Das Akanthusornament auf Vorder- und Rückseite lässt sich dem Ornamentrepertoire des französischen Zeichners Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793) zuordnen, der um 1755–1768 in Rom für reisende Künstler und Architekten arbeitete, Zeichenunterricht erteilte und mit der Piranesi-Werkstatt assoziiert war (siehe Essay „Stilistische Gruppen“, Gruppe 4 ). Ein ähnliches Motiv (Abb. 2) findet sich im Rosetten-Album des Schweizer Architekten David Vogel (1744–1808, in Rom 1763–1765) in der Zentralbibliothek Zürich, das Ornamentzeichnungen im Stil Lhuilliers enthält (siehe Essay „Rosetten-Zeichnungen“, Abschnitt: Zeichenpraxis, Stil- und Zuschreibungsfragen ).
Abb. 2: David Vogel nach Nicolas François Daniel Lhuillier (?), Akanthusblatt, beschriftet „Feuille d’Invention“ (in der Schrift von David Vogel), 266 x 408 mm (Album), schwarzer Stift, Zentralbibliothek Zürich, FA Escher vG 188.6a, https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-130885 / CC0 1.0 Aber auch im Piranesi-Konvolut der Morgan Library in New York ist ein Akanthusblatt in Rötel vorhanden (Abb. 3), das mit der Pause auf dem Verso in Karlsruhe direkt übereinstimmt und vermutlich in der Folge entstanden ist. Die seitlichen Profilkonturen des Sockels sind jedoch leicht unterschiedlich geschwungen, dazu kommen ergänzende parallel verlaufende Binnenschraffuren. Das Motiv wurde vollendet ausgearbeitet, wodurch es eine dreidimensionale Wirkung entfaltet.
Abb. 3: Nicolas François Daniel Lhuillier oder Kopie nach Lhuillier (?), Zeichnung eines Akanthusblatt-Ornaments, zwischen 1755–1768 (?), 186 x 302 mm, Rötel, New York, © The Morgan Library & Museum, Bequest of Junius S. Morgan and gift of Henry S. Morgan, Inv. 1966.11:26Es bestätigt sich hiermit erneut, dass die Konvolute in Karlsruhe und der Morgan Library eng miteinander verbunden sind und aus derselben Quelle stammen. Weitere in Rötel skizzierte Studien von Akanthus-Ornamenten findet man in Karlsruhe auf dem Blatt IX 5159-35-32-1v .
In Rom scheinen Lhuilliers Zeichnungen noch nach seiner Abreise nach Paris 1768 eine dauerhafte Rezeption als Vorlagematerial gefunden zu haben. Offenbar kopierten Zeichner und Architekten weiterhin seine dort verbliebenen Blätter. Dies legen unter anderem Zeichnungen von Jean-Baptiste-Marc-Antoine Descamps (1742–1836, in Rom 1773–1782)[1] nahe, darunter auch ein Akanthusblatt [2] in Rötel.[3]
Isoliert dargestellte Akanthusblätter korinthischer Kapitelle gehören seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum grundlegenden Repertoire des akademischen Ornamentzeichnens, etwa auch an der 1766 gegründeten École royale gratuite de dessin in Paris. Für die dort als Zeichenvorlage dienenden und in Kreidemanier gedruckte Ornamente lieferten unter anderem Jean-Jacques Bachelier (1724–1806), Nicolas Lhuillier und sein zeitweiliger Partner, der Dekorationsmaler Jean Simeon Rousseau de la Rottière (1747–1820), Vorzeichnungen, darunter auch Akanthusblätter.[4] Denn wie bei den Rosetten wurde an ihnen eine breite Formenvielfalt sichtbar und konnten verschiedene zeichnerische Herausforderungen eingeübt werden. Zugleich dienten die Studien als Motivvorlagen für eigene Entwürfe (siehe Essay „Rosetten-Zeichnungen“, Abschnitt: Zeichenpraxis, Stil- und Zuschreibungsfragen ). So publizierte etwa der französische Architekt Jean-Augustin Renard (1744–1807) ein während seines Studienaufenthalts in Rom 1777 gezeichnetes Akanthusblatt-Ornament eines korinthischen Kapitells als Radierung in Kreidemanier in seinen Études de fragments d’architecture (Paris 1783, Taf. 13) als Vorlage für andere Künstler.[5] Auch der norditalienische Architekt und einflussreiche Ornamentzeichner Giocondo Albertolli (1742–1839) tat es ihm gleich. In seinem 1805 erschienenen Corso elementare di ornamenti architettonici findet man drei Akanthusblätter (Taf. 21 , Taf. 23 , Taf. 24 ) und andere Einzelstudien ornamentaler Blätter, die von angehenden Zeichnern und Architekten kopiert wurden.[6]
Georg Kabierske
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