Dieser Newdigate-Kandelaber wurde in Piranesis Stichwerk Vasi, candelabri mit zwei Tafeln dokumentiert. Die eine, (laut Katalog von 1792) bereits 1774 gedruckte Radierung zeigt den Kandelaber in perspektivischer Ansicht, wodurch seine dreidimensionale Komplexität erfahrbar wird (Abb. 2). 1776 erschien eine weitere Radierung, die den Kandelaber in Frontalansicht zeigt (Abb. 3). Der beigefügte Text beider Radierungen gibt die angebliche Fundgeschichte des Objekts wieder und erwähnt, dass der Kandelaber bereits von Sir Roger Newdigate erworben und nach England gebracht worden sei.
Abb. 2: Giovanni Battista Piranesi, Perspektivische Ansicht des Newdigate-Kandelabers, Radierung, 1774, in: Vasi, candelabri , Taf. 26, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.696CC BY-NC-SA 3.0 Abb. 3: Giovanni Battista Piranesi, Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Radierung, 1776, in: Vasi, candelabri , Taf. 25, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.696CC BY-NC-SA 3.0
Die komplexe Karlsruher Zeichnung stimmt in der frontalen Ansicht und der identischen Größe mit dem späteren zweiten Druck überein.[1] Die Korrekturen innerhalb der Zeichnung und die am Blattrand vergrößert wiederholten ornamentalen Details finden dort auch ihre Entsprechung, sie wurden im Transferprozess berücksichtigt und weisen teilweise eine mit dem Druck übereinstimmende Lichtführung auf (siehe dazu Prozesse historischer Nutzung ). Wahrscheinlich diente das Blatt daher als Vorzeichnung für die Radierung. Eine Kopie nach dem Druck ist aufgrund der schrittweise erfolgten und korrigierenden Ausarbeitung auszuschließen. Fragen werfen jedoch die zuweilen stark plastische Wiedergabe, die in die Zeichnung oder am Rand eingetragenen Zahlen, Buchstaben oder Maßangaben sowie der am linken Rand in Graphit konstruierte Grundriss auf (siehe Zeichnerischer Prozess ), wobei letzterer in der Radierung keine Verwendung fand.
Im Laufe des Karlsruher Forschungsprojekts wurde daher diskutiert, ob die Zeichnung auch als Entwurf für das Marmorstück gedient haben könnte oder erst in unmittelbarer Vorbereitung für den Druck 1775/1776 entstanden ist.[2] Diese Frage stellt sich bei nahezu allen Kandelaber- und Vasen-Zeichnungen in Karlsruhe. Doch ist solch eine Doppelfunktion überhaupt denkbar? Für beide Aufgaben dürften unterschiedliche Prämissen von Nöten gewesen sein. Leider wissen wir bislang zu wenig darüber, wie der Ideentransfer von Piranesi zu den ausführenden Bildhauern funktionierte und wie viele Freiheiten sich diese bei der Umsetzung erlauben durften. Gab es vielleicht auch Bozzetti in Ton, um Piranesis Ideen in dreidimensionalen Vorstudien zu erproben?[3] Denn wie Jacques-Guillaume Legrand (1753–1807) berichtet, fertigte Piranesi selbst „Modelle“ an, um den zuständigen Bildhauern eine Vorstellung für die nach seinen Angaben neu zu schaffenden Elemente der Marmorkompositionen zu vermitteln.[4] Womöglich handelt es sich bei den lockeren Skizzen im Taccuino B in der Bibliotheca Estense in Modena (Inv. gamma.y.06.32, fol. 9v – 14v.) um erste Entwurfsideen Piranesis für vergleichbare Marmorkompositionen.[5] Doch sind sie zu skizzenhaft, um davon ausgehend die komplexen Skulpturen zu bauen. Stattdessen könnten sie eine Grundlage für weitere Entwurfs- und Ausarbeitungsstufen gebildet haben.
Insgesamt stimmt das Karlsruher Blatt sowohl mit der Radierung als auch mit dem Marmorkandelaber ziemlich genau überein (Abb. 4).
Abb. 4: Vergleich des Newdigate-Kandelabers im Ashmolean Museum Oxford (Abb. 1) © Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg Kabierske, der gezeichneten Seitenansicht IX 5159-35-46-1 und der gedruckten Seitenansicht (Abb. 3)Dies betrifft zum Beispiel das Segment mit den Masken sowie die vereinzelten und sehr präzisen Korrekturen in Rötel, etwa die Lanzettblätter der unteren Mittelstütze oder die am Rand vergrößerten Details (Abb. 5).
Abb. 5: Vergleich verschiedener Details im Newdigate-Kandelaber: Giovanni Battista Piranesi (?) und mehrere unidentifizierte Zeichner der Piranesi Werkstatt, Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers (Ausschnitte), Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1; Ausschnitte aus der Radierung (Abb.3); Detailfotos aus dem Marmorkandelaber im Ashmolean Museum Oxford (Abb. 1) © Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg KabierskeDiese Übereinstimmen lassen vermuten, dass der Zeichner bereits den fertigen Marmorkandelaber vor sich hatte, wodurch er die ornamentalen Details so exakt zu erfassen vermochte. Diese getreue Wiedergabe diente in der Folge als Vorlage für die Radierung, in der man ebenso sehr darauf bedacht war, die Reliefwirkung des Dekors darzustellen. Skulpturale Entwurfszeichnungen weisen in der Regel Abweichungen zu dreidimensionalen Objekten auf, die aus dem Umsetzungsprozess des Bildhauers resultieren. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Die Details scheinen daher nicht aus der entwerfenden Vorstellungskraft des Künstlers entstanden zu sein, sondern aus der Anschauung einer Vorlage.
In diesem Zusammenhang ist auch der am Rand konstruierte Grundriss (Abb. 6) des Kandelabers interessant, denn dort ist nicht nur die unterste Grundfläche eingezeichnet, sondern auch jene für die Proportionen wichtigen Längen und Ebenen sind maßgleich zum Aufriss wiedergegeben (für die detaillierte Erläuterung des Grundrisses siehe Zeichnerischer Prozess ).
Abb. 6: Giovanni Battista Piranesi (?) und mehrere unidentifizierte Zeichner der Piranesi Werkstatt, Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1, farbige Kartierung von Grundriss und korrespondierenden horizontalen Längen durch Maria KrämerCC0 1.0 Der Grundriss wurde zusammen mit der Konstruktionszeichnung des Aufrisses angelegt, vermutlich ist er sogar als erstes Motiv auf das Blatt gezeichnet worden. Denn es ist naheliegend, dass daran die am bereits existenten Marmorkandelaber abgenommenen Maße heruntergerechnet wurden, um somit einen proportionsgerechten Frontalaufriss konstruieren zu können.
Hinzu kommt eine kleine Skizze in der linken oberen Blattecke. Sie gibt das Segment zwischen den Hälsen der Kraniche, unterhalb des knienden Fauns wieder, worin die Höhenmaße der einzelnen horizontalen Schichten eingetragen wurden (Abb. 7).
Abb. 7: Detailvergleich der Skizze mit Maßangaben in der linken oberen Blattecke und dem ins Reine gezeichneten Segment in der Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1CC0 1.0 Vergleicht man diese Skizze mit dem entsprechenden Element der großen Zeichnung, so erhärtet sich der Eindruck, dass sie im Zusammenhang mit der zugrundeliegenden Vorzeichnung für die Gesamtkomposition entstand (siehe Beschreibung und Komposition ). Denn in der Vorzeichnung wie auch in der Skizze ist der untere konkave Einzug dieses Elements noch gestauchter wiedergegeben. Bei der Überarbeitung der Gesamtansicht in schwarzer Kreide wurde diese Stelle etwas nach unten gestreckt. Somit könnte die Skizze dazu gedient haben, die am bereits vorhandenen Marmorkandelaber genommenen Maße zu notieren, um für die Ausführung der Frontalansicht genaue Referenzmaße vorliegen zu haben. Außerdem stimmt die Gesamtansicht geradezu „maßgeschneidert“ mit der Radierung übereinstimmt, weshalb eine vorangegangene Funktion als Kompositionsentwurf für das Marmorobjekt fragwürdig erscheint.
An dieser Stelle muss noch auf eine großformatige Detailzeichnung (IX 5159-35-44-1 ) hingewiesen werden, die das kapitellartige Segment des Kandelabers mit Delphinen und Widderköpfen ausschnittsweise wiederholt und zwei Albumblätter zuvor in den Klebeband eingefügt worden ist. Sie gibt die in der Gesamtansicht fehlende linke Hälfte des Segments mit Muschel und vegetabilen Ornamenten wieder, die zwischen den plastischen Delphinen und Widderköpfen tieferliegend eingefügt ist (Abb. 8).
Abb. 8: Unidentifizierter Zeichner der Piranesi Werkstatt, Segment aus dem Newdigate-Kandelaber, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-44-1 und der Position dieses Motifs innerhalb der Seitenansicht des Kandelabers, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1CC0 1.0 In der Detailzeichnung wurden Delphin und Widderkopf ausgespart und sind dort, wo sie eigentlich mit dem Relief verbunden wären, nur als schemenhafte Freiflächen zu erahnen. Überraschend ist, mit welch hoher Präzision und Plastizität das Relief in schwarzer Kreide herausgearbeitet wurde. Bis auf wenige Millimeter Abweichung, die auch aus Messproblem am dreidimensionalen Marmorobjekt resultieren können, entspricht die Zeichnung der tatsächlichen Größe dieses Segments, das auf allen drei Seiten des Marmorkandelabers gleichartig gestaltet ist (Abb. 9).[6]
Abb. 9: Unidentifizierter Zeichner der Piranesi Werkstatt, Segment aus dem Newdigate-Kandelaber, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-44-1 und das korrespondierende Element im Marmorkandelaber, Ashmolean Museum Oxford (Abb. 1) © Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg KabierskeAuch hier stellt sich die Frage, ob diese sogar quadrierte Zeichnung als Vorlage für einen Bildhauer gedient haben könnte. Das Marmorstück weist einige Bruchstellen auf, die in der Zeichnung nicht wiedergegeben sind. Diese könnten allerdings auch nach Fertigstellung dem Relief zugefügt worden sein, um es im Sinne von Piranesis Kunstauffassung altertümlich, „restauriert“ wirken zu lassen. Andererseits könnte die Detailzeichnung auch als zusätzliche „Hilfestellung“ für die Radierung gedient haben: Denn in der Gesamtansicht des Kandelabers ist das ornamentale Relief an dieser Stelle links der Symmetrieachse ausgespart und auf der rechten Seite zudem weniger differenziert wiedergegeben. Somit dürfte eine exakte Wiederholung dieses Ausschnitts notwendig gewesen sein, um für die Übertragung auf die Druckplatte eine genaue Vorlage dieses komplexen Segments vorliegen zu haben. Die Quadrierung könnte dazu genutzt worden sein, die Zeichnung maßstabsgerecht zu verkleinern. Der Vergleich mit der Radierung bestätigt diese Überlegung: Sie weist in Darstellung und auch weitgehend in der Lichtführung eine direkte Übereinstimmung mit der Detailzeichnung (IX 5159-35-44-1 ) auf, während dieser Ausschnitt in der gezeichneten Gesamtansicht (IX 5159-35-46-1) hingegen nicht alle Elemente für eine schlüssige Übertragung liefert (Abb. 10).
Abb. 10: Detailvergleich des Segments aus dem Newdigate-Kandelaber, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-44-1, der Radierung (Abb. 3) und der gezeichneten Seitenansicht, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-46-1CC0 1.0 Und noch ein Indiz unterstreicht diesen Zusammenhang: Das die Mittelachse markierende florale Ornament, das an eine Abakusblume erinnert und aus dessen Stengel je eine seitlich abzweigende Blatt- und Blütenranke wächst, stimmt in Detailzeichnung und Radierung exakt überein. In der Marmorversion hingegen zeigen sich an allen drei Seiten des Kandelabers kleine Abweichungen. Das rechte Blatt des abzweigenden Stengels ist dort mit der darüber liegenden Rankenblüte verwachsen, so, wie es in der Detailzeichnung am rechten Blattrand korrigierend wiederholt wurde (Abb. 11).
Abb. 11: Detailvergleich der vegetabilen Ranken des Newdigate-Kandelabers, ohne verwachsenem Blatt (roter Kreis), mit schnörkelförmig verwachsenem Blatt (grüner Kreis) links oben: Unidentifizierter Zeichner der Piranesi Werkstatt, Segment aus dem Newdigate-Kandelaber, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-44-1; links unten: Seitenansicht des Newdigate-Kandelabers, Radierung (Abb. 3); rechts: Newdigate-Kandelaber aus Marmor im Ashmolean Museum Oxford (Abb. 1) © Courtesy of the Ashmolean Museum, University of Oxford, Foto: Georg Kabierske, Ansichten aller drei SeitenTrotzdem hat man in die Radierung die vereinfachte Darstellung übernommen, da sie vielleicht etwas klarer und eindeutiger strukturiert ist. Grundsätzlich stimmen Marmorversion, Zeichnung und Radierung also weitgehend überein. Ähnlich wie beim Rhyton-Kandelaber (IX 5159-36-30-1 ) gezeigt werden konnte, weichen auch bei den graphischen Wiedergaben des Newdigate-Kandelabers manche Details, die in Zeichnung und Radierung übereinstimmen, von der Bildhauerarbeit ab. Dies ist insofern bemerkenswert, da es sich dabei um eine bewusste Entscheidung in Vorbereitung der Radierung handelt. Man kann nur spekulieren, ob dahinter eine nachträgliche Redaktion von Piranesis eigenem Werk steht und ob er nach Fertigstellung der Marmorversion eventuell noch Verbesserungen an der Detailgestaltung vornehmen wollte. Aus heutiger Perspektive scheinen diese Details jedoch meist unbedeutend. Doch womöglich strebte Piranesi nach einer weiteren Perfektion in seinen Radierungen, und für ihn waren sie das finale Kunstwerk.[7]
Hervorzuheben ist schließlich die Tatsache, dass alle ausgearbeiteten Zeichnungen der großen Marmorkompositionen in Karlsruhe (IX 5159-35-39-1 , IX 5159-35-40-1 , IX 5159-35-45-1 , IX 5159-35-46-1 , IX 5159-35-47-1 , IX 5159-36-30-1 ) die Stücke ausschließlich in dem Blickwinkel wiedergeben, wie sie auch in den Vasi, candelabri dargestellt worden sind.
Vieles spricht also dafür, dass die beiden Newdigate-Kandelaber-Zeichnungen in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe in erster Linie dazu gedient zu haben, den bereits vorhandenen Marmorkandelaber als Vorlage für die Radierung zu erfassen. Eine Ausnahme könnten die Notizen auf der Rückseite der Medici-Ranke darstellen (IX 5159-35-10-1v ), in der möglicherweise Elemente für die Ausführung des Marmorkandelabers aufgelistet werden.[8] Weitere Indizien wie Spuren einer Ölpause oder Druckplatte, die eine Nutzung der Zeichnung IX 5159-35-46-1 im Kontext der Radierung nahelegen, sind im Abschnitt Prozesse historischer Nutzung aufgeführt. Andererseits kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die Gesamtansicht und die Detailzeichnung nicht auch eine Nutzung für den Bildhauer erfüllten. Problematisch sind dabei jene vergleichbar konstruierten, wenn auch kleineren und nicht in eine Radierung umgesetzten Urnen-Zeichnungen IX 5159-35-21-3 und IX 5159-36-32-3 . Waren sie auch zur Publikation vorgesehen oder handelt es sich stattdessen wirklich um Restaurierungsprojekte? Anhand der bislang bekannten Zeichnungen und Quellen scheint dies jedoch kaum nachvollziehbar. Es muss davon ausgegangen werden, dass für den Newdigate-Kandelaber weitere Zeichnungen sowohl als Vorlage für die Radierung als auch für die plastische Ausführung angefertigt worden sind. Da uns heute nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem Zeichnungsmaterial der Piranesi-Werkstatt vorliegt, können dementsprechend nicht alle Arbeitsvorgänge im Detail nachvollzogen werden.
Festzuhalten bleibt, dass es für die bereits 1774 gedruckte perspektivische Ansicht des Kandelabers (siehe Abb. 2 ) auch mindestens eine Zeichnung gegeben haben muss. Denkbar wäre auch, dass die Karlsruher Zeichnungen bereits damals entstanden, die Radierung jedoch erst zwei Jahre später gedruckt wurde. Der Verkauf des Marmorkandelabers nach England 1775 oder spätestens die Drucklegen der zugehörigen Radierung 1776 markieren einen terminus ante quem für die Entstehung beider Karlsruher Zeichnungen des Newdigate-Kandelabers.
Georg Kabierske
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