Das distelartige Akanthus-Blatt findet sich als häufig wiederkehrendes Ornament in der antiken Kunst, das in späterer Zeit gerne wieder aufgegriffen wurde. Die natürliche Form wird in der Regel stilisiert. So zeigt es auch die vorliegende Zeichnung einer Blatthälfte, deren oberes Ende eingeschlagen ist. Die tiefen Furchen und die plastische Gestaltung der gelappten Blätter verleihen der Darstellung einen besonderen Reiz.
Werkdaten
Künstler
Giovanni Battista Piranesi (1720–1778), Gruppe 1, und Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793) oder Kopie nach Lhuillier (?), Gruppe 6
Ort und Datierung
Rom, vermutlich zwischen 1755–1768 (?)
Abmessungen (Blatt)
295 x 385 mm
Inventarnummer
IX 5159-36-31-1
- Zeichenmedien
Rötel; weitere Informationen, siehe: Merkmale der Zeichenmedien
- Beschriftungen
Keine
- Literatur
Georg Kabierske: A Cache of Newly Identified Drawings by Piranesi and His Studio at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Master Drawings 53, 2015, S. 147–178, hier Abb. 45, S. 173f.
- Hadernpapier
Vergé; vermutlich italienische Herstellung; Zeichnung auf der Siebseite; weitere Informationen, siehe: Merkmale des Papiers
- Rückseite
Keine erkennbaren Hinweise auf eine rückseitige Bezeichnung oder Beschriftung
Das Werk im Detail
- Beschreibung und Komposition
Diese Rötelzeichnung eines frontal wiedergegebenen Akanthusblattes über einem flachen Sockel befindet sich im zweiten Karlsruher Klebealbum. Bei genauerer Betrachtung erschließen sich rechts daneben die Umrisse eines sitzenden Mannes in Rückenansicht, der von der Rückseite des Zeichenblattes durchscheint. Dank der temporären Ablösung des Blattes aus dem Album durch Maria Krämer im Jahr 2019 konnte die Figur detailliert analysiert werden (siehe IX 5159-36-31-1v). Deckungsgleich mit dem Recto wurden auf dem Verso zudem die Umrisse des Akanthusornaments und des Sockels ebenfalls in Rötel gezeichnet, dabei die oben überlappenden Blätter in der Mittelachse durch Schattierungen plastisch betont. Dies lässt auf ein Pausverfahren schließen – welche Zeichnung dabei zuerst entstand, ist schwer zu sagen (Abb. 1) (siehe Zeichnerischer Prozess). Wie bei der Zeichnung des Recto folgen parallel gesetzte Schraffuren in geschwungenen Linien der Wachstumsrichtung des Blattes, wodurch es naturalistisch strukturiert wird.
Abb. 1: Giovanni Battista Piranesi und Nicolas François Daniel Lhuillier oder Kopie nach Lhuillier (?), Sitzende Figur in Rückansicht und Akanthusblatt, zwischen 1755–1768 (?) und vor 1778, Rohrfeder in Braunschwarz (Eisengallustinte) und Rötel, 295 x 385 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-31-1v
CC0 1.0Georg Kabierske
- Ableitung, Rezeption und Dissemination
Das Akanthusornament auf Vorder- und Rückseite lässt sich dem Ornamentrepertoire des französischen Zeichners Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793) zuordnen, der um 1755–1768 in Rom für reisende Künstler und Architekten arbeitete, Zeichenunterricht erteilte und mit der Piranesi-Werkstatt assoziiert war (siehe Essay „Stilistische Gruppen“, Gruppe 4). Ein ähnliches Motiv (Abb. 2) findet sich im Rosetten-Album des Schweizer Architekten David Vogel (1744–1808, in Rom 1763–1765) in der Zentralbibliothek Zürich, das Ornamentzeichnungen im Stil Lhuilliers enthält (siehe Essay „Rosetten-Zeichnungen“, Abschnitt: Zeichenpraxis, Stil- und Zuschreibungsfragen).
Abb. 2: David Vogel nach Nicolas François Daniel Lhuillier (?), Akanthusblatt, beschriftet „Feuille d’Invention“ (in der Schrift von David Vogel), 266 x 408 mm (Album), schwarzer Stift, Zentralbibliothek Zürich, FA Escher vG 188.6a, https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-130885 / CC0 1.0 Aber auch im Piranesi-Konvolut der Morgan Library in New York ist ein Akanthusblatt in Rötel vorhanden (Abb. 3), das mit der Pause auf dem Verso in Karlsruhe direkt übereinstimmt und vermutlich in der Folge entstanden ist. Die seitlichen Profilkonturen des Sockels sind jedoch leicht unterschiedlich geschwungen, dazu kommen ergänzende parallel verlaufende Binnenschraffuren. Das Motiv wurde vollendet ausgearbeitet, wodurch es eine dreidimensionale Wirkung entfaltet.
Abb. 3: Nicolas François Daniel Lhuillier oder Kopie nach Lhuillier (?), Zeichnung eines Akanthusblatt-Ornaments, zwischen 1755–1768 (?), 186 x 302 mm, Rötel, New York, © The Morgan Library & Museum, Bequest of Junius S. Morgan and gift of Henry S. Morgan, Inv. 1966.11:26 Es bestätigt sich hiermit erneut, dass die Konvolute in Karlsruhe und der Morgan Library eng miteinander verbunden sind und aus derselben Quelle stammen. Weitere in Rötel skizzierte Studien von Akanthus-Ornamenten findet man in Karlsruhe auf dem Blatt IX 5159-35-32-1v.
In Rom scheinen Lhuilliers Zeichnungen noch nach seiner Abreise nach Paris 1768 eine dauerhafte Rezeption als Vorlagematerial gefunden zu haben. Offenbar kopierten Zeichner und Architekten weiterhin seine dort verbliebenen Blätter. Dies legen unter anderem Zeichnungen von Jean-Baptiste-Marc-Antoine Descamps (1742–1836, in Rom 1773–1782)[1] nahe, darunter auch ein Akanthusblatt[2] in Rötel.[3]
Isoliert dargestellte Akanthusblätter korinthischer Kapitelle gehören seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum grundlegenden Repertoire des akademischen Ornamentzeichnens, etwa auch an der 1766 gegründeten École royale gratuite de dessin in Paris. Für die dort als Zeichenvorlage dienenden und in Kreidemanier gedruckte Ornamente lieferten unter anderem Jean-Jacques Bachelier (1724–1806), Nicolas Lhuillier und sein zeitweiliger Partner, der Dekorationsmaler Jean Simeon Rousseau de la Rottière (1747–1820), Vorzeichnungen, darunter auch Akanthusblätter.[4] Denn wie bei den Rosetten wurde an ihnen eine breite Formenvielfalt sichtbar und konnten verschiedene zeichnerische Herausforderungen eingeübt werden. Zugleich dienten die Studien als Motivvorlagen für eigene Entwürfe (siehe Essay „Rosetten-Zeichnungen“, Abschnitt: Zeichenpraxis, Stil- und Zuschreibungsfragen). So publizierte etwa der französische Architekt Jean-Augustin Renard (1744–1807) ein während seines Studienaufenthalts in Rom 1777 gezeichnetes Akanthusblatt-Ornament eines korinthischen Kapitells als Radierung in Kreidemanier in seinen Études de fragments d’architecture (Paris 1783, Taf. 13) als Vorlage für andere Künstler.[5] Auch der norditalienische Architekt und einflussreiche Ornamentzeichner Giocondo Albertolli (1742–1839) tat es ihm gleich. In seinem 1805 erschienenen Corso elementare di ornamenti architettonici findet man drei Akanthusblätter (Taf. 21, Taf. 23, Taf. 24) und andere Einzelstudien ornamentaler Blätter, die von angehenden Zeichnern und Architekten kopiert wurden.[6]
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Aude Henry-Gobet: De la province de Normandie à la Ville Eternelle. Les élèves de l’école de dessin de Rouen à Rome au XVIIIe siècle, in: Studiolo 6, 2008, S. 145–165, hier S. 151 und 162, Anm. 48.
2. Die Zeichnung wird derzeit bei einem Pariser Kunsthändler unter drawings-online.com angeboten: Étude d’éléments décoratifs antiques par Jean-Baptiste Marc-Antoine Descamps, <https://drawings-online.com/product/etude-delements-decoratifs-antiques-par-jean-baptiste-marc-antoine-descamps/> (Stand: 29.5.2022). Für diesen Hinweis danke ich Bénédicte Maronnie.
3. Bislang nur unter Descamps Monogramm „DC“ aufgeführte Zeichnungen, die Vorlagen Lhuilliers zu rezipieren scheinen, finden sich in Waddesdon Manor, Inv. 1943 und 1944, und in den Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Inv. Hdz. 6448 und 6449. Eckhard Berckenhagen sah bereits die Nähe zu ähnlichen Motiven im Recueil d’ornemens, ohne jedoch dessen Verbindung zu Lhuillier zu kennen, siehe: Eckhard Berckenhagen: Die Französischen Zeichnungen aus der Kunstbibliothek Berlin. Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz. Kritischer Katalog, Berlin 1970, S. 407. Zwei weitere Rosetten oder Paterae, fälschlich Jean-Démosthène Dugourc zugeschrieben, wurden kürzlich in Paris versteigert: Daguerre Paris, provenant notamment de Pierre Charles Bonnefoy du Plan (1732–1824) et d’un appartement parisien de la rue de La Baume, 11.3.2022, Los 13.
4. Für die Akanthusblätter siehe das 1783 in Paris veröffentlichte Mémoire sur l'administration et la manutention de l'Ecole royale gratuite de dessin, Nr. 72 (Bachelier), Nr. 293–295 (Rousseau de la Rottière), Nr. 301 (Lhuillier). Drucke sind in der Pariser Bibliothèque de l'Institut national d'histoire de l'art, collections Jacques Doucet, Inv. 4 Est. 347 (4), fol. 49, 152–154, 159 vorhanden.
5. Die 1777 entstandene Vorzeichnung in schwarzer Kreide befindet sich heute in der Drawing Matter Collection in Shatwell, Großbritanien, Inv. 2480. Zeichnung und Druck sind publiziert in: Alexandre Gady/Nicole Willk-Brocard: Jean-Augustin Renard (Paris 1744 – Paris 1807). Dessins provenant du fonds familial de l’artiste. Cahier du dessin français 18, Paris 2015, S. 62.
6. Gezeichnete Kopien aus dem Corso elementare di ornamenti architettonici findet man beispielsweise in der Sammlung der Accademia di Belle Arti Tadini in Lovere, siehe die mit „Canavali“ signierten Blätter.
- Zuschreibungshypothesen
Es ist unklar, ob es sich aufgrund der vergleichsweise unterschiedlichen Ausarbeitungsstadien um eigenhändige Zeichnungen Lhuilliers handelt, der hiermit auf die finale Reinzeichnung (vielleicht das Blatt in der Morgan Library) hinarbeitete, oder auch um Kopien nach Lhuillier, die im Zuge des Zeichenunterrichts bei ihm entstanden sein könnten. Neben dem extensiven Kopieren von gezeichneten Vorlagen gehörte damals auch die Imitation des jeweiligen Zeichenstils zur gängigen Unterrichtspraxis.
Georg Kabierske
- Kunsthistorische Bedeutung
Die beiden Akanthuszeichnungen in Rötel, einmal vollständig plastisch auf Recto ausgeführt, das andere Mal in einer durchgepausten, nur teilweise plastisch ausgearbeiteten Version auf Verso, gehören zu den Ornament- und Antikenzeichnungen aus Piranesis Motivrepertoire, die den größten Teil der beiden Karlsruher Alben ausmachen. Für die hohe zeitgenössische Wertschätzung dieser Motive spricht deren weite Verbreitung und Rezeption durch andere Künstler und Architekten.
Georg Kabierske
- Merkmale des Papiers
Ohne Wasserzeichen
Herstellungsmerkmale:
Ungefärbt; mittlere Stärke; ungleichmäßiger Stegschatten; feine Siebstruktur; knötchenhaltiger Faserstoff mit zahlreichen Wollhaaren und holzigen Einschlüssen; prägnante Filzmarkierung; Trocknungsfalten parallel zur unteren Blattkante (Mitte des ursprünglichen Bogens); gelatinegeleimt (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt); im Reflexlicht streifiger Oberflächenglanz (manuell geglättet).
Maria Krämer
- Merkmale der Zeichenmedien
Rötel: Überwiegend kräftig und deckend aufgetragen (Detail 1a, b), schraffierte Bereiche auch mit leichtem Auftrag; insbesondere auf den Erhöhungen des Papiers stark berieben; in akzentuierten Bereichen teils furchige Linien mit herausstehenden, rötelbedeckten Fasern; dort zusätzlich anhaftende Fasern (Detail 2a–d); insgesamt heute glatt, kompakt und glänzend wirkender Strich.
Detail 1a: Auflicht
Rötel in kräftigem, weitgehend deckendem AuftragDetail 1b: Streiflicht
Rötel in kräftigem, weitgehend deckendem AuftragDetail 2a: Auflicht
Intensiv deckender RötelauftragDetail 2b: Streiflicht
Intensiv deckender Rötelauftrag; furchiger StrichDetail 2c: Close-up Auflicht
Deckender Rötelauftrag; anhaftende weiße FasernDetail 2d: Close-up Streiflicht
Deckender Rötelauftrag; furchiger Strich; anhaftende weiße FasernNicht zur Entstehung der Zeichnung gehörende Farbmittel: Ablagerungen von schwarzer Kreide verso am unteren Rand; Tintenflecke links und unten (Detail 3); dunkle Griffspuren, verstärkt am rechten unteren Blattrand.
Detail 3: Tropfen einer Eisengallustinte, vermutlich gleiches Zeichenmedium wie verso Maria Krämer
- Zeichnerischer Prozess
Die Zeichnung des Akanthusornaments wurde beidseitig in Rötel und deckungsgleich auf das Blatt gebracht. Es ist recht eindeutig, dass die Zeichnung mithilfe einer Durchlichtsituation auf die andere Seite des Blattes abgepaust wurde. Welche Version zuerst entstand ist nicht leicht auszumachen. Beide haben einen mithilfe eines Lineals gezeichneten Sockel. Die Zeichnung der Vorderseite ist vollständig ausgearbeitet, während die rückseitige Darstellung nur im Ansatz schattiert wurde und fast nur aus Konturen besteht.
Die Konturen des Akanthusblatts wurden mit zarten Rötellinien angelegt, Bildkörper und Hintergrund mit teils geschwungenen, teils kreuzenden, dichten Schraffuren modelliert. Kräftige Akzente in Rötel, teils möglicherweise durch Befeuchtung intensiviert, verstärken die Konturlinien zwischen den Licht- und Schattenbereichen. Teilweise wurde mit Nachdruck gearbeitet, so dass innerhalb der Rötellinien das Papier aufgeraut wurde (hochstehende Fasern).
Maria Krämer
- Merkmale historischer Nutzung
Büttenrand an rechter und oberer Blattkante, teils beschnitten; linke und untere Blattkante gerissen; flächig verteilt gelbliche Fluoreszenz, womöglich durch Kontakt mit geöltem Papier (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt); verso Klebepunkte und Papierfragmente, teils ausgerissene Ecken (frühere Montierung); dunkel verfärbter Bereich der Zeichnung, dort anhaftende weiße Fasern; waagrechter Knick mittig (Bergfalte), Rötel dort berieben; scharfe, senkrechte Faltspur (Talfalte) in der Mitte des Blattes.
Maria Krämer
- Prozesse historischer Nutzung
Auf dem Blatt verteilt hat sich flächig Rötelstaub abgerieben, auch ist an Erhöhungen der Papieroberfläche eine Aufhellung des Rötels durch Abrieb zu sehen, was für eine frühere Lagerung und Hantierung im Kontakt mit anderen Blättern spricht; heute erscheint der Rötel verdichtet und gleichsam auf dem Papier angepresst und damit geglättet (Detail 1a). In einigen kräftig aufgetragenen Partien zeichnen sich aber dennoch furchig pastose Rötelstriche ab. In einem Bereich erscheinen Teile des Rötels verdunkelt. Dort sind unter Vergrößerung auch anhaftende Papierfasern erkennbar (Detail 2). Möglicherweise entstand diese unbeabsichtigte Veränderung durch Aufdrücken eines geölten Pauspapiers, worauf eine leicht gelbliche, teils flächige Fluoreszenz des Blattes (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt) hinweist. Auf die spätere Verwendung in der Weinbrennerschule deuten weißlich fluoreszierende Klebstoffflecke links und rechts neben der Zeichnung hin, die vermutlich beim Fixieren eines Transparentpapiers zum Zweck des Abpausens auf das Blatt entstanden (siehe Essay Mit Öl und Wasser kopiert).
Montierungshistorie:
Verso haben sich Spuren einer früheren Montierung erhalten. Die Klebepunkte zeigen heute eine gelbliche Fluoreszenz (UVF, Abb.).
Maria Krämer
Schlagwörter
- Akanthusblatt
- Nicolas François Daniel Lhuillier
- Rötel
- Giovanni Battista Piranesi
- Stilistische Gruppe 06
- Stilistische Gruppe 01
- Figurenstudie
- IX 5159-36-31-1
- Kopie nach Lhuillier (?)
- Rohrfeder
GND-Begriffe
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