Helm, Schild, Speer und Lanze kennzeichnen diese weibliche Figur auf einem Thron als Dea Roma, die vergöttlichte Personifikation der Stadt Rom. Als Vorlage diente ein Schlussstein des Konstantinsbogens, den der Zeichner in Frontal- und in Seitenansicht wiedergab. Der Konstantinsbogen, im Jahr 315 n. Chr. geweiht, ist der größte der drei erhaltenen Ehrenbögen im Stadtzentrum Roms und steht zwischen dem Colosseum und dem Forum Romanum. Unter ihm hatte Kaiser Konstantin seinen symbolischen Einzug in die Ewige Stadt vollzogen, wobei die wehrhafte Göttin ihn von oben mit der Statuette der Siegesgöttin in der Hand begrüßte.
Volutenkonsole mit Dea Roma vom nördlichen Haupttor des Konstantinbogens in Rom in Frontal- und Seitenansicht
Werkdaten
Künstler
Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736-1793), Gruppe 4
Ort und Datierung
Rom, vermutlich 1. Hälfte der 1760er Jahre, in jedem Fall vor 1768
Abmessungen (Blatt)
338 x 555 mm
Inventarnummer
IX 5159-35-1-1
- Zeichenmedien
Schwarze Kreide über Konstruktionslinien und Vorzeichnung in schwarzer Kreide; weitere Informationen siehe: Merkmale der Zeichenmedien
- Beschriftungen
Keine
- Literatur
Georg Kabierske: Weinbrenner und Piranesi. Zur Neubewertung von zwei Grafikalben aus dem Besitz Friedrich Weinbrenners in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, in: Brigitte Baumstark/Joachim Kleinmanns/Ursula Merkel (Hg.): Friedrich Weinbrenner, 1766–1826: Architektur und Städtebau des Klassizismus, Ausst. Kat. Karlsruhe, Städtische Galerie und Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Petersberg 2015 (2. Aufl.), S. 75–87, hier S. 84, Abb. 16; Georg Kabierske: Römische Lehrjahre. Zum Zeichnen und Sammeln von Bauornamentik in Rom in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Universität München 2020, Masterarbeit (unpubliziert), S. 51f., 6. Fallstudie, Abb. B; Stefan Morét: Piranesi's Graphic Archive: The Use of Ornament Drawings in the Design Process of the Diverse maniere, in: Maria Cristina Misiti/Giovanna Scaloni (Hg.): Giambattista Piranesi. Sognare il Sogno Impossibile, Ausst. Kat. Rom, Istituto Centrale per la Grafica, 2021. https://www.piranesimultimediale.it/piranesi/en/chapter-3/Piranesi-s-graphic-archive-The-use-of-ornament-drawings-in-the-design-process-of-the-Diverse-maniere/39
- Hadernpapier
Vergé, italienische Herstellung (vermutlich in den Marken oder Umbrien, Pioraco oder Foligno); Zeichnung vermutlich auf Filzseite; weitere Informationen siehe: Merkmale des Papiers
- Rückseite
Keine erkennbaren Hinweise auf eine rückseitige Bezeichnung oder Beschriftung
Das Werk im Detail
- Bildgegenstand und ikonographische Bedeutung
Wiedergegeben ist die hier vom Zeichner stark idealisierte Volutenkonsole, die sich als Schlussstein ursprünglich im Mittelscheitel des nördlichen Haupttors des Konstantinsbogens befand (Abb. 1 und 2).
Abb. 1: Rom, Konstantinsbogen, 312 n.Chr., axiales Haupttor mit Schlussstein, Ansicht von Norden
Foto: Bénédicte Maronnie, CC0 1.0Abb. 2: Rom, Konstantinsbogen, 312 n.Chr., axiales Haupttor mit Schlussstein, seitliche Ansicht von Norden, konstantinisch
Foto: Bénédicte Maronnie, CC0 1.0Schon zu Zeiten Piranesis war sie nur noch äußerst fragmentarisch sichtbar beziehungsweise wahrnehmbar, wie sich nicht zuletzt anhand einer reizvollen Radierung Piranesis aus dem Jahre 1756 belegen lässt (Abb. 3).[1]
Abb. 3: Giovanni Battista Piranesi, Ansicht des Konstantinsbogens, Radierung, in: Le Antichità Romane, Bd. 1, Rom 1756, Taf. XXXVI, Fig. II, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.876/1
CC BY-NC-SA 3.0Christoph Frank
Einzelnachweis
1. Giovanni Battista Piranesi: Le Antichità Romane, Bd. 1, Rom 1756 (Cicognara Copy in BAV), Taf. XXXVI, Abb. II (F214; C36, fig. 2); John Wilton-Ely: Giovanni Battista Piranesi. The Complete Etchings, 2 Bde., San Francisco 1994, Nr. 349.
- Beschreibung der Komposition
Zu sehen ist aus einer Frontal- und Seitenansicht ein aufwändig gestaltetes Bauelement, das aus skulptural-figurativen sowie ornamentalen, maßgeblich biomorphen Bestandteilen besteht. Eine weibliche Figur mit einer Reihe von Attributen wie Helm, Schild und Speer sitzt auf einem Thron. Dieser steht auf einer, am unteren Rand überkragenden Akanthusvolute. Hinter dem Thron wird der Schlussstein sichtbar, der die eigentliche Funktion dieses Bauelementes bezeichnet und volutenhaft ausgeschlagen gebildet ist. Aus einem Vergleich von Frontal- und Seitenansicht ergeben sich kompositionelle Widersprüche in der Darstellung wie beispielsweise im Fall des konkav gewölbten Throns. Dessen Wölbung ist in der Seitenansicht verloren gegangen, wodurch die dargestellte Dreidimensionalität dieses komplexen Bauelements reduziert wird. Zudem ist ein geringer Proportionssprung beider Darstellungen bemerkbar: Ihre Abstände zur oberen Konstruktionslinie unterscheiden sich, wobei die Figur der Seitenansicht stärker über diese Linie hinaustritt und die Speerspitze deutlich länger ist. Diese Divergenzen müssen als Indikatoren einer eingeschränkten Empirie – also einer nur bedingten Wahrhaftigkeit der zeichnerischen Wiedergabe gegenüber dem abgebildeten Gegenstand – gewertet werden, aus denen kompositionelle Idealisierungsansätze deutlich werden.
Christoph Frank
- Einordnung in das Gesamtwerk Piranesis
Schon Ende der 1740er und zu Anfang der 1750er Jahre setzte sich Giovanni Battista Piranesi intensiv mit dem Konstantinsbogen auseinander, wie aus der Erstauflage seines einflussreichen, vierbändigen archäologischen Opus Antichità Romane von 1756 detailliert hervorgeht.[1] Sowohl Piranesis antiquarische Einordnung als auch ein ihm eigener visus intellectus – im Sinne eines begreifenden Sehens – belegen dies auf eindrückliche Weise. Dieser künstlerische Ansatz setzt eine möglichst genaue, detailgetreue und auch antiquarisch korrekte, oftmals großformatige Vorlage als Arbeitsgrundlage voraus, wie sie an diesem Beispiel nachvollzogen werden kann. Erst so konnte der gewählte Gegenstand im Kleinen wie im Großen glaubwürdig und kenntnisreich im Detail verändert werden. Dieser Arbeitsprozess erklärt die Verwendung solcher Zeichnungen, bisweilen auch anderer und früherer Künstler, in der kompositionellen Praxis Piranesis, wobei die Blätter nicht zwangsläufig in einem direkten Verhältnis zu seiner Werkstatt gestanden haben müssen. Ihre Existenz ist im Werkstattkontext Piranesis in einer späteren schriftlichen Überlieferung eindeutig belegt.[2] Dieser Umstand erklärt auch den oftmals empfundenen, aber nur scheinbaren Gegensatz zwischen dem, was man als Piranesis Manier bezeichnet hat, und den Inhalten der Karlsruher Alben, die zumeist als grundlegende und weithin vorbereitende Arbeitsmaterialen im Werkstattprozess eingestuft werden müssen. Ihnen kommt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, da sich derartige Materialien in ihrer künstlerischen wie kunsttechnologischen Bedeutung und mit Bezug auf einen Künstler dieses Ranges nur äußerst selten erhalten haben und im vorliegenden Fall grundlegende Einsichten in die Kompositionspraxis Piranesis erstmalig ermöglichen.
Zu Anfang der 1760er Jahre vollzog sich in Piranesis vielfältigen verlegerischen und antiquarischen Unternehmungen ein grundlegender Wandel. Begleitend zur Produktion von Graphiken befasste er sich mehr und mehr auch mit Fragen des Designs wie etwa der Produktion von Marmorkaminen oder Möbeln, mit dem Verkauf von antiken Marmorstatuen und Bauelementen sowie marmornen Neuschöpfungen all’antica. Viele dieser durch die Hände Giovanni Battista und Francesco Piranesis gegangenen Objekte fanden ihren Niederschlag in von ihnen publizierten Radierungen, die sie einzeln, aber vor allem auch im Konvolut vertrieben. Die großformatigen Blätter bzw. Folianten entsprachen einer hoch luxuriösen Variante eines Verkaufskataloges. Diese Publikationen konnten darüber hinaus vertriebsstrategische wie stilbildende Funktionen haben, die weit über das Verhältnis von Nachfrage und Angebot hinausreichten. In diesem Zusammenhang scheint sich auch Piranesis erneuertes Interesse an antiken architektonischen Überlieferungen wie jene des Konstantinsbogens bzw. an einzelnen seiner spezifischen Bauelemente wie der hier zu Diskussion gestellten Volutenkonsole erklären. Gleichzeitig mag dieser Strategiewechsel begründen, warum in den Karlsruher Alben so viele Zeichnungen Vorbildcharakter haben und gleichzeitig mehrheitlich konkrete kontextuelle Bezüge zu Piranesis Werk der 1760er und 1770er Jahren aufweisen. So ist die Zeichnung einer Volutenkonsole des Konstantinsbogens im Kontext des 1769 veröffentlichten Kaminwerks sowie die 1778, im Todesjahr des Künstlers vorgelegte, schlussendlich zwei große Folio-Bände umfassende Publikation der Vasi, candelabri zu verorten.
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Einzelnachweis
1. John Wilton-Ely: Giovanni Battista Piranesi. The Complete Etchings, 2 Bde., San Francisco 1994, Nr. 308, S. 38f., hier bezüglich Piranesis antiquarischer Einschätzung des Bauwerks und seiner Inschriften, wie auch weiterhin Taf. XXXVI, Abb. II. In der Radierung ist die Volutenkonsole nur kursorisch in ihrem zerstörten Zustand wiedergegeben. Siehe außerdem den zeitgenössischen Kommentar zu Piranesis Ausführungen in BAV, Ms. Lat. 8091, erstmals herausgegeben und kommentiert von Giulio Cressidi: Un manoscritto derivato dalle „Antichità“ del Piranesi, Rom 1975, hier Nr. 225, S. 250f.
2. Siehe Antoine de Montaiglon/Jules Guiffrey (Hg.): Correspondance des Directeurs de l’Académie de France à Rome avec les surintendants des bâtiments, Bd. XVII (1797–1804), Paris 1908, Nr. 9842, S. 270–274.
- Ableitung, Rezeption und Dissemination
Das Interesse an diesem spezifischen Schlussstein mag bei den Piranesis wie auch bei vielen anderen Zeitgenossen durch seine Bedeutung als zentrales Element einer in jeder Hinsicht beeindruckenden Triumpharchitekturbegründet gewesen sein, unter dem der Imperator seinen symbolischen Einzug in die Ewige Stadt im Jahre 312 n. Chr. vollzogen hatte. Am Konstantinsbogen, gelegen zwischen dem Colosseum und dem Forum Romanum, sollte den Kaiser eine wehrhafte Personifikation Roms (Schild, Speer, Federhelm und zudem eine Viktoria-Statuette in der rechten Hand) begrüßen, die nicht zuletzt als ein Verweis auf die zeitliche Begrenzung der allumfassenden kaiserlichen politischen Herrschaftsansprüche zu werten war. Denn lediglich die Hauptstadt des Imperiums selbst konnte einen Anspruch auf eine gewisse Ewigkeit erheben, wenngleich zu jener Zeit schon längst ihr unaufhaltsamer Niedergang und Verfall entschieden war. Vor dem Hintergrund der Entwicklung einer neo-klassizistischen, die man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend als architecture parlante, also „sprechende“ Architektur bezeichnete, kam dem Symbolwert solcher Bauelemente eine erneuerte und nahezu ungebrochene Bedeutung im ästhetischen wie politischen Auftritt jener Zeit zu. Einmal mehr sollte sich Piranesis vielfältiges Angebot nicht nur als zeitgemäß, sondern in dieser Experimentalphase des europäischen Historismus als wegweisend herausstellen.
Ein intensives antiquarisches Interesse wie auch eine zeichnerische Annäherung an den Konstantinsbogen sind schon seit der Renaissance belegt. Wie es bei einem derart bedeutenden Bauwerk zu erwarten ist, war die Auseinandersetzung mit seiner Architektur und ihrer skulpturalen Programmatik sehr umfassend und fand ihren Niederschlag im (oftmals auch architektonischen) Werk von Künstlern wie Raffael, Baldassare Peruzzi, Giuliano da Sangallo, Sebastiano Serlio, oder auch Maarten van Heemskerck, um nur einige zu nennen.[1]
Parallel dazu finden sich in frühneuzeitlichen Architekturtraktaten zunehmend antiquarische Erörterungen wie auch zeichnerische Aufnahmen des Konstantinsbogens. Diese Entwicklung, auf die schlussendlich die zunehmende Empirisierung oder Objektivierung der Architektur- und Ornamentdarstellung nach antiken Vorbildern zurückzuführen ist, findet ihren nahezu epochalen Niederschlag in jenem umfangreichen, im Folio-Format veröffentlichten und aufwändig illustrierten Traktat Les édifices antiques de Rome, dessinés et mesurés très exactement (Die antiken Gebäude von Rom, gezeichnet und sehr genau vermessen [!]) des französischen Architekturtheoretikers Antoine Babuty Desgodets (auch Desgodetz, 1653–1728), das 1682 mit königlicher Unterstützung bei Coignard in Paris erschien.[2]
Aus der im Institut de France verwahrten, im Verhältnis zum Karlsruher Album nicht maßstabgetreuen Zeichnung derselben Volutenkonsole von Desgodets geht zweierlei hervor:[3] Zum einen hat Desgodets allem Anschein nach die Zeichnung Anfang der 1680er Jahre vor dem Original angefertigt; zum anderen dokumentiert die Zeichnung den fragmentierten Zustand des damals noch vorhandenen Bauelements und unterscheidet sich daher von späteren Vervollständigungen oder Idealisierungen wie im hier vorliegenden Falle Lhuilliers.
Desgodets widmet dem Konstantinsbogen in seinen 1682 erstmalig veröffentlichten römischen Aufmaßen und diesbezüglichen Dokumentationen einen längeren Eintrag.[4] Bemerkenswert ist der Transfer der Darstellung der fragmentierten Sitzstatue von der Zeichnung in das druckgraphische Medium, denn sie wurde für die Radierung scheinbar erstmalig idealisierend teilvervollständigt (Abb. 4): Fortan hält sie in der Hand des rechten restaurierten Armes ein Speerfragment, während als Symbol ihrer Herrschaft in ihrer Linken eine Sphäre liegt. Zudem trägt sie einen Helm, dessen Bausch wohl aus Metall sein soll. Dies sind – neben der erheblichen Maßstabsdifferenz – sehr wesentliche Unterschiede im Vergleich mit der Karlsruher Zeichnung.
Abb. 4: Antoine Desgodetz, Details vom Konstantinsbogen, in: Les édifices antiques de Rome, Paris 1682, Taf. S. 245, Paris, Bibliothèque de l'Institut national d'histoire de l'art, collections Jacques Doucet, NUM FOL RES 633
CC0 1.0Desgodets’ Traktat war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch weiterhin ein erheblicher Erfolg beschieden und blieb zudem ein weitreichender Grundlagentext in der Architektenausbildung. Gegen Mitte des Jahrhunderts war der Foliant daher äußerst begehrt und galt geradezu als „unauffindbar“, wie dem bislang nur in Auszügen veröffentlichten Briefwechsel der aus Schottland stammenden Architekten Robert und James Adam entnommen werden kann.[5] So überrascht es nicht, dass sich diese beiden Architekten, die während ihres Romaufenthaltes (1755–1762) in einer sehr engen Beziehung zu Giovanni Battista Piranesi gestanden hatten, streckenweise um eine überarbeitete Neuauflage von Desgodets’ Traktat bemühten. Von ihr erhofften sie sich sowohl eine Steigerung ihrer Reputation bzw. ihres sozialen Kapitals als auch nicht unerhebliche Gewinne. Damit waren sie nicht die einzigen. 1777 erschien eine weitere französische Neuauflage in Paris und zwischen 1771 und 1795 wurde in London vom Architekten George Marshall eine zweisprachige englisch-französische Ausgabe herausgegeben. Beide belegen das nachhaltige Interesse an diesem Werk.[6]
Auch einer der prominentesten Ornamentzeichner und Zeichenlehrer dieses bauornamentalen Genres in Europa, der aus Paris stammende Charles-Louis Clérisseau (1722–1820), orientierte sich an Desgodets.[7] Clérisseau hielt sich von 1749 bis 1767 in Rom auf und beaufsichtigte dort in straffer Organisation zeitweilig den Zeichensaal der schottischen Architekten Adam, mit denen er bisweilen in einem Spannungs- und Rivalitätsverhältnis lebte.[8] In diesem Zusammenhang sprach Robert Adam in einem Brief an seine Schwester Janet vom 30. März 1757 davon, wie er und Clérisseau Ornament- und Architekturzeichner regelrecht „gezüchtet“ hätten.[9] Zudem stand Clérisseau wie auch die Gebrüder Adam in einem engen künstlerischen und bisweilen freundschaftlichen Austausch mit Piranesi. Umfangreiche Teile seines bislang weitgehend unbekannten und unterschätzten zeichnerischen Nachlasses befinden sich seit deren Erwerbung durch Katharina II. 1778/80 in St. Petersburg (Ermitage), ein bedeutender, von Valerij Ševčenko umfassend bearbeiteter Bestand.[10] In diesem Nachlass von Clérisseau zeichnen sich weitere Verbindungen zu den Inhalten der beiden Karlsruher Alben ab, vergleichbar mit zwei vom Christoph Frank und Georg Kabierske identifizierten lavierten Federzeichnungen, die sich im Cooper-Hewitt Museum in New York befinden und die Teil einer kleinen Gruppe von Clérisseau zuzuschreibenden Zeichnungen sind. Hierbei handelt es sich um zwei weitere Darstellungen der Volutenkonsole vom Konstantinsbogen (Abb. 5 und 6), die in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre entstanden sein könnten und engste Bezüge zu der hier diskutierten Zeichnung IX 5159-35-1-1 aufweisen.
Abb. 5: Anonym, Konsole vom Konstantinsbogen in Frontalansicht (Rekonstruktion), Feder, braun laviert, New York, Cooper Hewitt Museum, Museum purchase through gift of various donors and from Eleanor G. Hewitt Fund, Inv. 1938-88-7312 Abb 6: Anonym, Konsole vom Konstantinsbogen in Seitenansicht (Rekonstruktion), 1750er Jahre, New York, Cooper Hewitt Museum, Museum purchase through gift of various donors and from Eleanor G. Hewitt Fund, Inv. 1938-88-7333 Einen engen künstlerischen Austausch zwischen Lhuillier und Clérisseau vorausgesetzt, scheint die Vermutung naheliegend, dass Lhuillier mit dem Karlsruher Blatt die Federzeichnung seines Lehrers in das Medium der schwarzen Kreide übersetzte, was weitere Aufschlüsse über eine mögliche Datierung erlaubt.
Das Interesse Lhuillers an dieser Art von antikem Bauelement ist auch andernorts überliefert. Dies kann durch einen von Christoph Frank in der Zeichnungssammlung des aus Besançon stammenden Architekten Pierre-Adrien Pâris (1745–1819) identifizierten Abklatsch nach einer Rötelzeichnung Lhuilliers belegt werden (Abb. 7). Von diesem hat sich zudem eine seitenidentische Nachzeichnung anderer Hand in Paris erhalten, die mit großer Wahrscheinlichkeit dem Architekten Pierre-Joseph Antoine (1730–1814) zuzuschreiben ist und daher auf die Zeit unmittelbar vor 1763 zu datieren wäre (Abb. 8).[11]
Abb. 7: Nicolas François Daniel Lhuillier oder Kopie nach Lhuillier, Schlussstein der Ostfassade (Vitus) des Titusbogens (Rekonstruktion), frühe 1760er Jahre, Rötelabklatsch (?), 289 x 294 mm
© Bibliothèque municipale de Besançon, Sammlung Pierre-Adrien Pâris, vol. 454, n° 48Abb. 8: Kopie nach François Daniel Lhuillier, Schlussstein der Ostfassade (Vitus) des Titusbogens (Rekonstruktion), frühe 1760er Jahre, Rötel, Paris, INHA, collection Jacques Doucet, Ms. 307, fol. 22
CC0 1.0Der Abklatsch und dessen Nachzeichnung haben die Volutenkonsole von der Ostseite des Titusbogens zum Gegenstand. Sowohl die Personalkonstellation Lhuillier-Clérisseau-Antoine-Pâris als auch das spezifische Interesse an diesem antiken Bauornament verweisen auf die Zeichnungspraxis an der Académie de France in Rom während der späten 1750er und frühen 1760er Jahre. Piranesis enges Verhältnis zur Académie und einiger ihrer Romstipendiaten, darunter auch Hubert Robert, ist durch Legrands Biografie belegt.[12]
Ein Vergleich zwischen den beiden Blättern in Karlsruhe und Besançon ist zudem in einer weiteren Hinsicht aufschlussreich: Denn die exakte, verzerrungsfreie Frontal- und Seitenansicht der Karlsruher Zeichnung lässt vermuten, dass sie entweder im Rückgriff auf Desgodets, oder unter Umständen sogar unter Einsatz eines der präzisen Aufmessung dienenden Gerüstes zustande gekommen ist. Das Blatt in Besançon legt durch seine deutliche Ansicht von unten rechts (bzw. links, da es sich um einen Abklatsch handelt) dagegen den Rückschluss nahe, dass der Zeichner sie über einige Distanz, vermutlich unterhalb des Schlussteins auf dem Boden stehend, gezeichnet haben könnte. Wie im Fall des Karlsruher Blattes ist die Wiedergabe des Bauelements in manchen Details vom Zeichner vervollständigt bzw. idealisiert worden. Es handelt sich also nur mit Einschränkungen um eine empirisch korrekte Wiedergabe.
Christoph Frank
Einzelnachweis
1. Phyllis Pray Bober/Ruth Rubinstein: Renaissance Artists & Antique Sculpture. A Handbook of Sources, London/Turnhout 2010 (2. überarb. Aufl.), Nr. 182, S. 232–234.
2. Antoine Babuty Desgodets: Les édifices antiques de Rome, dessinés et mesurés très exactement, Paris 1682 (ETH Copy). Desgodets befand sich ab 1674 auf Geheiß von Colbert in Rom; siehe weiterführend: Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architektur-Theorie. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2004 (5. Aufl.), S. 153–155; und vor allem Louis Cellauro/Gilbert Richaud: Antoine Desgodets. Gli Edifici di Roma, Rom, 2008, das ein komplettes Faksimile von Desgodets’ Handschrift (Paris, Institut de France, Ms. 2718) beinhaltet; sowie zur allgemeinen Bedeutung: John Nicholas: The Art of the Appraisal: Measuring, Evaluating, and Valuing Architecture in Modern Europe, in: Memoirs of the American Academy in Rome, Bd. 54, 2009, S. 201–241.
3. Paris, Institut de France, Ms. 2718, Bl. 98; hier vom Autor beschriftet: „Profil et fasse (sic) de la clef du grand arc“ unter Wiedergabe genauer Maßangaben, die der Autor vermutlich unter Anlegung eines Gerüstes vor Ort direkt erlangen konnte, wenngleich im späteren 18. Jahrhundert bisweilen die durchgängige Genauigkeit seiner Maßangaben durchaus in Zweifel gezogen wurde. In der Frontal- wie Seitenansicht der Konsole wird ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt die sitzende Gewandstatue der Dea Roma noch über ihren Kopf und den linken Arm verfügte. Hingegen fehlten schon ihr rechter Arm, ihr Helm sowie ihre Attribute. Heute ist nur noch der untere Teil des Torsos erkennbar.
4. Antoine Babuty Desgodets: Les édifices antiques de Rome, dessinés et mesurés très exactement, Paris 1682, Kap. XX, Taf. I–IX, S. 225–245, hier S. 244, bzw. Taf. IX, S. 245.
5. Wolfgang Herrmann : Antoine Desgodets and the Académie Royale d'Architecture, in: The Art Bulletin 40, 1958, S. 23–53; Edinburgh, National Records of Scotland, GD 18/4777, Robert Adam aus Rom an seinen Bruder James Adam, 4. Juli 1755; erstmals in abweichender und gekürzter Form veröffentlicht in: John Fleming: Robert Adam and His Circle in Edinburgh & Rome, London 1962 (1978), S. 170. Unter der Leitung von Adriano Aymonino (University of Buckingham) wird gegenwärtig eine Online-Edition der gesamten Korrespondenz für das Sir John Soane Museum in London vorbereitet.
6. Siehe Antoine Babuty Desgodets: Les édifices antiques de Rome, dessinés et mesurés très exactement sur les lieux, par feu M. Desgodetz, architecte du roi, nouvelle édition, Paris 1777 (ETH Copy), Taf. I–IX, S. 100–108, hier Taf. IX, S. 108 (Wiederabdruck der Platten von 1682). Außerdem: Ders.: The Ancient Buildings of Rome by Antony Desgodetz Architect, hg. von George Marshall, 2 Bde., London 1771–1795 (ECCO Copy), Bd. 2, 1795, S. 31–39, Taf. I–IX, hier S. 37f., Taf. IX.
7. Siehe einführend: Thomas J. McCormick: Charles-Louis Clérisseau and the Genesis of Neo-Classicism, Cambridge Mass./London 1990; sowie Charles-Louis Clérisseau (1721–1820). Dessins du musée de l’Ermitage de Saint-Pétersbourg, Ausst. Kat. Paris, Louvre, Paris 1995.
8. John Fleming: Robert Adam and His Circle in Edinburgh & Rome, London 1962 (1978), S. 135 u.a.a.O.
8. Edinburgh, National Records of Scotland, GD18/4833.
9. Siehe zuletzt: Valerij Georgievič Ševčenko: Risunki Klerisso v Musee Akademii chudožestva, in: Trudy Gosudarstvennogo Ėrmitaža 96, 2018, S. 103–121, 442.
10. Besançon, Bibliothèque municipale, Collection Pierre-Adrien Pâris, Vol. 454, n° 48, 289 x 294 mm, hier als „Guerrier, fragment de monument bezeichnet“ und in die Jahre 1700–1800 datiert, (zuletzt aufgerufen am 24.01.2021). Vgl. mit Antoine Babuty Desgodets: Les édifices antiques de Rome, dessinés et mesurés très exactement, Paris 1682, Kap. XVIII, S. 213, Taf. IX, die wenngleich sie zu besprochenen Zeichnung geringe Unterschiede aufweist, dennoch dasselbe Bauelement vom Titusbogen zum Gegenstand hat. Zudem hat sich in einem der beiden Zeichnungsalben des Architekten Pierre-Joseph Antoine, die beide zahlreiche Kopien der römischen Zeitgenossenschaft um 1761–1763 enthalten, die Antoine unter Umständen selbst im Umfeld der Académie de France anfertigte, eine seitengleich und maßstabsgetreue Rötelkopie von deutlich anderer Hand erhalten, die auf dem hier zur Diskussion gestellten Abklatsch nach Lhuillier angefertigt worden sein könnte; Paris, INHA, Ms. 307, n° 22, f° 79 (online verfügbar), ca. 430 x 300 mm, hier bezeichnet „clé de larc de titus“. Zeichnungen bzw. Kopien und Abklatsche von Lhuilliers Vorlagen sind gleich mehrfach in Ms. 307 erhalten. Es war Georg Kabierske, der erstmals den Projektzusammenhang auf die Existenz dieser Alben hingewiesen hatte. Ihm sei an dieser Stelle gedankt. Einen ersten Überblick gewährte Yves Beauvalot : Les epaves d’une collection: deux recueils de dessins de l’architecte Pierre-Joseph Antoine (1730–1814), in: Actes du 109e Congrès national des Sociétés savantes, dection d’archéologie et d’histoire de l’art, Bd. 1., Dijon 1984, S. 237–255.
11. Gilbert Erouart und Monique Mosser: A propos de la „Notice historique sur la vie et sur les ouvrages de J.-B. Piranesi“: Origine et fortune d’une biographie, in: Georges Brunel (Hg.): Piranèse et les Français, Kolloquium, Rom, Villa Medici, 12.– 4. Mai 1976, Rom 1978, S. 213–240.
- Graphischer Transfer und mediale Umsetzung
Eine nicht maßstabsgetreue aber detailgetreue Seitenansicht der Volutenkonsole vom Konstantinsbogen findet sich in gleich zweifacher Spiegelung an den jeweiligen Friesabschlüssen eines Kaminentwurfs auf Tafel XXX in Piranesis Kaminwerk aus dem Jahre 1769 wieder (Abb. 9 und 10).[1]
Abb. 9: Giovanni Battista Piranesi, Kaminentwurf, Radierung, in: Diverse maniere d‘adornare i cammini, Rom 1769, Taf. 30, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.692
CC BY-NC-SA 3.0Abb. 10: Giovanni Battista Piranesi, Kaminentwurf (Detail), Radierung, in: Diverse maniere d‘adornare i cammini, Rom 1769, Taf. 30, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.692
CC BY-NC-SA 3.0Wenngleich die Zeichnung IX 5159-35-1-1 hier keine maßstabgetreue Verwendung fand, ist aufgrund der zwischen Desgodets und Lhuillier bestehenden kompositorischen Divergenzen davon auszugehen, dass die Werkstatt Piranesis unter Aufsicht des Künstlers direkt auf die Vorlage Lhuilliers zurückgegriffen hat. Die von Lhuillier und Antoine gezeichnete Volutenkonsole vom Titusbogen ist in den Druckwerken Piranesis nicht nachzuweisen, doch findet sich die Darstellung einer weiteren Volutenkonsole vom Septimius-Severus-Bogen auf der großen Haupttafel in den Lapides Capitolini aus dem Jahre 1762 wieder (Abb. 11 und 12).[2]
Abb. 11: Giovanni Battista Piranesi, Schlussstein des Septimius-Severus-Bogen (Detail), Radierung, in: Lapides Capitolini, Rom 1762, (Tafel nicht nummeriert), Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.880
CC BY-NC-SA 3.0Abb. 12: Anonym, Septimius-Severus-Bogen, Schlussstein auf der Westseite, Feder, braun laviert, New York, Cooper Hewitt, Museum purchase through gift of various donors and from Eleanor G. Hewitt Fund, Inv. 1938-88-7336 Dieser Umstand belegt zum einen Piranesis anhaltendes Interesse am Typus dieser außergewöhnlichen Bauornamentik im Verlauf der 1760er Jahre sowie deren graphische Umsetzung schon zu Anfang der 1760er Jahre. Dies könnte auch einen Hinweis auf eine denkbare Datierung der Zeichnung geben. Eine stilistische Nähe lässt sich zudem zur Darstellung einer römischen Sitzstatue im Zentrum des Frontispizes des Trajanssäulenwerks beider Piranesi aus dem Jahre 1774 konstatieren, zumal die Piranesis in diesem wie in anderen Fällen auf eine Jahre zuvor entstandene Zeichnung Lhuilliers einmal mehr zurückgegriffen haben könnten (Abb. 13).[3]
Abb. 13: Giovanni Battista und Francesco Piranesi, Frontispiz (Detail), Radierung, in:Trofeo o sia magnifica colonna coclide, Rom 1774-79, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.697
CC BY-NC-SA 3.0Christoph Frank
Einzelnachweis
1. Giovanni Battista Piranesi: Diverse Maniere d‘adornare i cammini, Rom 1769, Taf. XXX (Getty Copy; F890, C892a, John Wilton-Ely: Giovanni Battista Piranesi. The Complete Etchings, 2 Bde., San Francisco 1994, Nr. 842).
2. Giovanni Battista Piranesi: Lapides Capitolini, Rom 1762 (Getty Copy; F427; C392 und 393; John Wilton-Ely: Giovanni Battista Piranesi. The Complete Etchings, 2 Bde., San Francisco 1994, Nr. 558).
3. Giovanni Battista und Francesco Piranesi, Trofeo o sia magnifica colonna coclide di marmo composta di grossi macigni ove si veggono scolpite le due guerre daciche fatte da Trajano inalzata nel mezzo del gran foro eretto dal medesimo imperadore per ordine del senato e popolo Romano dopo i suoi trionfi, Rom 1774 (Madrid Copy; F552; John Wilton-Ely: Giovanni Battista Piranesi. The Complete Etchings, 2 Bde., San Francisco 1994, Nr. 686).
- Zeichenstil
Die in schwarzer Kreide ausgeführte Zeichnung fällt durch eine sehr präzise Strichführung auf, die dennoch eine gewisse Agilität in der Wiedergabe diverser Materialitäten und Ausleuchtungen in sich birgt. Der Strich ist darüber hinaus links- wie rechtsseitig gleichermaßen kontrolliert und ausgeglichen, nahezu symmetrisierend im Anspruch, was sich wiederum in einer großen Homogenität und ungestörten Symmetrie der Darstellung niederschlägt. Die Schraffuren der bauelementaren Oberflächen sind sehr präzise gesetzt und kohärent abgeschattet durch den variabel und gleichzeitig konsequent verdichteten Einsatz der Kreide. Der zeichnerische Duktus der figurativen Elemente bleibt zurückhaltend und ist durch eine kühle, bisweilen entdramatisierende Prägnanz gekennzeichnet, wie sie in der idealisierenden Antikenauffassung unter dem Einfluss Winckelmanns in jenen Jahren zum Ausdruck kam. In nahezu all diesen Punkten unterscheidet sich die Herangehensweise nicht nur von den Ausführungen Clérisseaus, sondern ist ihnen geradezu überlegen.
Christoph Frank
- Zuschreibungshypothesen
Die hier bezeichneten Charakteristika, insbesondere die große Präzision in der Wiedergabe sowohl von Bauelementen als auch von Figürlichem, sind bestimmend für den Zeichenstil von Lhuillier. Sie finden sich durchgehend in seinem Werk, wie es mehrfach in den Karlsruher Alben und darüber hinaus im umfänglichen Corpus seiner Zeichnungen in derBerliner Kunstbibliothek dokumentiert ist. Lhuillier, ein von der Forschung bislang kaum wahrgenommener Ornamentzeichner, war Mitarbeiter Piranesis, Bélangers und Gouthières und erlangte für zahlreiche europäische neoklassizistische Architekten und Kunsthandwerker eine zentrale und bislang weitestgehend unterschätzte Bedeutung. Seine präzise, nahezu empirisch zeichnerische Handschrift bot sich in doppelter Hinsicht an, zum einen als Vorbild in der akademischen Zeichenlehre, wie es am Beispiel seiner Schüler Harsdorff, Marvuglia und Vogel nachvollzogen werden kann, zum anderen für die Umsetzung in andere Medien wie die Druckgraphik, die Bauornamentik oder die Ausführung von Bronze- oder Marmorapplikationen. Bei der Rekonstruktion des zeichnerischen Oeuvres Lhuilliers ist zu berücksichtigen, dass wie im Falle von IX 5159-35-1-1 ein großer Teil der ihm zuzuweisenden überlieferten Blätter im großen Format ausgeführt sind. Sie alle weisen zudem eine große zeichnerische Konsistenz auf, die sich deutlich von jenen ungeübteren, sich in Ausbildung befindlichen Händen (wie zum Beispiel jener Antoines oder Vogels) unterscheidet, die nach den Blättern Lhuilliers Kopien angefertigt haben.
Christoph Frank
- Kunsthistorische Bedeutung
Lhuilliers Zeichnung einer Volutenkonsole des Konstantinsbogens steht exemplarisch sowohl für das umfassende künstlerische Netzwerk im Umfeld Piranesis als auch für seine Verflechtung mit dem der Académie de France. Derartige Ornamentzeichnungen des Künstlers fanden neben einer konkreten Anwendung und Weiterverwendung wie im vorliegenden Fall eine vielfache Umsetzung in antiquarischer geschmacksbildender Graphik und Publizistik (wie zum Beispil Cavaceppis Raccolta von 1768 oder Lhuilliers Livre d’ornements à l’usage des artistes aus dem Jahre 1772). Sein Werk setzt sich schlussendlich über eine eng gefasste Autorschaft und ebensolche Medialität hinweg und eröffnete damit jene spannende Perspektive auf eine multiple oder auch kollektive Autorschaft. Eine Eingrenzung dieser Form von Inter-Diskursivität stellt eine gewisse Herausforderung dar, besonders vor dem Hintergrund überkommener Herangehensweisen an den Gegenstand. Daher ist die Platzierung von Blatt IX 5159-35-1-1 als erste Zeichnung im ersten Band der Karlsruher Alben kein Zufall, sondern vielmehr ein angemessener Auftakt für eine vielversprechende Weiterbeschäftigung mit diesen außergewöhnlichen Alben.
Christoph Frank
- Merkmale des Papiers
Lilie im Kreisring, darüber das Monogramm "CB"
Belege:
Andrew Robison, Piranesi: Early Architectural Fantasies. A Catalogue Raisonné of the Etchings, Washington [u.a.]: National Gallery of Art, 1986, S. 221–224, Nr. 33–40 (Varianten, 1760–1780er Jahre); Edward Heawood, Watermarks Mainly of the 17th and 18th Centuries. Hilversum: Paper Publications Society, 1950, Tafel 218, Nr. 1598 (Variante, in: A. A. Georgi, Alphabetum Tibetanum, Rom, 1762)
Sammlungen:
Karlsruher Alben:
Nahe Varianten: IX 5159-35-14-3; IX 5159-35-17-3; IX 5159-35-29-3; IX 5159-35-34-1
Varianten: IX 5159-35-4-1; IX 5159-35-5-2; IX 5159-35-33-1; IX 5159-35-35-2; IX 5159-35-39-1; IX 5159-35-42-1; IX 5159-35-43-1; IX 5159-36-19-1; IX 5159-36-20-1The Morgan Library & Museum:
Nahe Varianten: Studies from the Antique with Rams' Heads, Barbarian Trophies, and Figures of Victory, Acc. No. 1955.11:34; Design for a Mantelpiece with Masks on Lintel, a Bird on Jamb and a Rabbit on the Other, Acc. No. 1966.11:66
Varianten: Design for mantelpiece with a vase between volutes, Acc.-No. 1966.11:84; Three Figures and Architectural Details, Acc. No. 1950.9Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz:
Varianten: Le Antichità Romane : Opera Di Giambatista Piranesi Architetto Veneziano Divisa In Quattro Tomi. Tomo Primo: De'quali si contengono gli avanzi degli antichi edifizj di Roma… Rom 1756, Signatur: gr.-2" Nw 4581-1: R, Selbstbildnis , Tafel 11, Tafel 17; Tomo Qvarto: Contenente I Ponti Antichi Gli Avanzi De' Teatri De' Portici E Di Altri Monvmenti Di Roma, Rom 1756, Signatur: gr.-2" Nw 4581-4: R, Tafel 8Herstellungsmerkmale:
ungefärbt, mittlere Stärke; knötchenhaltiger Faserstoff mit vereinzelten, langen dunklen Wollfasern und wenigen braunen Faser- und Metalleinschlüssen (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt); deutliche Sieb- und Filzmarkierung; Stegschatten schwer erkennbar; gelatinegeleimt (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt).
Maria Krämer und Irene Brückle
- Merkmale der Zeichenmedien
Schwarze Kreide: Leicht bis kräftig aufgetragen (Detail 1); matter Strich, kompakt in deckenden Bereichen, furchiger Strich wo fest aufdrückend geführt (Detail 2).
Nicht zu der Entstehung der Zeichnung gehörige Farbmittel: Vereinzelt Spuren brauner Tinte, vermutlich Eisengallustinte (Detail 3).
Detail 1: Auflicht
Schwarze Kreide (Seitenansicht, Gewand unterhalb der die Statuette haltenden Hand), Vorzeichnung und Ausarbeitung in unterschiedlicher StrichstärkeDetail 2: Auflicht
Schwarze Kreide (Seitenansicht, Ansatz des Blattornaments unterhalb der unteren Schnecke), akzentuierender, deckender Strich mit furchiger LinieDetail 3: Auflicht
Spur brauner Tinte (Schild, Medusenhaupt)Maria Krämer und Irene Brückle
- Zeichnerischer Prozess
Es wurden zuerst einige Hilfslinien mit einem Lineal gezogen, was einer üblichen Vorgehensweise bei geometrisch angelegten Zeichnungen entspricht. Rahmenlinien markieren den oberen Abschluss und die rechte Kante, die nahezu rechtwinklig mit der Oberkante verläuft. Eine untere Begrenzung wurde nur angedeutet. Wesentliche geometrische Binnenstrukturen sind ebenfalls, weniger deutlich hervortretend, mit dem Lineal angelegt, so die diagonalen Seiten der Frontalansicht und Elemente der Seitenansicht. Da die beiden Ansichten der Dea Roma in ihrer vertikalen Proportionierung weitgehend übereinstimmen, ist davon auszugehen, dass beide Ansichten miteinander abgeglichen wurden, vermutlich ebenfalls unter Nutzung eines Lineals. So entspricht beispielsweise in der Seitenansicht ein horizontaler Strich am Kranz der Siegesgöttin der Platzierung des Kranzes in der Frontalansicht. Weitere Punkte, z. B. am Schnitt von dem Gesims rechts, wurden mit kurzem Kreidestrich markiert. Da keine Zirkeleinstiche vorliegen, sind hier vermutlich ausschließlich ein Lineal oder auch ein Winkel eingesetzt worden. Wesentliche Formen wurden in der Vorzeichnung in schmalem, schwach sichtbarem Strich angelegt, in der Ausarbeitung folgten breitere Striche, die in mehrlagig anlegten Bereichen auch vollständig decken. Stellenweise bleibt die Vorzeichnung sichtbar, insbesondere wo sie von der Ausarbeitung abweicht (Detail 1), so etwa in dem nicht weiter ausgearbeiteten Helmbusch in der Seitenansicht der Dea Roma.
In den lichten Steinoberflächen in der Frontalansicht suggerieren parallel voneinander abgesetzte Striche scharriert bearbeitete Oberflächen, während die verschatteten Teile der Architektur von dicht liegenden und gelegentlich kreuzenden, nicht naturalistisch imitierenden Schraffuren abgedunkelt sind (Abb. 1). Einige Schattenbereiche sind mit Zickzacklinien gesäumt. Variable Strichbreiten des kantigen Kreidestifts sind besonders in dem tief verschatteten Mauerstück der Frontalansicht erkennbar. Darüber hinaus lässt sich das Zusammenspiel von kreuzenden und parallelen Schraffuren in der Frontalansicht des Schildes gut beobachten. Auffällig sind hier die unterschiedlichen Parallelschraffuren im lichten Teil. Nimmt man an, dass der Zeichner das Blatt vertikal vor sich liegen hatte, so lassen die rechts im Schild eher bogig verlaufenden Striche eine mühelose Handgelenkdrehung beim Schraffieren erahnen; in dem unteren Teil des Schildes dagegen waren die Striche weniger leicht anpassbar und bilden daher übereinander gestaffelte Cluster aus kurzen, parallelen Strichen.
In der Gesamtwirkung sind die Kreidestriche in dieser kontrastreichen Zeichnung weitgehend an den Konturen der Darstellung ausgerichtet, weichen hiervon nur an wenigen Stellen und dort nur unauffällig ab.
Maria Krämer und Irene Brückle
- Merkmale historischer Nutzung
An allen vier Kanten ungleichmäßig beschnitten; Fehlstelle durch Insektenfraß in der Ecke oben rechts; recto entlang der linken Kante bräunliche Klebstoffspur mit anhaftenden Papierfragmenten oben, unten Verlust der Papieroberfläche; verso Klebepunkte an den Ecken (zwei gedünnt) und in der Mitte der langen Kanten, teilweise mit anhaftenden Papierfragmenten (Durchlicht, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt).
Maria Krämer und Irene Brückle
- Prozesse historischer Nutzung
Die geknickten und bestoßenen Kanten deuten auf eine intensive Handhabung hin, senkrechte, geringfügig ausgeprägte Knicke in der Blattmitte auf eine zeitweise gerollte Lagerung. Die vereinzelten, nachträglichen Tintenklekse sprechen ebenfalls für eine exponierte historische Nutzung in Piranesis Werkstatt. Im rechten unteren Teil des Blattes erscheinen flächig verteilt Ölflecke, die einen längeren Kontakt mit einem geölten Papier belegen. Diese sind ebenso wenig wie eine diagonale Ölspur links im Blatt und weitere vereinzelte Ölflecken mit einem Kopierprozess in Verbindung zu bringen und als unbeabsichtigt zu werten (UVR, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt; UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt). Diese beiden, voneinander unabhängigen Ölspuren weisen auf eine Lagerung mit zuvor für Kopierprozesse geöltem Papier im losen Stapel oder montiert in einem Album hin, wobei die fehlenden Faltspuren auf ein großes Lagerungsformat schließen lassen. Auch der stellenweise flächig auf den Höhen des Papiers haftende Rötelabrieb lässt sich auf eine frühe Lagerungssituationen zurückführen. Es gibt keinen Hinweis für die Anfertigung von Kopien.
Montierungshistorie
Eine vermutlich frühe Montierung erfolgte durch Klebepunkte verso, die in gleicher Art an der Mehrzahl aller Zeichnungen der Karlsruher Alben feststellbar sind. Zwei unterschiedliche Klebstoffarten verso (UVR, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt; UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt) weisen auf voneinander getrennte Montierungen noch vor Weinbrenners Nutzung hin. Zusätzlich zu den Klebepunkten der Rückseite deutet eine längliche Klebespur parallel zum linken Rand recto auf eine Verklebung mit einem anderen Papier hin, vielleicht mit einer anderen Zeichnung. Diese Verklebung kann in Zusammenhang mit dem Werkprozess – zum Beispiel um mehrere verwandte Blätter zusammenzuhalten – oder einer Lagerung entstanden sein.
Maria Krämer und Irene Brückle
Schlagwörter
- Nicolas François Daniel Lhuillier
- Italienisches Papier
- Schwarze Kreide
- Stilistische Gruppe 04
- IX 5159-35-1-1
- Lilie im Kreisring (Beizeichen: CB oberhalb)
- Konstantinsbogen
- Volutenkonsole
- Dea Roma
GND-Begriffe
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