Dies ist die Zeichnung eines ungewöhnlich großen Leuchters, der oben mit einer flachen Schale abschließt und an das antike Rom erinnern soll. In der Schale wäre ein lichtspendendes Ölfeuer entfacht worden. Der Leuchter nennt sich Kandelaber, abgeleitet vom lateinischen candela = Kerze. Im Ashmolean Museum in Oxford steht heute ein aus Marmor gefertigter Kandelaber mit einer Höhe von fast drei Metern. Man kann sich gut vorstellen, wie mit ihm an einem dämmrigen Abend oder in einem dunklen Saal eine festliche Stimmung erzeugt worden wäre, die einen in das antike Rom vor 2000 Jahren zurückversetzt hätte. Allerdings hat dieser Kandelaber in Wirklichkeit wenig mit der tatsächlichen römischen Antike zu tun – vielmehr ist er ein recht wildes Phantasiegebilde von Piranesis Hand, mit dem er auch einen Fantasy-Film hätte ausstatten können! Piranesi hat sich hier aus den archäologischen Funden römischer Zeit bedient und sie mit neu geschaffenen Elementen zusammengefügt – mit überraschenden Effekten. Die Zeichnung gibt noch heute Rätsel auf. Wir wissen, dass sie Piranesi dazu diente, die gedruckte Darstellung vorzubereiten, ob sie aber auch als Entwurf für den Kandelaber aus Marmor genutzt wurde, ist unklar. Das ganze Gebilde ruht unten auf muskulösen Löwenbeinen, darüber liegen bärtige Masken, sich windende Delfine, zwei Reiher und ganz oben thront ein junger Faun.
Werkdaten
Künstler
Mehrere unidentifizierte Zeichner der Piranesi-Werkstatt, Gruppe 11
Ort und Datierung
Rom, um 1774–1776
Abmessungen (Blatt)
780 x 562 mm
Inventarnummer
IX 5159-35-46-1
- Zeichenmedien
Schwarze Kreide über Konstruktionslinien in schwarzer Kreide und Graphit; Überarbeitung in schwarzem Stift (Kreide) mit fetthaltigem Bindemittel, Rötel und Graphit; weitere Informationen siehe: Merkmale der Zeichenmedien
- Beschriftungen
Verschiedene Zahlen und Buchstaben.
Mit Graphit geschriebene Rechnung unterhalb der Mitte links. - Literatur
Ulrich Maximilian Schumann: Friedrich Weinbrenner. Klassizismus und „praktische Ästhetik“, Berlin 2010, S. 238, Tafel 44; Georg Kabierske: A Cache of Newly Identified Drawings by Piranesi and His Studio at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Master Drawings 53, 2015, S. 147–178, hier S. 169, Abb. 34; Georg Kabierske: Weinbrenner und Piranesi. Zur Neubewertung von zwei Grafikalben aus dem Besitz Friedrich Weinbrenners in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, in: Brigitte Baumstark/Joachim Kleinmanns/Ursula Merkel (Hg.): Friedrich Weinbrenner, 1766-1826: Architektur und Städtebau des Klassizismus, Ausst. Kat. Karlsruhe, Städtische Galerie und Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Petersberg 2015 (2. Aufl.), S. 75–87, hier S. 82f., Abb. 14; Georg Kabierske: Vasi, urne, cinerarie, altari e candelabri. Newly Identified Drawings for Piranesi’s Antiquities and Sculptural Compositions at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Francesco Nevola (Hg.): Giovanni Battista Piranesi. Predecessori, contemporanei e successori: Studi in onore di John Wilton-Ely, Rom 2016, S. 245–262, hier S. 250, Abb. 17.
- Hadernpapier
Vergé; italienische Herstellung (Papiermühle Odescalchi in Bracciano, Latium); Zeichnung auf der Filzseite; weitere Informationen siehe: Merkmale des Papiers
- Rückseite
Skizze eines Frieses mit Greifen, die aus einem Zierbrunnen trinken. Siehe Rankenfries mit geflügeltem Tierwesen
Das Werk im Detail
- Bildgegenstand und ikonographische Bedeutung
Das auffallend große Blatt, das wegen seiner Ausmaße eingefaltet in das Album eingeklebt worden ist, zeigt eine eigenwillige Komposition in Form eines antikisierenden Kandelabers aus unterschiedlichen aufgetürmten Elementen mit figürlichen, tierischen und ornamentalen Motiven. Der Leuchter endet in einer Feuerschale, die von einem knienden Faun getragen wird, der sich wiederum auf einem schmalen Sockel über zwei Kranichen erhebt. Der Faun oder Faunus ist in der römischen Mythologie ein Naturgott, Beschützer des Waldes, der Hirten und der Bauern. Er wird oft als Mischwesen aus Mensch und Ziegenbock mit Bocksfüßen und Hörnern auf dem Kopf dargestellt. Der Kranich wird in der griechisch-römischen Mythologie sowohl Apollon, dem Sonnengott, als auch der Erd- und Fruchtbarkeitsgöttin Demeter sowie als Zugvogel dem Götterboten Hermes zugeordnet, der auch als Überbringer des Frühlings und des Lichts gilt. Es könnte somit auch einen inhaltlichen Zusammenhang der Kraniche mit dem Naturgott Faun als auch mit der Funktion des Kandelabers als lichtspendendem Leuchter geben. Caroline van Eck deutet die Kraniche als Vögel vom See des Stymphalos in Arkadien, die von Herakles als eine seiner zwölf Arbeiten für Eurystheus mit Klappern vertrieben und getötet wurden.[1]
Die Zeichnung stellt den sogenannten Newdigate-Kandelaber dar, einen 285 cm hohen Marmorkandelaber aus der Antikensammlung von Sir Roger Newdigate (1719-1806) (Abb. 1).[2]
Abb. 1: Newdigate-Kandelaber, vor 1774 (mit antiken Fragmenten), Marmor, 285 cm (Höhe), Ashmolean Museum Oxford, Inv. ANMichaelis.241
© Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg KabierskeDer englische Politiker und Antikensammler hat während seiner zweiten Grand Tour nach Italien zwischen Juli 1774 und Dezember 1775 den Kandelaber zusammen mit einem weiteren Exemplar bei Giovanni Battista Piranesi im Mai 1775 erworben und der Universität Oxford gestiftet.[3] Beide Stücke wurden 1776 in der Radcliffe Library aufgestellt, wo sie bis zur Neubewertung im frühen 19. Jahrhundert zunächst als Meisterwerke antiker Skulptur gefeiert wurden.[4] Mittlerweile befinden sie sich im Ashmolean Museum in Oxford.
Bei diesen Kandelabern handelt es sich jedoch nicht um genuin antike Objekte. Solche Marmorskulpturen wurden von Piranesi und seiner Werkstatt ab den späten 1760er Jahren aus antiken Marmorfragmenten, die zwischen 1769 und 1773/1774 durch den Antiquar Gavin Hamilton (1723–1798) und Piranesi im Sumpfgebiet von Pantanello, einem Teil der berühmten Hadriansvilla bei Tivoli, ausgegraben worden waren, und aus neugeschaffenen Teilen kompilativ zu antikisierenden Kreationen zusammengesetzt.[5] Diese Marmorkompositionen, auch Pasticci genannt, wurden von Piranesi als opere romane[6] bezeichnet und in diesem Sinne als „echte Antiken“ in den Ausstellungsräumen des Künstlers im Palazzo Tomati in Rom einem finanzstarken europäischen Publikum zum Kauf präsentiert. Zahlreiche dieser Objekte wurden zudem zwischen 1768 bis 1778 in der Druckserie Vasi, candelabri publiziert und dort teils mit Kommentaren und Inschriften versehen, die ihre Fundgeschichte und Bedeutung belegen sollten. Auch in Bezug auf den Newdigate-Kandelaber behauptet Piranesi dort, dass es sich um einen antiken Marmorkandelaber handele („Candelabro antico di marmo“), der 1769 bei einer Ausgrabung auf dem Gelände der Hadriansvilla bei Tivoli beziehungsweise im dort gelegenen Sumpfgebiet von Pantanello gefunden worden sei.[7]
Für diese sogenannten „Restaurierungen“ nach eigenen Vorgaben beauftragte Piranesi spezialisierte Bildhauer wie zum Beispiel Antoine Guillaume Grandjaquet (1731–1801), Annibale Malatesta (um 1754–nach 1825) oder Lorenzo Cardelli (1733–1794). Inwiefern darin auch Bartolomeo Cavaceppi (ca. 1716–1799) involviert war oder ob Piranesi diesem nur antike Objekte verkaufte, konnte bislang nicht geklärt werden.[8] Die Bildhauer führten die Bruchstücke geschickt zusammen, überarbeiteten oder ergänzten sie in einer den antiken Fragmenten entsprechenden Qualität, sodass die Unterscheidung von antiken Originalen und Nachahmungen noch heute Schwierigkeiten bereitet. Anders als von Piranesi angegeben deuten Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit des Newdigate-Kandelabers in Oxford und des Rhyton-Kandelabers (vgl. IX 5159-36-30-1) im Stockholmer Antikenmuseum Gustav III. aber darauf hin, dass bei diesen Skulpturen die neu geschaffenen Elemente zu überwiegen scheinen, wobei absichtlich Risse und Brüche in den Marmorstücken herbeigeführt wurden, um den Eindruck eines restaurierten antiken Originals zu erwecken.[9] Prinzipiell handelt es sich bei diesen Komposition jedoch nicht um plumpe Fälschungen. Denn aus Piranesis theoretischen Schriften wie Parere su l’architettura (1767) oder den Diverse maniere (1769) geht hervor, dass er mit seinen Kreationen die Erschaffung einer neuen einfallsreichen Formensprache anstrebte. Statt den klassischen Regeln der Architektur streng zu folgen oder bekannte antike Skulpturen nur nachzuahmen, forderte er einen kreativen Prozess, in dem durch Vielfalt, Variation und Kombination antiker Einzelelemente unterschiedlicher Herkunft Neues entstehen, aber gleichzeitig historisch-antik wie ein archäologisches Objekt wirken sollte. Piranesi sah sich in der Tradition der römischen Antike, die das Formen- und Stilrepertoire anderer Kulturen und Völker zu einer neuen und eigenständigen kulturellen Identität zusammenführte.[10]
Die „Restaurierung“ des in der Karlsruher Zeichnung wiedergegebenen Newdigate-Kandelabers geht womöglich auf Lorenzo Cardelli zurück, der laut eines Katalogs des Bildhauers Giuseppe Angelini von 1792 mehrfach mit der „Restaurierung“ von Kandelabern für Piranesi beschäftigt war.[11] Dabei könnte auch eine Zusammenarbeit mit Francesco Franzoni vermutet werden, dieser Bildhauer war spezialisiert auf das Meißeln von Tieren und Vögeln.[12] Entstanden sein dürfte der Kandelaber kurz vor 1774, da in diesem Jahr erstmals eine von zwei Ansichten (siehe Abb. 2) in den Vasi, candelabri gedruckt worden ist (laut Katalog von 1792).
Während der Marmorkandelaber auf triangelförmigem Grundriss und in Allansichtigkeit aufgebaut ist, zeigt die Zeichnung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe eine von drei Frontalseiten. Die in der Zeichnung und den beiden Radierungen (siehe Abb. 2 und Abb. 3) frontal ausgerichtete Figur des knienden Fauns, der sich an der Spitze der Komposition befindet, deutet darauf hin, dass es sich dabei um die von Piranesi ursprünglich intendierte Hauptseite handelt. In der Präsentation im Ashmolean Museum wurde er jedoch nach links gedreht und damit auf die neue Hauptseite hin ausgerichtet, die durch die Sockelinschrift auf der durch den Bildhauer Richard Hayward in London 1776 neu geschaffenen Basis definiert wurde.[13] Solche Diskrepanzen zwischen der offenbar ursprünglich von Piranesi intendierten Ausrichtung der Marmorkompositionen und deren Arrangement nach Ankunft in den privaten Antikensammlungen der Käufer oder dem heutigen Aufbau lassen sich bei mehreren Stücken beobachten, etwa auch beim Rhyton-Kandelaber (IX 5159-36-30-1).
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Caroline van Eck: The Style Empire and its Pedigree. Piranesi, Pompeii and Alexandria, in: Architectural Histories 6,1, (2016), S. 1–16, hier S. 8.
2. Die Maßangabe beruht auf dem Restaurierungsbericht, der uns freundlicherweise durch das Ashmolean Museum Oxford übermittelt wurde, siehe Cliveden Conservation Workshop: The Ashmolean Museum Oxford, Treatment Report of Piranesi Candelabra, March 2014, zweites Blatt, Nr. 77.
3. Siehe Michael McCarthy: Sir Roger Newdigate and Piranesi, in: The Burlington Magazine, 114, Nr. 832 (Juli 1972), S. 466 und 468–472, hier S. 466f; Cliveden Conservation Workshop: The Ashmolean Museum Oxford, Treatment Report of Piranesi Candelabra, March 2014, S. 2. Caroline van Eck gibt stattdessen an, der Newdigate-Kandelaber sei 300 cm hoch, siehe Caroline van Eck: The Style Empire and its Pedigree. Piranesi, Pompeii and Alexandria, in: Architectural Histories 6,1, (2016), S. 1–16, hier S. 7, Abb. 10.
4. Zur Wahrnehmung der Kandelaber in Oxford siehe Caroline van Eck: „A Neo-Classicist's Dream and an Archaeologist's Nightmare“: Piranesi’s Colossal Candelabra in the Ashmolean Museum, in: Pamella Guerdat (Hg.) u.a.: Pèlerin sans frontières. Mélanges en l’honneur de Pascal Griener. Genf 2020, S. 91–102, hier S. 93. Van Eck gibt ohne Nennung einer Quelle an, die Kandelaber seien bereits 1774 von Sir Roger Newdigate erworben worden.
5. Der Sumpf von Pantanello entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer wahren Fundgrube für qualitätsvolle antike Marmorskulpturen, die ursprünglich zur Hadriansvilla gehörten. Zu einem unbekannten Zeitpunkt wurden sie abgebaut und abseits der Villa angehäuft, vielleicht um sie vor Plünderungen während der Spätantike zu bewahren, sie weiterzuverkaufen oder um den Marmor zu Kalk zu brennen. Siehe dazu weiterführend Ilaria Bignamini/Clare Hornsby: Digging and Dealing in Eighteenth-Century Rome, New Haven/London 2010, S. 157–162. In den letzten Jahren war es Caroline van Eck, die sich intensiv mit den „Restaurierungen“ Piranesis und deren Deutung auseinandergesetzt hat, siehe dazu: Caroline van Eck, The Style Empire and its Pedigree: Piranesi, Pompeii and Alexandria, in: Architectural Histories 6,1, (2016), S. 1–16; Caroline van Eck: „A Neo-Classicist's Dream and an Archaeologist's Nightmare“: Piranesi’s Colossal Candelabra in the Ashmolean Museum, in: Pamella Guerdat (Hg.) u.a.: Pèlerin sans frontières. Mélanges en l’honneur de Pascal Griener. Genf 2020, S. 91–102; Caroline van Eck: Piranesi und sein Museum. Die Restaurierung der Antike und die Entstehung des Style Empire in einer sich globalisierenden Welt / Piranesi and his Museum. The Restoration of Antiquity and the Genesis of the Empire-Style in a Globalizing World. Berlin/München 2019.
6. Caroline van Eck, The Style Empire and its Pedigree: Piranesi, Pompeii and Alexandria, in: Architectural Histories 6,1, (2016), S. 1–16, hier S. 7.
7. Siehe dazu den Erläuterungstext in Vasi, candelabri, Taf. 25 und Taf. 26.
8. Mein Dank gilt Bénédicte Maronnie für diesen Hinweis.
9. Für den Rhyton-Kandelaber in Stockholm siehe: Anne-Marie Leander Touati: Antiquarian Knowledge, Sales Expectations and Personal Expression. The Piranesi Marbles – Somewhere Between Inventive Design and Commercial Interest. The Piranesi Collection in Stockholm, in: Dietrich Boschung (Hg.): Archäologie als Kunst. Archäologische Objekte und Verfahren in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart, Morphomata 30, Paderborn 2015, S. 39–65, hier S. 41, Anm. 5. Mein Dank gilt zudem dem Archäologen Henner von Hesberg, der eine bislang unpublizierte Studie zum Rhyton-Kandelaber im Gustav III. Antikenmuseum in Stockholm vorbereitet hat. Seiner Ansicht nach besteht nur der Sockelbereich des Kandelabers aus antiken Fragmenten. Im Fall des Newdigate-Kandelabers soll dem Untersuchungsbericht von 2014 zufolge nur ein winziges Fragment am Schnabel eines der Delphine antiken Ursprungs sein, siehe dazu: Cliveden Conservation Workshop: The Ashmolean Museum Oxford, Treatment Report of Piranesi Candelabra, March 2014, S. 2. Caroline van Eck wies jedoch auf einige Expertenmeinungen hin, die dennoch wesentliche Elemente des Kandelabers in die Zeit Kaiser Hadrians datieren, siehe dazu Caroline van Eck: Piranesi und sein Museum. Die Restaurierung der Antike und die Entstehung des Style Empire in einer sich globalisierenden Welt / Piranesi and his Museum. The Restoration of Antiquity and the Genesis of the Empire-Style in a Globalizing World. Berlin/München 2019, S. 44 und Anm. 27; Zur Restaurierungspraxis und ihrer Entwicklung im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Theorie und Terminologie) siehe u.a. Ulrike Müller-Kaspar: Das sogenannte Falsche am Echten. Antikenergänzungen im späten 18. Jahrhundert in Rom, Universität Bonn 1988, Dissertation (unpubliziert). Ich danke Bénédicte Maronnie für diesen Hinweis.
10. Siehe dazu weiterführend Carlo Gasparri: Piranesi e il suo archivio di modelli di architettura, in: Ginevra Mariani (Hg.): Giambattista Piranesi, Matrici incise, Bd. 3: 1761–1765, Rom, 2017, S. 27–37; Caroline van Eck: The Style Empire and its Pedigree. Piranesi, Pompeii and Alexandria, in: Architectural Histories 6,1, (2016), S. 1–16; Das Thema der Neukombination von Ornamenten bei Piranesi wird zudem in der Dissertation von Bénédicte Maronnie behandelt werden, die derzeit an der Università della Svizzera italiana in Mendrisio vorbereitet wird.
11. Siehe Cliveden Conservation Workshop: The Ashmolean Museum Oxford, Treatment Report of Piranesi Candelabra, March 2014, S. 2.
12. Siehe Nicholas Penny, Catalogue of European sculpture in the Ashmolean Museum: 1540 to the present day, Oxford 1992, Band 1, S. 108–116, hier S. 108.
13. Siehe Michael McCarthy: Sir Roger Newdigate and Piranesi, in: The Burlington Magazine, 114, Nr. 832 (Juli 1972), S. 466 und 468–472, S. 469.
- Beschreibung und Komposition
Wie bei der Zeichnung des Rhyton-Kandelabers (IX 5159-36-30-1) wurde das Motiv zunächst mit einer lockeren Skizze in schwarzer Kreide und unter Nutzung von Konstruktionslinien in schwarzer Kreide und Graphit angelegt und daraufhin in weiteren Schritten mit schwarzem Stift (Kreide), Graphit und Rötel ausgearbeitet. Die sich auftürmende Komposition gliedert sich symmetrisch zu einer Mittelachse in verschiedene „Etagen“. Mal ist dabei die linke, mal die rechte Hälfte detailliert wiedergegeben oder nur angedeutet, da die jeweils andere Hälfte sich in der Vorstellung symmetrisch ergänzen lässt – ein Vorgehen, das bei Architektur- oder Ornamentzeichnungen oft üblich war.
Über einer profilierten Sockelplatte erheben sich links und rechts zwei aufgestützte, in Blattformen auslaufende Löwentatzen, die den mit Lanzettblättern und anderen Ornamenten verzierten Säulenstumpf in der Mittelachse rahmen. Nur im Vergleich mit der Marmorfassung wird deutlich, dass es sich um drei Löwentatzen handelt, die auf einem triangelförmigen, an allen Seiten konkav einschwingenden hohen Sockel stehen. Die Löwentatzen tragen eine profilierte und ornamentierte Sockelplatte, deren konkave Einkerbung mit einem auszugsweise angedeuteten Palmettenfries verziert wird. Außerdem hat diese Sockelplatte einen kleineren Durchmesser als die Platte unter den Tatzen. Darauf folgt wieder eine figürlich-reliefierte Zone mit zwei antikisierenden Masken, die links und rechts von der Mittelachse an Hinterköpfen und Haaren miteinander verwachsen erscheinen, sowie einem Adler mit ausgebreiteten Schwingen am rechten Rand, den man sich auf der linken Seite zur Vervollständigung vorstellen kann. Darauf folgt eine schmälere und im Vergleich zur Platte darunter wiederum im Durchmesser kleinere, flachere und sich nach oben verjüngende Sockelplatte, die sich in ihrer mittleren Zone konvex nach außen wölbt und in der Mittelachse mit einer Rosettenblüte samt flächigem Blatt sowie einem aufgerollten Akanthusblatt zur rechten Seite hin verziert ist. Darüber erhebt sich ein höheres, konisch zulaufendes Postament, das in seiner Struktur an ein Kompositkapitell denken lässt. Das Hauptfeld in der Mittelachse unten ist mit einer Muschel sowie zu den Seiten mit spiralförmig verdrehten, mit dem Kopf nach unten stehenden Delphinen verziert, ergänzt durch vegetabile Blatt- und Blütenformen. Die oberste schmale Zone ist dabei zur rechten Seite mit weiteren vegetabilen Formen und an der Ecke volutenartig mit einem Widderkopf besetzt, dessen Gegenstück links lediglich in Graphit angedeutet wurde. Über diesem Postament erheben sich links und rechts, symmetrisch zur ornamentierten, sich nach oben weitenden Mittelsäule, zwei Kraniche. Im Vergleich mit der Marmorfassung wird deutlich, dass es sich bei der Skulptur tatsächlich um drei vollplastische Vögel handelt, entsprechend dem triangelförmigen Grundriss. Die Kraniche rahmen und paraphrasieren mit geschlossenen Beinen, gesenkten Köpfen, angelegten Flügeln und vorgewölbten Körpern den aus- und einbuchtenden, s-förmigen Verlauf der Mittelsäule. Diese endet in einem vasenförmigen, mit Blattornamenten geschmückten und „taillierten“ Aufsatz, über dem sich als krönender Abschluss ein nackter kniender Faun erhebt, der auf seinen nach hinten abgewinkelten Armen die auskragende Feuerschale trägt. Die Ornamentik der Schale mit Perlstab und verschiedenen Blattfriesen wird auf der rechten Seite der Mittelachse vollständig wiedergegeben, während sie auf der linken Seite fehlt und im Blick des Betrachters symmetrisch ergänzt werden kann.
Diese Hauptkomposition wird zu beiden Seiten von auf dem Blatt verstreuten skizzenhaften oder detailliert gezeichneten Einzelmotiven in schwarzer Kreide oder Rötel ergänzt. So wurde etwa der auszugsweise wiedergegebene Palmettenfries der Sockelplatte über den Löwentatzen rechts daneben separat vergrößert und detailliert in schwarzer Kreide gezeichnet. Hinzu kommen vergrößerte Blüten-, Blatt- oder Ornamentmotive, die sich überwiegend auf die vegetabilen Formen in der Mittelachse der Komposition beziehen. Am linken unteren Blattrand ist zudem der Grundriss des Kandelabers als schwache Konstruktionszeichnung zu sehen, in der linken oberen Ecke zudem eine flüchtige Skizze mit Maßangaben.
Georg Kabierske
- Ableitung, Rezeption und Dissemination
Piranesis eigenwillige Kandelaber-Kompositionen fanden ab dem späten 18. und bis ins frühe 20. Jahrhundert eine weitreichende Rezeption in der westlich geprägten Welt.[1] Ein „Echo“ findet sich dabei auch im Werk des Architekten Friedrich Weinbrenner (1766–1826), der die Zeichnungen der beiden Karlsruher Klebealben am Ende seiner Romreise 1797 nach Karlsruhe mitgebracht hatte.[2] In einer ähnlichen Manier wie bei Piranesi entwarf Weinbrenner vollplastische Kandelaber und Denkmäler aus übereinander getürmten, unterschiedlichsten Elementen wie etwa Widderköpfen, Klauenfüßen, Schalen, Kapitellen, Vögeln oder Büsten. Während seine skurrilen Denkmalentwürfe für Goethe[3] oder Martin Luther unausgeführte Idealentwürfe blieben, schmückten einige vollplastische Kandelaber die Eingänge von Gebäuden wie etwa die vom Haus Wohnlich und vom Haus Reutlinger am Rondellplatz in Karlsruhe[4] oder auch den Brunnen auf dem Karlsruher Lidellplatz, was heute leider nur noch durch alte Photographien belegt ist.
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Siehe dazu weiterführend Alvar González-Palacios: Piranesi and Furnishings, in: Sarah E. Lawrence (Hg.): Piranesi as Designer, New York 2007, S. 221-239 und Caroline van Eck: Piranesi und sein Museum. Die Restaurierung der Antike und die Entstehung des Style Empire in einer sich globalisierenden Welt / Piranesi and his Museum. The Restoration of Antiquity and the Genesis of the Empire-Style in a Globalizing World. Berlin/München 2019. Beispielsweise ließen sich im Stuttgarter Raum aber auch Bildhauer wie Antonio Isopi (1758–1833), Ernst Mayer (1796–1844) oder Albert Güldenstein (1822–1891) von Piranesis Kandelabern inspirieren. So schuf Isopi mehrere Kopien des anderen, mit Elephantenköpfen geschmückten Newdigate-Kandelabers, die im Saal des Neuen Schlosses von Stuttgart aufgestellt waren. Nach Zerstörung im Zweiten Weltkrieg hat sich noch ein ausgelagertes Exemplar im Schloss Ludwigsburg erhalten. Zu Isopi siehe weiterführend: Annette Köger: Antonio Isopi (1758–1833). Ein römischer Bildhauer am württembergischen Hof, Europäische Hochschulschriften. Reihe 28, Kunstgeschichte - Histoire de l’art - History of art, 265. Frankfurt am Main 1996. Im Ludwigsburger Schloss findet man auch einen von Ernst Mayer 1812 geschaffenen Kandelaber, der ebenfalls Piranesi-Bezüge aufweist. Albert Güldenstein fertigte zudem die Modelle für gusseiserne Kandelaber, die Mitte des 19. Jahrhunderts vor Schloss Rosenstein bei Stuttgart aufgestellt wurden. Als Vorbild dienten dafür zwei in Vasi, candelabri publizierte Piranesi-Kandelaber, die sich im Antikenmuseum Gustav III. in Stockholm befindet (Inv. NM SK 181 und NM SK 180).
2. Zusammen mit der Zeichnung des Albano-Altars (IX 5159-35-47-1) wurde auch jene des Newdigate-Kandelabers erstmals von Ulrich Maximilian Schumann publiziert. Er gibt jedoch fälschlich an, dass es sich um Fantasieentwürfe beziehungsweise Capriccios von Friedrich Weinbrenner handele. Siehe dazu: Ulrich Maximilian Schumann: Friedrich Weinbrenner. Klassizismus und „praktische Ästhetik“, Berlin 2010, S. 238, Tafel 44.
3. Stadtarchiv Karlsruhe, Inv. 8/PBS XV 1498. Für eine Abbildung des Goethe-Denkmals siehe Georg Kabierske: Weinbrenner und Piranesi. Zur Neubewertung von zwei Grafikalben aus dem Besitz Friedrich Weinbrenners in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, in: Brigitte Baumstark/Joachim Kleinmanns/Ursula Merkel (Hg.): Friedrich Weinbrenner, 1766-1826: Architektur und Städtebau des Klassizismus, Ausst. Kat. Karlsruhe, Städtische Galerie und Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Petersberg 2015 (2. Aufl.), S. 75–87, hier S. 83, Abb. 13.
4. Weitere Kandelaber gab es auch am Haus Beck in der Karl-Friedrich-Straße sowie im Vestibül des Markgräflichen Palais in Karlsruhe, siehe dazu Fotos im Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg, Außenstelle Karlsruhe, Aufnahme-Nr. mi06008f01 und mi06027f09. Digitalisate finden sich auf der Datenbank Bildindex (abgerufen am 08.08.2022).
- Graphischer Transfer und mediale Umsetzung
Dieser Newdigate-Kandelaber wurde in Piranesis Stichwerk Vasi, candelabri mit zwei Tafeln dokumentiert. Die eine, (laut Katalog von 1792) bereits 1774 gedruckte Radierung zeigt den Kandelaber in perspektivischer Ansicht, wodurch seine dreidimensionale Komplexität erfahrbar wird (Abb. 2). 1776 erschien eine weitere Radierung, die den Kandelaber in Frontalansicht zeigt (Abb. 3). Der beigefügte Text beider Radierungen gibt die angebliche Fundgeschichte des Objekts wieder und erwähnt, dass der Kandelaber bereits von Sir Roger Newdigate erworben und nach England gebracht worden sei.
Abb. 2: Giovanni Battista Piranesi, Perspektivische Ansicht des Newdigate-Kandelabers, Radierung, 1774, in: Vasi, candelabri, Taf. 26, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.696
CC BY-NC-SA 3.0Abb. 3: Giovanni Battista Piranesi, Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Radierung, 1776, in: Vasi, candelabri, Taf. 25, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.696
CC BY-NC-SA 3.0Die komplexe Karlsruher Zeichnung stimmt in der frontalen Ansicht und der identischen Größe mit dem späteren zweiten Druck überein.[1] Die Korrekturen innerhalb der Zeichnung und die am Blattrand vergrößert wiederholten ornamentalen Details finden dort auch ihre Entsprechung, sie wurden im Transferprozess berücksichtigt und weisen teilweise eine mit dem Druck übereinstimmende Lichtführung auf (siehe dazu Prozesse historischer Nutzung). Wahrscheinlich diente das Blatt daher als Vorzeichnung für die Radierung. Eine Kopie nach dem Druck ist aufgrund der schrittweise erfolgten und korrigierenden Ausarbeitung auszuschließen. Fragen werfen jedoch die zuweilen stark plastische Wiedergabe, die in die Zeichnung oder am Rand eingetragenen Zahlen, Buchstaben oder Maßangaben sowie der am linken Rand in Graphit konstruierte Grundriss auf (siehe Zeichnerischer Prozess), wobei letzterer in der Radierung keine Verwendung fand.
Im Laufe des Karlsruher Forschungsprojekts wurde daher diskutiert, ob die Zeichnung auch als Entwurf für das Marmorstück gedient haben könnte oder erst in unmittelbarer Vorbereitung für den Druck 1775/1776 entstanden ist.[2] Diese Frage stellt sich bei nahezu allen Kandelaber- und Vasen-Zeichnungen in Karlsruhe. Doch ist solch eine Doppelfunktion überhaupt denkbar? Für beide Aufgaben dürften unterschiedliche Prämissen von Nöten gewesen sein. Leider wissen wir bislang zu wenig darüber, wie der Ideentransfer von Piranesi zu den ausführenden Bildhauern funktionierte und wie viele Freiheiten sich diese bei der Umsetzung erlauben durften. Gab es vielleicht auch Bozzetti in Ton, um Piranesis Ideen in dreidimensionalen Vorstudien zu erproben?[3] Denn wie Jacques-Guillaume Legrand (1753–1807) berichtet, fertigte Piranesi selbst „Modelle“ an, um den zuständigen Bildhauern eine Vorstellung für die nach seinen Angaben neu zu schaffenden Elemente der Marmorkompositionen zu vermitteln.[4] Womöglich handelt es sich bei den lockeren Skizzen im Taccuino B in der Bibliotheca Estense in Modena (Inv. gamma.y.06.32, fol. 9v – 14v.) um erste Entwurfsideen Piranesis für vergleichbare Marmorkompositionen.[5] Doch sind sie zu skizzenhaft, um davon ausgehend die komplexen Skulpturen zu bauen. Stattdessen könnten sie eine Grundlage für weitere Entwurfs- und Ausarbeitungsstufen gebildet haben.
Insgesamt stimmt das Karlsruher Blatt sowohl mit der Radierung als auch mit dem Marmorkandelaber ziemlich genau überein (Abb. 4).
Abb. 4: Vergleich des Newdigate-Kandelabers im Ashmolean Museum Oxford (Abb. 1) © Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg Kabierske, der gezeichneten Seitenansicht IX 5159-35-46-1 und der gedruckten Seitenansicht (Abb. 3) Dies betrifft zum Beispiel das Segment mit den Masken sowie die vereinzelten und sehr präzisen Korrekturen in Rötel, etwa die Lanzettblätter der unteren Mittelstütze oder die am Rand vergrößerten Details (Abb. 5).
Abb. 5: Vergleich verschiedener Details im Newdigate-Kandelaber:
Giovanni Battista Piranesi (?) und mehrere unidentifizierte Zeichner der Piranesi Werkstatt, Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers (Ausschnitte), Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1;
Ausschnitte aus der Radierung (Abb.3);
Detailfotos aus dem Marmorkandelaber im Ashmolean Museum Oxford (Abb. 1) © Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg KabierskeDiese Übereinstimmen lassen vermuten, dass der Zeichner bereits den fertigen Marmorkandelaber vor sich hatte, wodurch er die ornamentalen Details so exakt zu erfassen vermochte. Diese getreue Wiedergabe diente in der Folge als Vorlage für die Radierung, in der man ebenso sehr darauf bedacht war, die Reliefwirkung des Dekors darzustellen. Skulpturale Entwurfszeichnungen weisen in der Regel Abweichungen zu dreidimensionalen Objekten auf, die aus dem Umsetzungsprozess des Bildhauers resultieren. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Die Details scheinen daher nicht aus der entwerfenden Vorstellungskraft des Künstlers entstanden zu sein, sondern aus der Anschauung einer Vorlage.
In diesem Zusammenhang ist auch der am Rand konstruierte Grundriss (Abb. 6) des Kandelabers interessant, denn dort ist nicht nur die unterste Grundfläche eingezeichnet, sondern auch jene für die Proportionen wichtigen Längen und Ebenen sind maßgleich zum Aufriss wiedergegeben (für die detaillierte Erläuterung des Grundrisses siehe Zeichnerischer Prozess).
Abb. 6: Giovanni Battista Piranesi (?) und mehrere unidentifizierte Zeichner der Piranesi Werkstatt, Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1, farbige Kartierung von Grundriss und korrespondierenden horizontalen Längen durch Maria Krämer
CC0 1.0Der Grundriss wurde zusammen mit der Konstruktionszeichnung des Aufrisses angelegt, vermutlich ist er sogar als erstes Motiv auf das Blatt gezeichnet worden. Denn es ist naheliegend, dass daran die am bereits existenten Marmorkandelaber abgenommenen Maße heruntergerechnet wurden, um somit einen proportionsgerechten Frontalaufriss konstruieren zu können.
Hinzu kommt eine kleine Skizze in der linken oberen Blattecke. Sie gibt das Segment zwischen den Hälsen der Kraniche, unterhalb des knienden Fauns wieder, worin die Höhenmaße der einzelnen horizontalen Schichten eingetragen wurden (Abb. 7).
Abb. 7: Detailvergleich der Skizze mit Maßangaben in der linken oberen Blattecke und dem ins Reine gezeichneten Segment in der Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1
CC0 1.0Vergleicht man diese Skizze mit dem entsprechenden Element der großen Zeichnung, so erhärtet sich der Eindruck, dass sie im Zusammenhang mit der zugrundeliegenden Vorzeichnung für die Gesamtkomposition entstand (siehe Beschreibung und Komposition). Denn in der Vorzeichnung wie auch in der Skizze ist der untere konkave Einzug dieses Elements noch gestauchter wiedergegeben. Bei der Überarbeitung der Gesamtansicht in schwarzer Kreide wurde diese Stelle etwas nach unten gestreckt. Somit könnte die Skizze dazu gedient haben, die am bereits vorhandenen Marmorkandelaber genommenen Maße zu notieren, um für die Ausführung der Frontalansicht genaue Referenzmaße vorliegen zu haben. Außerdem stimmt die Gesamtansicht geradezu „maßgeschneidert“ mit der Radierung übereinstimmt, weshalb eine vorangegangene Funktion als Kompositionsentwurf für das Marmorobjekt fragwürdig erscheint.
An dieser Stelle muss noch auf eine großformatige Detailzeichnung (IX 5159-35-44-1) hingewiesen werden, die das kapitellartige Segment des Kandelabers mit Delphinen und Widderköpfen ausschnittsweise wiederholt und zwei Albumblätter zuvor in den Klebeband eingefügt worden ist. Sie gibt die in der Gesamtansicht fehlende linke Hälfte des Segments mit Muschel und vegetabilen Ornamenten wieder, die zwischen den plastischen Delphinen und Widderköpfen tieferliegend eingefügt ist (Abb. 8).
Abb. 8: Unidentifizierter Zeichner der Piranesi Werkstatt, Segment aus dem Newdigate-Kandelaber, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-44-1 und der Position dieses Motifs innerhalb der Seitenansicht des Kandelabers, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1
CC0 1.0In der Detailzeichnung wurden Delphin und Widderkopf ausgespart und sind dort, wo sie eigentlich mit dem Relief verbunden wären, nur als schemenhafte Freiflächen zu erahnen. Überraschend ist, mit welch hoher Präzision und Plastizität das Relief in schwarzer Kreide herausgearbeitet wurde. Bis auf wenige Millimeter Abweichung, die auch aus Messproblem am dreidimensionalen Marmorobjekt resultieren können, entspricht die Zeichnung der tatsächlichen Größe dieses Segments, das auf allen drei Seiten des Marmorkandelabers gleichartig gestaltet ist (Abb. 9).[6]
Abb. 9: Unidentifizierter Zeichner der Piranesi Werkstatt, Segment aus dem Newdigate-Kandelaber, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-44-1 und das korrespondierende Element im Marmorkandelaber, Ashmolean Museum Oxford (Abb. 1) © Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg Kabierske Auch hier stellt sich die Frage, ob diese sogar quadrierte Zeichnung als Vorlage für einen Bildhauer gedient haben könnte. Das Marmorstück weist einige Bruchstellen auf, die in der Zeichnung nicht wiedergegeben sind. Diese könnten allerdings auch nach Fertigstellung dem Relief zugefügt worden sein, um es im Sinne von Piranesis Kunstauffassung altertümlich, „restauriert“ wirken zu lassen. Andererseits könnte die Detailzeichnung auch als zusätzliche „Hilfestellung“ für die Radierung gedient haben: Denn in der Gesamtansicht des Kandelabers ist das ornamentale Relief an dieser Stelle links der Symmetrieachse ausgespart und auf der rechten Seite zudem weniger differenziert wiedergegeben. Somit dürfte eine exakte Wiederholung dieses Ausschnitts notwendig gewesen sein, um für die Übertragung auf die Druckplatte eine genaue Vorlage dieses komplexen Segments vorliegen zu haben. Die Quadrierung könnte dazu genutzt worden sein, die Zeichnung maßstabsgerecht zu verkleinern. Der Vergleich mit der Radierung bestätigt diese Überlegung: Sie weist in Darstellung und auch weitgehend in der Lichtführung eine direkte Übereinstimmung mit der Detailzeichnung (IX 5159-35-44-1) auf, während dieser Ausschnitt in der gezeichneten Gesamtansicht (IX 5159-35-46-1) hingegen nicht alle Elemente für eine schlüssige Übertragung liefert (Abb. 10).
Abb. 10: Detailvergleich des Segments aus dem Newdigate-Kandelaber, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-44-1, der Radierung (Abb. 3) und der gezeichneten Seitenansicht, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1
CC0 1.0Und noch ein Indiz unterstreicht diesen Zusammenhang: Das die Mittelachse markierende florale Ornament, das an eine Abakusblume erinnert und aus dessen Stengel je eine seitlich abzweigende Blatt- und Blütenranke wächst, stimmt in Detailzeichnung und Radierung exakt überein. In der Marmorversion hingegen zeigen sich an allen drei Seiten des Kandelabers kleine Abweichungen. Das rechte Blatt des abzweigenden Stengels ist dort mit der darüber liegenden Rankenblüte verwachsen, so, wie es in der Detailzeichnung am rechten Blattrand korrigierend wiederholt wurde (Abb. 11).
Abb. 11: Detailvergleich der vegetabilen Ranken des Newdigate-Kandelabers, ohne verwachsenem Blatt (roter Kreis), mit schnörkelförmig verwachsenem Blatt (grüner Kreis)
links oben: Unidentifizierter Zeichner der Piranesi Werkstatt, Segment aus dem Newdigate-Kandelaber, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-44-1; links unten: Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Radierung (Abb. 3); rechts: Newdigate-Kandelaber aus Marmor im Ashmolean Museum Oxford (Abb. 1) © Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg Kabierske, Ansichten aller drei SeitenTrotzdem hat man in die Radierung die vereinfachte Darstellung übernommen, da sie vielleicht etwas klarer und eindeutiger strukturiert ist. Grundsätzlich stimmen Marmorversion, Zeichnung und Radierung also weitgehend überein. Ähnlich wie beim Rhyton-Kandelaber (IX 5159-36-30-1) gezeigt werden konnte, weichen auch bei den graphischen Wiedergaben des Newdigate-Kandelabers manche Details, die in Zeichnung und Radierung übereinstimmen, von der Bildhauerarbeit ab. Dies ist insofern bemerkenswert, da es sich dabei um eine bewusste Entscheidung in Vorbereitung der Radierung handelt. Man kann nur spekulieren, ob dahinter eine nachträgliche Redaktion von Piranesis eigenem Werk steht und ob er nach Fertigstellung der Marmorversion eventuell noch Verbesserungen an der Detailgestaltung vornehmen wollte. Aus heutiger Perspektive scheinen diese Details jedoch meist unbedeutend. Doch womöglich strebte Piranesi nach einer weiteren Perfektion in seinen Radierungen, und für ihn waren sie das finale Kunstwerk.[7]
Hervorzuheben ist schließlich die Tatsache, dass alle ausgearbeiteten Zeichnungen der großen Marmorkompositionen in Karlsruhe (IX 5159-35-39-1, IX 5159-35-40-1, IX 5159-35-45-1, IX 5159-35-46-1, IX 5159-35-47-1, IX 5159-36-30-1) die Stücke ausschließlich in dem Blickwinkel wiedergeben, wie sie auch in den Vasi, candelabri dargestellt worden sind.
Vieles spricht also dafür, dass die beiden Newdigate-Kandelaber-Zeichnungen in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe in erster Linie dazu gedient zu haben, den bereits vorhandenen Marmorkandelaber als Vorlage für die Radierung zu erfassen. Eine Ausnahme könnten die Notizen auf der Rückseite der Medici-Ranke darstellen (IX 5159-35-10-1v), in der möglicherweise Elemente für die Ausführung des Marmorkandelabers aufgelistet werden.[8] Weitere Indizien wie Spuren einer Ölpause oder Druckplatte, die eine Nutzung der Zeichnung IX 5159-35-46-1 im Kontext der Radierung nahelegen, sind im Abschnitt Prozesse historischer Nutzung aufgeführt. Andererseits kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die Gesamtansicht und die Detailzeichnung nicht auch eine Nutzung für den Bildhauer erfüllten. Problematisch sind dabei jene vergleichbar konstruierten, wenn auch kleineren und nicht in eine Radierung umgesetzten Urnen-Zeichnungen IX 5159-35-21-3 und IX 5159-36-32-3. Waren sie auch zur Publikation vorgesehen oder handelt es sich stattdessen wirklich um Restaurierungsprojekte? Anhand der bislang bekannten Zeichnungen und Quellen scheint dies jedoch kaum nachvollziehbar. Es muss davon ausgegangen werden, dass für den Newdigate-Kandelaber weitere Zeichnungen sowohl als Vorlage für die Radierung als auch für die plastische Ausführung angefertigt worden sind. Da uns heute nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem Zeichnungsmaterial der Piranesi-Werkstatt vorliegt, können dementsprechend nicht alle Arbeitsvorgänge im Detail nachvollzogen werden.
Festzuhalten bleibt, dass es für die bereits 1774 gedruckte perspektivische Ansicht des Kandelabers (siehe Abb. 2) auch mindestens eine Zeichnung gegeben haben muss. Denkbar wäre auch, dass die Karlsruher Zeichnungen bereits damals entstanden, die Radierung jedoch erst zwei Jahre später gedruckt wurde. Der Verkauf des Marmorkandelabers nach England 1775 oder spätestens die Drucklegen der zugehörigen Radierung 1776 markieren einen terminus ante quem für die Entstehung beider Karlsruher Zeichnungen des Newdigate-Kandelabers.
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Für den Hinweis auf die identische Größe von Zeichnung und Radierung danke ich Maria Krämer.
2. Für anregende Diskussionen zu diesem Thema habe ich Christoph Frank, Bénédicte Maronnie und Thorsten Opper sehr zu danken.
3. Sieh dazu auch Pierluigi Panza: Museo Piranesi. Mailand 2017, S. 62f.
4. „il [Piranesi] faisait lui même les modèles des parties mutilées dont la restauration était délicate et forma l’habiles artistes en ce genre au nombre desquels on peut citer Cardelli, Franzoni, Jacquietti et autres qui depuis ont travaillé pour le museum du Vatican […].”, („Er fertigte selbst die Modelle der verstümmelten Teile an, deren Restaurierung heikel war, und bildete die geschickten Künstler in diesem Bereich aus, unter denen Cardelli, Franzoni, Jacquietti und andere zu nennen sind, die seitdem für das vatikanische Museum gearbeitet haben […].“) in: Gilbert Erouart/Monique Mosser: À propos de la „Notice historique sur la vie et les ouvrages de J.-B. Piranesi": origine et fortune d’une biographie, in: Piranèse et les français, Kolloquium, Rom, Villa Médicis, 12.–14. Mai 1976, Rom 1978, S. 213–252, hier S. 241.
5. Siehe Mario Bevilacqua: Piranesi, Taccuini di Modena, 2 Bde., Rom 2008, Bd. 1, S. 206.
6. Ich bin Paul Collins, Jaleh Hearn Curator for Ancient Near East am Ashmolean Museum Oxford zu großem Dank verpflichtet. Auf meine Nachfrage hat er das entsprechende Segment am Kandelaber ausgemessen und die weitgehende Übereinstimmung von Detailzeichnung (IX 5159-35-44-1) in Karlsruhe und Marmorskulptur in Oxford bestätigt.
7. Siehe dazu vergleichsweise eine Anekdote, die Jacques-Guillaume Legrand überliefert hat. Piranesi soll auf die Frage geantwortet haben, weshalb er keine endgültige Vorzeichnung mit vollständig angelegten Schattierungen anfertige: "Das wäre mir sehr unangenehm […], sehen Sie nicht, dass, wenn meine Zeichnung vollendet wäre, meine Tafel [Radierung] nur eine Kopie werden würde; wenn ich dagegen den Effekt auf dem Kupfer erzeuge, mache ich ein Original daraus“ („J’en serais bien faché, répondait-il [Piranesi], ne voyez-vous pas que si mon dessin était fini ma planche ne deviendrait plus qu’une copie; lorsqu’au contraire je crée l’effet sur le cuivre, j’en fait un original“), zitiert nach Jacques Guillaume Legrand: Notice historique sur la vie et les ouvrages de J.B. Piranesi architecte, peintre et graveur né a Venise en 1720 mort a Rome en 1778, in: Georges Brunel (Hg.): Piranèse et les Français, Kolloquium, Rom, Villa Médicis, 12.–14. Mai 1976, Rom 1978, S. 221–252, hier S. 246.
8. Bénédicte Maronnie erinnerte mich dankenswerterweise an diese mögliche Verbindung. Es war jedoch Christoph Frank, der erstmals einen Bezug zwischen der Notiz und dem Newdigate-Kandelaber herstellte.
- Zuschreibungshypothesen
Vergleichbar mit den Zeichnungen der stilistischen Gruppe 11, insbesondere mit jener des Rhyton-Kandelabers (IX 5159-36-30-1), ist die Zeichnung komplex in mehreren Schritten und verschiedenen Zeichenmedien angelegt worden (siehe Zeichnerischer Prozess).[1] Dabei ist schwierig zu beurteilen, wie viele Zeichner der Piranesi-Werkstatt in diesen Prozess involviert gewesen sind. Wahrscheinlich lassen sich mindesten vier verschiedene Zeichenmodi oder Etappen der Entstehung bestimmen, was nicht zwangsläufig auf ebensoviele verschiedene Hände deutet.
Zunächst gibt es die zuunterst liegende, die Komposition geometrisch konstruierende und die figürlichen Partien locker skizzierende Vorzeichnung, die sich durch eine technische Herangehensweise auszeichnet und daher sehr schwer einer spezifischen Hand zuzuordnen ist. Bei der Ausarbeitung in schwarzer Kreide zeigen sich dann Unterschiede: Zum einen gibt es die in kräftigem, dunklen Kreideauftrag gezeichneten ornamentalen Elemente in der Mittelachse, den Widderkopf, die Delphine und die Muschel, das Segment mit antikisierenden Masken und die die Ecke markierenden Adler, die zentrale Mittelsäule am Fuß des Objekts als auch einige am Blattrand detailliert wiederholten Ornamente. Zum anderen erscheinen im Wesentlichen die Löwenfüße, die Kraniche und der bekrönende Faun zarter gezeichnet. Doch handelt es sich dabei wirklich um zwei verschiedene Hände?
Bei den kräftigeren Zeichnungen dürfte es sich zumindest um dieselbe Hand handeln, die am Rhyton-Kandelaber mit dem gleichen Medium plastische Elemente wie den Wildschweinkopf, die vegetabilen Löwenfüße und die Eroten an der Basis gezeichnet hat (IX 5159-36-30-1, siehe Zuschreibungshypothesen). Vermutlich hat dieser Zeichner außerdem das Detailstück aus dem Newdigate-Kandelaber (IX 5159-35-44-1) gezeichnet. Möglicherweise lassen sich diesem auch die beiden Darstellungen des Heiligen Paulus von der Marc-Aurel-Säule (IX 5159-36-5-1, IX 1559-36-11-1, siehe Zeichenstil) zuordnen. Es mag verführerisch sein, die kräftig und präzise in schwarzer Kreide gezeichneten Elemente mit Giovanni Battista Piranesi in Bezug zu setzten, doch fehlt dafür zum jetzigen Zeitpunkt eine solide Vergleichsbasis. Auch wenn er in der zweiten Hälfte seiner Karriere ab den 1760er Jahren einen präziseren Zeichenstil für Studien nach der Antike entwickelt hat, so sind davon nur wenige Blätter erhalten. Ein Vergleich der antikisierenden Masken mit leeren Augen am Newdigate-Kandelaber mit jenen Piranesi zugeschriebenen Studien nach Statuen und Aktfiguren in der Morgan Library (Inv. 1966.11:29, datiert nach 1761) und in der École Nationale Supérieure des Beaux-arts in Paris (Inv. EBA 270) sowie mit den Büsten in einer Ansicht der Portikus des Caius und Lucius im British Museum erlaubt leider keine sichere Zuordnung (Abb. 12).
Abb. 12: Stilistischer Detailvergleich der in schwarzer Kreide gezeichneten Masken und Adler in der Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1 (links oben) mit Giovanni Battista Piranesi, Ansicht der Portikus des Caius und Lucius in Rom (Ausschnitt), schwarze Kreide, The Trustees of the British Museum, 1905,1110.65 (links unten) CC BY-NC-SA 4.0 und Giovanni Battista Piranesi, Kopfstudie vermutlich nach einer weiblichen Statue (Ausschnitt) © The Morgan Library & Museum. 1966.11.29. Bequest of Junius S. Morgan and gift of Henry S. Morgan (rechts) Inwiefern stattdessen Vincenzo Dolcibene (um 1746–1820) als Zeichner in Frage käme, ist, wie in den zuvor angeführten Katalogtexten (IX 5159-36-30-1, siehe Zuschreibungshypothesen; IX 5159-36-5-1, IX 1559-36-11-1, siehe Zeichenstil) erläutert, aufgrund seiner wenigen gesicherten Zeichnungen und der schwierigen Quellenlage ebenso fraglich. Stattdessen könnte es sich hier um einen bislang unbekannten, talentierten Zeichner handeln, der in der Werkstatt auf das Zeichnen von Figuren spezialisiert war.
Daneben gibt es auf dem Blatt noch Ergänzungen in Rötel, in Übereinstimmung mit anderen Zeichnungen dieser stilistischen Gruppe 11 scheinen sie als letzte entstanden zu sein. Hierbei wäre es durchaus möglich, dass Giovanni Battista Piranesi mit prüfendem Blick finale Korrekturen in die Zeichnung eintrug. Aber selbst wenn Piranesi nicht der Haupturheber dieser Zeichnung gewesen ist, so entstand sie doch für ihn und unter seiner unmittelbaren Kontrolle.
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Im Aufsatz von Caroline van Eck: The Style Empire and its Pedigree. Piranesi, Pompeii and Alexandria, in: Architectural Histories 6,1, (2016), S. 1–16, hier S. 8 macht die Autorin mehrere ungenaue Angaben über die Karlsruher Alben. Ohne Nennung einer Quelle gibt sie auch fälschlich an, es handele sich beim Newdigate-Kandelaber um eine große Rötelzeichnung. Möglicherweise handelt es sich um eine Verwechslung mit X 5159-35-36-1.
- Kunsthistorische Bedeutung
Dieses Karlsruher Blatt stellt in mehrerer Hinsicht eine Besonderheit dar. Zum einen in Anbetracht seiner Größe: Mit dem Rhyton-Kandelaber (IX 5159-36-30-1), dem Dreifuß des Apoll (IX 5159-35-45-1) und dem Adlerrelief aus Santi Apostoli (IX 5159-35-35-1) gibt es nur drei weitere Blätter, die aufgrund ihrer seitenfüllenden Ausmaße gefaltet in das Album eingeklebt werden mussten. Bei all diesen Zeichnungen war eine besondere Blattgröße notwendig, um darauf maßstabsgleiche Vorlagen für die Radierungen der Serie Vasi, candelabri zeichnen zu können. Zum anderen wirft diese Kandelaberzeichnung angesichts ihrer zeichnerischen Komplexität Fragen nach ihrer Funktion auf. Diente sie – wie dargelegt – einzig als Vorlage für die 1776 gedruckte Radierung, worauf viele Indizien hindeuten, oder wurde sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt für die „Restaurierung“ des Marmorkandelabers verwendet? Außerdem kommt diesem Blatt sowie der Detailzeichnung (IX 5159-35-44-1) eine herausragende Bedeutung zu, sind es doch die bislang einzigen bekannten Zeichnung der Piranesi-Werkstatt, die in Bezug zu diesem Newdigate-Kandelaber stehen. Überdies handelt es sich bei der gesamten Gruppe der Vasen- und Kandelaberzeichnungen in Karlsruhe nicht um kleine Skizzen wie jene Blätter der Bibliotheca Estense in Modena, sondern um aufwendig und detailliert gestaltete Gesamtkompositionen.
Georg Kabierske
- Merkmale des Papiers
Wasserzeichen:
Bekrönte Lilie, darunter drei Weihrauchschiffchen; Gegenmarke BRACCIANO
Belege:
Andrew Robison: Piranesi: Early Architectural Fantasies. A Catalogue Raisonné of the Etchings, Washington u.a. 1986, S. 227, Nr. 58 u. 59 (Variante, Mitte der 1770er–1790er Jahre); Eugenio Mariani: Le filigrane della cartiera Odescalchi di Bracciano, in: Paper as a Medium of Cultural Heritage. Archaeology and Conservation. 26th Congress – International Association of Paper Historians. Istituto centrale per la patologia del libro, Rom 2004, S. 374–380, hier S. 376 (Odescalchi Papiermühle: 1725 bis ca. 1810; keine Abbildung)
Sammlungen:
Karlsruher Alben: Variante: IX 5159-35-40-1
Herstellungsmerkmale:
Ungefärbt; hohe Stärke; recto ebenmäßige Oberfläche mit deutlicher Filzmarkierung, verso (IX 5159-35-46-1v) ausgeprägte Siebmarkierung; Gautschfalte o.M.; gelatinegeleimt (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt), im Reflexlicht deutlicher Glanz durch Glättung der Oberfläche (IR).
Ausführliche Informationen zu den Fachbegriffen finden Sie im Glossar.
Maria Krämer und Irene Brückle
- Merkmale der Zeichenmedien
Graphit (Details 1–4): Typisches, graues Erscheinungsbild; vorwiegend auf den Faserhöhen angelagert; im Reflexlicht Glanz (UVR, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt); für Überarbeitung stark aufdrückend geführt, dabei furchiger Strich (Detail 4); auch als Schreibmittel eingesetzt (Abb. 2).
Detail 1a: Auflicht
Graphit, darüber fetthaltiger schwarzer Stift (Sockel), Konstruktionslinien in Graphit (grau); darüber deckend fetthaltiger schwarzer Stift, stellenweise mit verbräuntem HofDetail 1b: Streiflicht
Graphit, darüber fetthaltiger schwarzer Stift (Sockel); geschwungener, furchiger, pigmentfreier Strich; Konstruktionslinien in Graphit (grau), darüber fetthaltiger schwarzer Stift; Einstichlöcher an markanten KreuzungspunktenDetail 2a: Auflicht
Graphit (geschwungene Linie), darüber fetthaltiger schwarzer Stift und Rötelpause (2. Konsole, links außen)Detail 2b: Streiflicht
Graphit, geschwungene Linie, darüber fetthaltiger schwarzer Stift und Rötelpause (2. Konsole, links außen)Detail 3a: Auflicht
Graphit, eingedrückter Strich (Pfeil) über fetthaltigem schwarzem Stift (4. Konsole)Detail 3b: Streiflicht
Graphit, eingedrückter Strich (Pfeil) über fetthaltigem schwarzem Stift (4. Konsole)Detail 4a: Auflicht
Graphit über fetthaltigem schwarzem Stift (Kannelierung, 4. Konsole)Detail 4b: Streiflicht
Graphit (eingedrückter, furchiger Strich) über schwarzem, fetthaltigem Stift (Kannelierung, 4. Konsole)Schwarze Kreide (Details 5 und 6): Leicht bis kräftig aufgetragen; mattschwarzes Erscheinungsbild; in den Bergen und Tälern der rauen Papieroberfläche angelagerte Partikel, stellenweise streifiger Strich mit Kratzspuren (Detail 5); auch als Schreibmittel eingesetzt (Abb. 2).
Detail 5a: Auflicht
Schwarze Kreide (Reiher, linke Brust, 4. Ebene)Detail 5b: Streiflicht
Schwarze Kreide (Reiher, linke Brust, 4. Ebene)Detail 6a: Auflicht
Rötel über schwarzer Kreide (2. Konsole, rechts)Detail 6b: Streiflicht
Rötel über schwarzer Kreide (2. Konsole, rechts)Schwarzer Stift mit fetthaltigen Bindemittel (Detail 1, Detail 2, Detail 3, Detail 4): Kräftiger, häufig deckender und pastoser Strich, stellenweise mit bräunlichem Hof, Hinweis auf Zusatz eines fetthaltigen, alterungsbedingt verfärbten Bindemittels (Detail 1, UVF, UVR), anhaftende helle Partikel (Detail 3).
Rötel: Stellenweise nur leicht aufgetragen (Detail 2), teils auch verwischt; anderenorts kräftig aufgetragen, dort auch stellenweise stark aufdrückend geführter Stift mit eingedrückter Linie und aufgerauter Papieroberfläche (Detail 6).
Nicht zur Entstehung der Zeichnung gehörige Farbmittel: Kleckse einer schwarzen Tusche (vermutlich Weinbrennerschule).
Detailbilder: Zur örtlichen Orientierung, siehe Ebenen im Aufbau der Skulptur (Abb. 1).
Abb. 1: Aufbau des Kandelabers
Ebenen (blau) und dazwischenliegende Konsolen (orange)
Foto: Annette T. Keller artIMAGING, Bearbeitung: Maria KrämerAbb. 2: Kartierung der Inschriften (IRR)
Zahlen und Buchstaben (digital vergrößert eingeblendet) in Graphit und schwarzer Kreide: links v.o.: diverse Zahlen; 58; 2(?); r. Mitte: 80, 60 oder 50; unten v.l.n.r: 4, 5, 6; rechts v.o.: 12; 20; 3, a, 11, a; ?; 3Ausführliche Informationen zu den Fachbegriffen finden Sie im Glossar.
Maria Krämer und Irene Brückle
- Zeichnerischer Prozess
Das komplexe Blatt gehört technisch zu den anspruchsvollsten Zeichnungen innerhalb der Karlsruher Alben. Es ist mit vier verschiedenen Stiften (Graphit, schwarze Kreide, schwarzer Stift, Rötel) gearbeitet, die sich vielfach überlagern und stellenweise nur sehr zart aufgetragen wurden, was ihre Differenzierung erschwert. Dazu tragen auch die intensiven Gebrauchsspuren bei, die den zeichnerischen Aufbau stellenweise verunklären.
Wesentlich für die Proportionierung der Grundform des dreiseitigen Kandelabers ist das gleichseitige Dreieck in der Blattecke u.l., das den Grundriss der Skulptur beschreibt (Grundriss, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Diese Grundrisszeichnung in Graphit ist wohl in einem Zug mit der Konstruktionszeichnung entstanden, denn die Aufrisszeichnung liegt in den Überlappungsbereichen der beiden Zeichnungen obenauf. Da der Aufriss maßstabsgleich zum Grundriss ist, wurde letzterer vermutlich an die linke untere Blattecke gerückt, um der nachfolgenden Aufrisszeichnung ausreichend Raum zu geben. Die hellgraue Graphitzeichnung vom Grundriss tritt denn auch nicht in Konkurrenz mit der kräftig ausgearbeiteten Zeichnung. Der horizontale Schenkel vom Grundrissdreieck wurde nach rechts erweitert und als Bodenlinie des Sockels genutzt. Dass Grundriss und Aufriss miteinander korrespondieren, ist auch an der Maßgleichheit einiger Konstruktionsdetails abzulesen: Der in der Kartierung des Grundrisses rot markierte Dreiecksschenkel ist längengleich mit der Breite der Bodenplatte im Aufriss. Die diagonalen Linien, die im Grundriss die Spitzen des Dreiecks abtrennen, entsprechen im Aufriss den nach hinten fluchtenden Seiten des Kandelabers, auf denen die Löwenpranken ruhen. Außerdem sind innerhalb des Dreiecks einige horizontale Linien eingezogen, die jeweils die halbe Breite der vier Konsolen angeben, die zur Spitze des Kandelabers hin schmaler angelegt sind (siehe entsprechende Kartierungen im Grundriss).
Der Maßstab unterhalb des Dreiecks ist mit senkrechten Strichen in vier Abschnitte unterteilt, die wiederum in kleinere Einheiten von je drei Segmenten aufgegliedert sind. Das erste und letzte Segment erhielt jeweils fünf Unterteilungen. Bei der Maßeinheit dürfte es sich um römische Palmi handeln, die in der Architektur gängig waren und deren Nutzung durch Piranesi in seinen Drucken dokumentiert ist. Unter Berücksichtigung dieser historischen Maßeinheiten lässt sich die Breite der Zeichnung mit derjenigen der Skulptur vergleichen: Nimmt man einen Palmo[1] als Maßeinheit des abgebildeten Maßstabs, ergibt sich für die Breite der Bodenplatte der Zeichnung ein Maß von etwa 3,5 römischen Palmi und damit etwa eine Breite von 78 cm für die Skulptur, deren Seitenlänge des Sockels mit 80,5 cm angegeben ist.[2] Die Maße der Zeichnung und der Skulptur stimmen damit relativ genau überein.
Der Kandelaber wurde auf dem Blatt mittig platziert und füllt annähernd die gesamte Blatthöhe. Um seine achsensymmetrische Form anzulegen, zog der Künstler mit Hilfe eines Lineals vertikale und horizontale Konstruktionslinien (Konstruktionslinien, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt) größtenteils in schwarzer Kreide mit einigen wenigen Ergänzungen in Graphit. Die zentrale Spiegelachse entspricht dabei genau der Blattmitte. Die figürlichen Motive liegen über mehrere Ebenen gestaffelt. Die Konstruktionslinien strukturieren den Aufbau des hochragenden Bildwerks, das durch mehrfache Einzüge und hervorspringende Gesimse feinstufig unterteilt ist. Sie ragen weit über die fertige Zeichnung hinaus – ein bei den Karlsruher Zeichnungen häufig zu beobachtendes Phänomen – und sind zusammen mit sichtbaren Korrekturen Indizien dafür, dass die Zeichnung der Formentwicklung und schließlich ihrer Festlegung diente. Visuell treten die zarten Graphitlinien hinter das fertige Bild zurück und wurden zu diesem Zweck wohl auch stellenweise nachträglich abgeschwächt. Am Sockel sind sie dagegen ohne weiteres Überzeichnen als Kontur stehengeblieben. Zahlreiche Einstiche bezeugen die intensive Verwendung eines Zirkels als Hilfsmittel zur Abmessung der Abstände von der zentralen Mittelachse aus (Einstiche, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Darüber wurden bogenförmige Linien und Kreise mit einem Stechzirkel angelegt. Auch die halbkreisförmige Kontur der Muschel wurde als Blindlinie markiert (Abb. 3).
Abb. 4: Auflicht und UVFC
Bearbeiteter, dabei möglicherweise teilweise bereinigter Bereich links von der Maske in der 2. Ebene der Konsole
Foto: Annette T. Keller artIMAGING, Bearbeitung: Irene Brückle und Maria KrämerFür die Vorzeichnung und Ausarbeitung nutzte der Zeichner schwarze Kreide (Detail 6), wobei er einzelne Formen wiederholt korrigierte. Besonders deutlich ist dies an den Reiherköpfen erkennbar, deren Hälse so platziert wurden, dass sie sich dem Rand der Vase zuneigen; im Druck und in der Skulptur lehnen sie direkt an ihr an. In der zweiten und dritten Ebene liegen jeweils links von der Zeichnung etwas hellere Papierflächen, was möglicherweise auf ein Tilgen zeichnerischer Entwurfslinien hinweist (Abb. 4). Viele der mit schwarzer Kreide ausgeführten Bildteile und einige Konstruktionslinien in Graphit (Detail 1, Detail 2) wurden zusätzlich mit einem fetthaltigen, schwarzen Stift überarbeitet. Dieser überdeckt die schwarze Kreide stellenweise vollständig, so etwa bei einigen floralen Ornamenten; an anderer Stelle setzt der schwarze Stift lediglich Akzente, etwa bei den Konturen der beiden Reiher.
Graphit wurde auf der linken Seite des Kandelabers zur Ergänzung der Konturen und Erweiterung seiner perspektivischen Ansicht eingesetzt. Außerdem diente er zur Überarbeitung einiger mit schwarzer Kreide ausgeführter Linien (Detail 3, Detail 4), erkennbar etwa an einzelnen Strichen der Kannelierung in der 4. Konsole. Hier ist der Stift breit und stark aufdrückend geführt, um über der schwarzen Zeichnung ausreichend zur Geltung zu kommen. Eine vergleichbare Überarbeitung mit Graphit auf einer weitgehend in schwarzer Kreide ausgeführten Zeichnung ist auch bei anderen Werken (beispielsweise Inv. Nr. IX 5159-35-21-3, IX 5159-35-47-1) der Karlsruher Alben zu beobachten.
Ergänzungen in hellem Rötel beschränken sich auf einzelne kleine Motive. Sie dienten dazu, schon bestehende, in Schwarz angelegte Formen klärend zu überarbeiten oder ein schon bestehendes Motiv von der einen Seite des Kandelabers auf die andere zu spiegeln (Detail 6). Bei dem schmalen Gesims der zweiten Konsole von unten ist das in Rötel schwach erkennbare Blattwerk durch eine Pause des Motivs auf der rechten Seite übertragen worden (Detail 2). Möglicherweise war einmal beabsichtigt, alle halbseitig angelegten Muster achsensymmetrisch zu ergänzen.
Die auf beiden Seiten des Kandelabers isoliert und vergrößert dargestellten Details (Abb. 5) sind in Graphit, schwarzer Kreide und Rötel ausgeführt, wobei sich in einigen Fällen die Stifte für dieselben Ornamente auf und neben dem Leuchter entsprechen. Vermutlich stammen die vergrößerten Details jeweils von derselben Hand wie die entsprechenden Motive. Der Einsatz mehrerer unterschiedlicher Zeichenmedien könnte aber für mehrere separate Arbeitsphasen sprechen.
Abb. 5: Kartierung der Details
Bezug der separat ausgeführten Zierelemente (markiert) zur Gesamtdarstellung
Foto: Annette T. Keller artIMAGING, Bearbeitung: Irene Brückle und Maria KrämerAbb. 6: Dritte Konsole, rechte Seite
Konturlinien in schwarzem Stift mit Öleinwirkung (linkes Bild, blau markiert), die mit schwarzer Farbablagerung verso korrespondieren (rechts Bild)Fotos: Annette T. Keller artIMAGING (a, c, d), Maria Krämer (b); Bearbeitung: Irene Brückle und Maria KrämerDetail 8: Ausschnitt von Abb. 6 linke Seite
Konturlinie in schwarzem Stift mit Öleinwirkung (verbräunter Hof)Drei kleine, furchig eingedrückte, bogenförmige Konturlinien auf der rechten Seite der 4. Konsole (siehe Abb. 1, Aufbau des Kandelabers) zeigen recto die Spur eines Ölkontakts (Abb. 6, links; Detail 8). Diese drei ölbenetzten Konturlinien sind verso stark ausgeprägt und zeigen Anhaftungen von schwarzem Pigment (Abb. 6, rechts). Im direkten Umfeld sind weitere Vorzeichnungslinien bei der Ausarbeitung der Zeichnung ignoriert worden (Abb. 6, links). Eine lokal auf wenige Elemente begrenzte Ölpause könnte im Entwerfen des Kandelabers oder auch bei einem Transfer ausgewählter Zeichnungselemente gedient haben.
Einzelnachweis
1. Wir danken Stefan Moret sehr herzlich für den Hinweis über römische Palmi (1 Palmo architettonico entspricht etwa 22,3 cm; siehe: Johann Friedrich Krüger: Vollständiges Handbuch der Münzen, Maße und Gewichte aller Länder der Erde. Gottfried Basse, Quedlinburg/Leipzig 1830, S. 225, 226.
2. Ashmolean Museum treatment report for the Piranesi Candelabra, prepared by the Cliveden Conservation Workshop Ltd, 2014, unpublished
- Merkmale historischer Nutzung
Alle vier Büttenränder erhalten (vollständiger Bogen); zahlreiche, teilweise ölige Flecke (UVR, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt), recto o.l. durchgeschlagen von verso; Ablagerungen von Pigmentstaub (Rötel, ev. auch schwarze Kreide); Einstiche von Stecknadeln (Einstiche, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt); an unterer Blattkante kreisförmig angeordnete Punkte in schwarzem Pigment, vermutlich Pulver schwarzer Kreide (Detail 9; womöglich Spolvero); Fingerabdrücke mit einer braunschwarzen, schmierigen (bindemittelreichen) Substanz, wobei es sich um Firnis aus dem Druckprozess handeln könnte (Detail 10) sowie mehrere streifige Ablagerungen einer braunschwarzen Substanz nahe den horizontalen Blatträndern o.M. und u.M. (UVR); Insektenrückstände und -fraß an Klebeflächen, Fliegenschmutz auch außerhalb der Klebeflächen insbesondere entlang der Ränder, zerquetschte Fliege im Blatt o.r.; an mehreren Stellen eingerissen (ein langer Einriss an Blattkante u.M., zur Sicherung mit breitem Papierstück verso rudimentär hinterklebt (Durchlicht, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt); drei Blattränder eingefaltet; mit eingeklappten Blatträndern ehemals mittig über die gesamte Blattbreite gefaltet, entlang dieser Faltung verso Klebstoffrückstände und Papierreste mit mehreren ausgerissenen Heftlöchern, Hinweis auf frühere Montierung; Klebstoffflecke recto, in der Mitte des Blattes auf der Zeichnung anhaftend.
Detail 9a: Auflicht
Auftrag von schwarzem Pigment (Spolverotechnik) (unterer Blattrand), Zweck ungeklärtDetail 9b: Close-up
Ausschnitt aus Abb. 8a Auftrag von schwarzem Pigment (Spolverotechnik) (unterer Blattrand), Zweck ungeklärtDetail 10a: Auflicht Detail 10b: Streiflicht Maria Krämer und Irene Brückle
- Prozesse historischer Nutzung
Dass die Zeichnung mit der Entstehung der Radierung gleichen Motivs zusammenhängt, liegt aufgrund der nahezu deckungsgleichen Darstellung im Druckwerk Vasi, candelabri nahe. Auch die vergrößert gezeichneten Einzelmotive (siehe Abb. 5) sind mit dem Druck verbunden, denn sie geben Details wieder, die auf der Zeichnung nicht oder nicht vergleichbar detailliert ausgeführt wurden, im Druck aber dargestellt sind. In einigen von ihnen wird auch die Lichtführung analog zum Druck wiedergeben. Die Zeichnung könnte aber darüber hinaus auch der Gestaltung der Skulptur gedient haben, denn die vergrößert wiedergegebenen Details könnten die Kommunikation zwischen an der Arbeit beteiligten Künstlern unterstützt haben. Insgesamt lassen die auch verso äußerst zahlreichen Spuren historischer Nutzung auf die zentrale Bedeutung dieser Zeichnung in Piranesis Werkstattkontext schließen. Die im Folgenden erläuterten Merkmale sind daher jeweils mit Arbeitsprozessen an Piranesis dokumentierten Werken in Verbindung zu bringen. Zusätzlich bleibt anzumerken, dass die Zeichnung auch allgemeine, nicht zuordenbare Abnutzungsspuren zeigen, so etwa Abdrücke steiniger oder erdiger Körnchen, die entstanden sein müssen, als das Blatt auf einem entsprechenden Untergrund unter Druck lagerte. Ob man hier eine unmittelbare Nähe bildhauerischer Arbeit vermuten darf, bleibt dahingestellt.
Unterschiedliche Einstiche in zahlreicher Häufung innerhalb verschiedenster Bereiche der Zeichnung könnten mit der Übertragung auf die Druckplatte zusammenhängen; für die Genese der Zeichnung selbst erscheinen sie in dieser Detailliertheit wenig sinnvoll; davon zu unterscheiden sind paarige Stecknadeleinstiche mit öligen Rändern, die an mehreren Stellen um die Zeichnung angeordnet sind (Einstiche, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Das lässt vermuten, dass die gesamte Zeichnung mit geöltem Papier abgepaust wurde. Dort, wo mehrere Einstiche dicht beieinanderliegen, könnten einzelne Elemente separat gepaust worden sein.
Abb. 7: Faltspuren
Digitale Konstruktion unter Hervorhebung ehemaliger horizontaler Faltungen (UVR-Bild, heute fehlende Ecken digital ergänzt)
Foto: Annette T. Keller artIMAGING, Bearbeitung: Irene Brückle und Maria KrämerAbb. 8: Überblendung
IX 5159-35-46Zeichnung (digital halbtransparent rot gefärbt) überblendet mit der Radierung (digital halbtransparent grün gefärbt); blau markiert: Position der Plattenränder der Radierung (Linien) und braunschwarze Spuren vermutlich von Druckplattenkanten auf der Zeichnung (Pfeile, und Detail o.r., UVR)
Foto: Annette T. Keller artIMAGING, Bearbeitung: Irene Brückle und Maria KrämerAuffällig sind die zwei starken horizontalen Faltspuren (Streiflicht, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt), wobei die mittig im Blatt liegende zusätzlich eine historische Montierung markiert (Durchlicht, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Die Faltspuren rahmen den Abschnitt mit den Delfinen in der dritten Ebene des Kandelabers ein. Entlang der Faltspuren treten bräunliche Griffspuren auf, die aber teils mit der Faltkante enden ohne sie zu überlappen (UVR, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Diese Fingerabdrücke sprechen dafür, dass die Zeichnung in einem Stadium der Arbeit in Segmenten bearbeitet und zu diesem Zweck zeitweise abschnittsweise gefaltet wurde (Abb. 7). Dass die Fingerabdrücke sich so deutlich braunfarbig abzeichnen, lässt vermuten, dass jemand im Zuge der Arbeit an oder mit der Zeichnung gleichzeitig andere Werkstattprozesse vorantrieb, möglicherweise in Zusammenhang mit Druckvorbereitungen. Auch in Zusammenhang mit dieser Überlegung lässt sich vermuten, dass die Zeichnung mit einer – formatpassenden und vielleicht ihr zugehörigen – Druckplatte in Kontakt gebracht wurde. Indiz dafür sind einige schmale Streifen einer braunschwarzen, offensichtlich bindemittelreichen Substanz entlang der Randbereiche, die wahrscheinlich von der Kante einer mit Firnisresten bedeckten Druckplatte stammen (Abb. 8). In der Ecke o.r. bilden die braune Ablagerungen einen Doppelstreifen, der wohl die Form einer abgeschrägten (gefasten) Kante einer Druckplatte abbilden mag. Die Ablagerungen suggerieren eine Nähe zu Druckprozessen, können aber sowohl während als auch nach Beendigung entsprechender Arbeiten entstanden sein. Ob die heute bestehende Randfaltung des Papiers möglicherweise bei einem Falten des Papiers um die Druckplatte angelegt wurde, muss dahingestellt bleiben.
Maria Krämer und Irene Brückle
- Montierungshistorie
Die vertikalen Blattränder liegen im Album eingefaltet und waren in diesem Zustand schon bei einer früheren Montierung mit dem Rest des Blattes mittig horizontal gefaltet. Von dieser früheren Montierung zeugen Klebstoffrückstände und Papierreste entlang der mittigen Faltspur (Durchlicht). Die Papierreste weisen mehrere ausgerissene Heftlöcher auf, es lässt sich also annehmen, dass dieses Blatt schon vor dem Erwerb durch Weinbrenner in ein Album eingeklebt aufbewahrt worden war.
Maria Krämer und Irene Brückle
Schlagwörter
- Vasi, candelabri
- Rötel
- Giovanni Battista Piranesi
- Piranesi-Werkstatt
- Italienisches Papier
- Schwarze Kreide
- Stilistische Gruppe 11
- Kandelaber
- Papiermühle Odescalchi
- Unidentifizierter Zeichner der Piranesi-Werkstatt
- Name „Bracciano”
- Bekrönte Lilie (Beizeichen: drei Weihrauchschiffchen, Bracciano)
- IX 5159-35-46-1
- Graphit
- Newdigate-Kandelaber
- Sir Rodger Newdigate
- Ashmolean Museum
- Oxford
GND-Begriffe
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