricht die bandartige Einschnürung rückseitig auf Taillenhöhe. Außerdem finden sich auf etlichen Zeichnungen Piranesis schürzentragende Arbeiter, etwa auf einem Blatt im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin (Inv. KdZ 5805 ) oder in einer Zeichnung der ehemaligen Sammlung von Hirsch in Basel . Ein weiteres Blatt im Kupferstichkabinett Berlin (Inv. KdZ 5806 ) zeigt darüber hinaus eine ebenso merkwürdige Korrektur. Hier hat Piranesi bei der rechten Figur die Positionierung des rechten Beines abgeändert, weil es sonst anscheinend nicht mehr auf das Blatt gepasst hätte. Es steht wie ein überflüssiger Stumpf als drittes „Bein“ vom Gesäß ab.
Piranesi war kein ausgewiesener Zeichner von detailliert ausgearbeiteten Figuren oder deren korrekter Proportionierung. Dennoch haben sich zahllose Figurenstudien erhalten, die die größte Gruppe in seinem heute bekannten zeichnerischen Œuvre bilden. Zumeist sind es flüchtige Skizzen, die sein Interesse an vielfältigen Körperposen erkennen lassen und die als kreative Grundlage für Staffagen in seinen Radierungen dienten, jedoch nur in seltenen Fällen direkt übernommen wurden.[6] Oftmals handelte es sich dabei um Passanten, die auf den Straßen Roms unterwegs waren und die Piranesi beiläufig skizzierte. Im Kontext seiner kirchlichen Bauprojekte zeichnete er aber auch Putten-Figuren (siehe IX 5159-36-2-4 ; IX 5159-36-2-5 ). Herausragend ist die komplexe Figurenkomposition von IX 5159-36-15-1 . Trotz aller erkennbaren Schwierigkeiten ist den Figurenzeichnungen Piranesis dennoch eine eigene Anmutung zu eigen. Bislang steht eine grundlegende Untersuchung dieser Zeichnungen noch aus.
Der an diesem Beispiel sichtbare sparsame und pragmatische Umgang mit Papier ist charakteristisch für Piranesi: Nachdem dieses Blatt im Zeichen- und Pausverfahren des Akanthusornaments seine Funktion als mögliche Vorlage für die Reinzeichnung in der Morgan Library (Inv. 1966.11:26) verloren hatte, wurde es von Piranesi erneut als Skizzenblatt für eigene Studien verwendet. Vorzeichnungen oder Entwürfe dienten ihm primär und überwiegend als Mittel zum Zweck, nur selten fertigte er Zeichnungen für Sammler an. Lediglich sauber ausgeführte Ornamentzeichnungen, wie er sie von Nicolas François Daniel Lhuillier bezog, konnten für mehrere Projekte als Vorlage genutzt werden und blieben daher, wie die Karlsruher Klebealben erstmals in großem Umfang zeigen, als Teil der Motivsammlung in der Werkstatt erhalten.
Im Ashmolean Museum in Oxford (Inv. 1948.112) und in der École des Beaux-Arts in Paris (Inv. EBA 270 ) befinden sich interessanterweise zwei weitere Blätter, deren Rötelzeichnungen im Anschluss mit Figurenstudien Piranesis in Feder überlagert wurden.
Georg Kabierske
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