Seltsam wirkt diese Komposition aus äußerst unterschiedlichen Gegenständen: Im Zentrum steht als ovaler Schild mit Turm und Doppeladler das Familienwappen einer römischen Adelsfamilie, darüber schwebt ein Prälatenhut und unten steht ein Kreuz; zwei antikische Helme ragen links und rechts aus der Kartusche. Bei dem Entwurf handelt es sich um ein Stuckrelief, dass unter der Leitung von Giovanni Battista Piranesi an der Decke der Kirche Santa Maria del Priorato in Rom ausgeführt wurde. Unterschiede zwischen dem ausgeführten Relief und einer weiteren Reinzeichnung des Motivs in diesem Album werfen Fragen zu Funktion und Entstehungsprozess der Blätter auf. Diese stellen einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Verhältnisses von Zeichnung und Stuckausführung dar.
Entwurf für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in der Kirche Santa Maria del Priorato
Werkdaten
Künstler
Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793), überarbeitet in der Piranesi-Werkstatt (Giovanni Battista oder Francesco Piranesi?), Gruppe 4
Ort und Datierung
Rom, um 1764–1766
Abmessungen (Blatt)
598 x 445 mm
Inventarnummer
IX 5159-35-26-1
- Zeichenmedien
Schwarzer Stift (Kreide) mit fetthaltigem Bindemittel; weitere Informationen siehe: Merkmale der Zeichenmedien
- Beschriftungen
Keine
- Literatur
Georg Kabierske: A Cache of Newly Identified Drawings by Piranesi and His Studio at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Master Drawings 53, 2015, S. 147–178, hier S. 166, Abb. 26; Georg Kabierske: Weinbrenner und Piranesi. Zur Neubewertung von zwei Grafikalben aus dem Besitz Friedrich Weinbrenners in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, in: Brigitte Baumstark/Joachim Kleinmanns/Ursula Merkel (Hg.): Friedrich Weinbrenner, 1766–1826: Architektur und Städtebau des Klassizismus, Ausst. Kat. Karlsruhe, Städtische Galerie und Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Petersberg 2015 (2. Aufl.), S. 75–87, hier S. 78f., Abb. 5; Stefan Morét: Due album di disegni di Giovanni Battista Piranesi e della sua bottega dal lascito dell’architetto Friedrich Weinbrenner (1766–1826), in: Vita Segreto (Hg.): Libri e album di disegni 1550–1800, nuove prospettive metodologiche e di esegesi storico-critica, Rom 2018, S. 203–212, Abb. 12.
- Hadernpapier
Vergé, naturfarben, vermutlich italienische Herstellung; Zeichnung auf der Siebseite; weitere Informationen siehe: Merkmale des Papiers
- Rückseite
Keine erkennbaren Hinweise auf eine rückseitige Bezeichnung oder Beschriftung
Das Werk im Detail
- Bildgegenstand und ikonographische Bedeutung
Der großformatige Entwurf für ein Stuckrelief, das in der Kirche Santa Maria del Priorato auf dem Aventin in Rom ausgeführt wurde, ist in zwei direkt hintereinander eingeklebten Zeichnungen im ersten Album wiedergegeben (Abb. 1 und Abb. 2). Aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs von IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 werden die Blätter gemeinsam in diesem Katalogeintrag behandelt.
Abb. 1: Entwurf für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom, um 1764–1766, schwarzer Stift, 598 x 445 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-26-1
CC0 1.0Abb. 2: Entwurf für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom, um 1764–1766, schwarzer Stift, 573 x 443 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-27-1
CC0 1.0Der zwischen 1764 bis 1766 durch Giovanni Battista Piranesi im Auftrag seines Förderers Giovanni Battista Rezzonico (1740–1783), dem Großprior des Malteserordens in Rom und Neffen von Papst Clemens XIII., ausgeführte Umbau der Kirche Santa Maria del Priorato ist das einzige erhaltene architektonische Werk des Künstlers.[1] Für die komplexe Ikonographie von Fassade und Innenraum stellte Piranesi Bestandteile des Wappens des Auftraggebers, antike Trophäen als Symbole der militärischen Errungenschaften des geistlichen Ritterordens der Malteser und vermeintlich etruskische Motive zusammen. Er unterstrich so die erst hundert Jahre zuvor erfolgte Erhebung der Familie Rezzonico in den Adelsstand[2] und verwies zugleich auf die besondere Bedeutung des Aventins in früherer römischer Zeit. Aufgrund der ehemals dort ausgeübten fremden Kulte aus der Provinz Etrurien lag er als einziger der sieben Hügel außerhalb des Pomeriums, des heiligen Bezirks der Stadt Rom. Mit der eigenwilligen Bauornamentik bezieht sich Piranesi bewusst auf den eklektischen Charakter der römischen Kunst, den er in seiner während der Bauarbeiten an der Kirche 1765 erschienenen architekturtheoretischen Schrift Parere su l’architettura verteidigt.[3]
Das in den Karlsruher Zeichnungen wiedergegebene Motiv wurde durch den Bildhauer Tommaso Righi (1727–1802)[4] und dessen Mitarbeiter als Stuckrelief ausgeführt und befindet sich an zentraler Stelle im Kirchenraum, an der Decke des vierten Jochs, das vom übrigen Langhaus durch einige Stufen abgesetzt ist und somit den Übergang zur Altarzone markiert (Abb. 3). In der Komposition vereint Piranesi die heraldischen Symbole der Familie Rezzonico, den Turm, gekrönten Doppeladler und gestreiften Schild, unter dem Prälatenhut – der auch nach der 1770 erfolgten Erhebung des Auftraggebers zum Kardinal in seiner Form aktuell blieb – und ergänzt diese um zwei antikische Helme als militärische Attribute des Ordens.
Abb. 3: Tomasso Righi, Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom, Stuck, 1764–1766
Foto: Bénédicte Maronnie , CC0 1.0Georg Kabierske und Stefan Morét
Einzelnachweis
1. Aus der sehr zahlreichen Literatur zu Piranesis Umgestaltung von Santa Maria del Priorato seien die folgenden Titel genannt, in denen jeweils die ältere Literatur zitiert wird: Fabio Barry: „Onward Christian Soldiers”: Piranesi at Santa Maria del Priorato, in: Mario Bevilacqua, Daniela Gallavotti Cavallero (Hg.): L’Aventino dal Rinascimento a oggi, Rom 2010, S. 140–160; John Wilton-Ely: Piranesi as Architect and Designer, London/New Haven 1993, S. 87–119; John Wilton-Ely: Piranesi architetto, in: Barbara Jatta (Hg.): Piranesi e l’Aventino, Ausst. Kat. Rom, Santa Maria del Priorato, Mailand 1998, S. 63–78.
2. Almut Goldhahn: Von der Kunst des sozialen Aufstiegs. Statusaffirmation und Kunstpatronage der venezianischen Papstfamilie Rezzonico, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 289–296.
3. John Wilton-Ely: Design through Fantasy. Piranesi as Designer, in: Sarah E. Lawrence (Hg.): Piranesi as Designer, New York 2007, S. 43.
4. Zu diesem siehe Vernon Hyde Minor: Tommaso Righi's Roman Sculpture: A Catalogue, in: The Burlington Magazine 126, 1984, S. 668–675; Angela Negro: Per Tommaso Righi, in: Studi sul Settecento romano, Sculture romane del Settecento 2, 2002, S. 81–149.
- Beschreibung und Komposition
Die heraldische, in verschiedenen Ebenen komplex übereinander geschichtete Komposition ist vor ein rautenförmiges Feld gesetzt, dessen profilierte Umrandung sie mehrfach überschneidet (Abb. 1). Der Turm der Rezzonico erscheint dabei von seiner zentralen Position in der Mittelachse etwas nach oben gerückt und hebt sich von einem ebenfalls rautenförmigen Schild mit horizontal abgeflachtem oberen und unteren Ende ab. Von einer ovalen Rahmung innerhalb des Schilds umfangen, wird er im unteren Bereich von zwei antikisierenden Helmen mit Meereswesen symmetrisch flankiert, deren dichter Helmbusch zur einen Hälfte wellenartig an die Mauern des Turms brandet, zum anderen unter ihm herabwallt und dort auf das helle Kreuz trifft. Dieses ist auf die vertikale Mittelachse der Komposition und in den unteren Zwickel des rautenförmigen Feldes gesetzt. Auf dem Zinnenkranz des Turms steht der doppelköpfige und bekrönte Adler der Rezzonico, dessen ausgebreitete Flügel sich über die Zwickelfelder des darunterliegenden Schildes erstrecken. Komplementär zum Kreuz unten wird die Komposition oben durch den in leichter Unteransicht wiedergegebenen Prälatenhut des Auftraggebers Giovanni Battista Rezzonico abgeschlossen. Die sich horizontal über die profilierte, rautenförmige Umrandung erstreckenden, verknoteten Kordeln bilden dabei eine kompositorische Parallele zu den weiter unten seitlich hervortretenden Helmen, während die herabhängenden Quasten den rautenförmigen Schild und den Turm senkrecht umfassen.
Um Details des Wellenband-Ornaments der inneren „gekappten“ Raute deutlicher auszuarbeiten, wurde die linke Ecke des rautenförmigen Schildes am oberen linken Rand der ersten Zeichnung (Abb. 4) zusätzlich ausschnitthaft vergrößert dargestellt, ein typisches Vorgehen, dass sich etwa auch bei den Zeichnungen für die Marmor-Pasticci (IX 5159-35-44-1, IX 5159-35-46-1, IX 5159-35-36-1, IX 5159-36-30-1) beobachten lässt. In Übereinstimmung mit vielen Zeichnungen der Piranesi-Werkstatt in den Karlsruhe Klebebänden ist zudem das Profil der Rahmung am rechten, unteren Rand als gedachter Schnitt vermerkt. Darüber hinaus wurden Umrisse, Binnendetails und Verschattungskanten etwa an Helmen, Turm und Kordeln mit impulsiver und kräftiger Strichführung überarbeitet. Dabei bleibt unklar, ob die figuralen, im Grunde nur aus Kringeln und geschwungenen Strichen skizzenhaft angelegten figürlichen Szenen der Helme erst in diesem Arbeitsschritt eingetragen worden sind (Abb. 5) (siehe Zeichnerischer Prozess).Abb. 4: Entwurf für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom (Detail), um 1764–1766, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-26-1
CC0 1.0Abb. 5: Entwurf für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom (Detail), um 1764–1766, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-26-1
CC0 1.0Georg Kabierske
- Einordnung in das Gesamtwerk Piranesis
Die Arbeiten Piranesis für Santa Maria del Priorato sind durch zeitgenössische Quellen, wie ein Rechnungsbuch, das sogenannte Libro dei conti des Maurermeisters Giuseppe Pelosini,[1] durch eine zeitgenössische Beschreibung, die kurz nach Abschluss der Arbeiten verfasst wurde[2] und durch bisher neun bekannte Zeichnungen dokumentiert.[3] Diese unterscheiden sich in der Zeichentechnik jedoch deutlich von den beiden hier vorgestellten Karlsruher Darstellungen des Stuckreliefs. So ist für den benachbarten Dekor, der das Gewölbe über dem zweiten und dritten Joch schmückt, eine Zeichnung in der Morgan Library erhalten (Abb. 6), die in Feder in Braun und Pinsel in Grau über schwarzer Kreide ausgeführt wurde und bis auf kleinere Abweichungen von Details dem ausgeführten Relief entspricht.
Abb. 6: Piranesi-Werkstatt, Entwurf für den Deckenstuck über dem Schiff von Santa Maria del Priorato in Rom, um 1764–1766, Feder in Braun, mit Pinsel grau laviert über schwarzer Kreide, 534 x 318 mm, New York, The Morgan Library & Museum
© The Morgan Library & Museum. 1966.11:50. Bequest of Junius S. Morgan and gift of Henry S. Morgan.Das Blatt dürfte überwiegend durch einem Zeichner der Piranesi-Werkstatt[4] ausgeführt worden sein, denn der Duktus der Federzeichnung wirkt trocken und akkurat. Außerdem ist die Komposition im Gegensatz zu den eigenhändigen Zeichnungen des Künstlers in allen Details ausgearbeitet worden, ein Vorgehen, für das Piranesi selbst keine Geduld besessen zu haben scheint. Dies spricht für eine Einordnung als Präsentationszeichnung, die möglicherweise von einem, auf saubere Reinzeichnungen spezialisierten Plan- und Linienzeichner aus der Werkstatt ausgeführt wurde, um die vollendete Komposition dem Auftraggeber vorzulegen. Denn sowohl bei der in der Morgan Library aufbewahrten Zeichnung für den Altar[5] von Santa Maria del Priorato, als auch bei den Entwürfen für den unausgeführten Umbau von San Giovanni in Laterano[6] lässt sich ein deutlicher stilistischer Unterschied zwischen den spontan und impulsiv von Giovanni Battista Piranesi auf das Papier gebrachten Entwürfen und den wesentlich beherrschter ergänzten Partien seiner Werkstattmitarbeiter beobachten. Von entwerfendem Charakter sind hingegen die mal mehr, mal weniger sichtbaren Vorzeichnungen in schwarzem Stift, die fast allen Blättern der Zeichnungsgruppe für Santa Maria del Priorato in der Morgan Library (es gibt eine einzige Ausnahme)[7] als auch einem weiteren Blatt in Karlsruhe (IX 5159-35-34-6) eigen sind und die anschließend mit Feder und Tinte präzisierend überarbeitet wurden. Innerhalb dieses Zeichnungskorpus stehen die beiden hier diskutierten Karlsruher Zeichnungen der Wappenkartusche, die als einzige bekannte Entwürfe für die Kirche vollständig in schwarzem Stift ausgearbeitet worden sind, isoliert da.
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Joseph Connors: Il Libro dei conti della Avery Library della Columbia University, in: Barbara Jatta (Hg.): Piranesi e l’Aventino, Ausst. Kat. Rom, Santa Maria del Priorato, Mailand 1998, S. 86 –94.
2. John Edward Critien: Un manoscritto del XVIII secolo dell’Archivio Magistrale del Sovrano Ordine di Malta di Roma, in: Barbara Jatta (Hg.): Piranesi e l’Aventino, Ausst. Kat. Rom, Santa Maria del Priorato, Mailand 1998, S. 79–85.
3. Die wichtigsten zusammengestellt in John Wilton-Ely: Piranesi as Architect and Designer, London/New Haven 1993, S. 87–119, und Pierluigi Panza: Piranesi e l’Aventino. I disegni e l’opera, in: Il disegno di architettura 19, 1999, S. 20–27.
4. New York, The Morgan Library & Museum, Inv. 1966.11:50; Im Onlinekatalog der Morgan Library wird die Zeichnung seit 2020 auch nicht mehr Piranesi selbst, sondern seiner Werkstatt zugeschrieben, vgl. www.themorgan.org/drawings/item/142429 (24.09.2021).
5. New York, The Morgan Library & Museum, Inv. 1966.11:51.
6. Siehe beispielsweise: New York, Avery Architectural & Fine Arts Library, Giovanni Battista Piranesi, Sezione ortografica di fianco della Tribuna, del Prebisterio, e dell'Esedra della Basilica Letaranense, Taf. VIII; New York, The Morgan Library & Museum, Inv. 1966.11:55.
7. New York, The Morgan Library & Museum, Inv. 1966.11:50, 1966.11:51, 1966.11:52, 1966.11:53, 1966.11:54.
- Ableitung, Rezeption und Dissemination
Die in der Komposition wiedergegebenen Helme finden eine weitgehende Entsprechung in der Darstellung einer römischen Münze, die Piranesi als Vignette für seine im Kontext der theoretischen Auseinandersetzung mit Pierre-Jean Mariette (1694–1774) 1765 veröffentlichten Schrift Della Introduzione radiert hat (Abb. 7). Dort als Helm der Minerva wiedergegeben, zeigt das Publikationsdatum, dass sich Piranesi zeitgleich mit der Baustelle in Santa Maria del Priorato auch in anderem Kontext mit diesem Motiv auseinandergesetzt hat. Dabei ließ er sich möglicherweise von manieristischen Entwürfen Polidoro da Caravaggios (1492–1543) inspirieren.[1]
Abb. 7: Giovanni Battista Piranesi, Vignette, Radierung, 74 x 146 mm, in: Osservazioni di Gio. Battista Piranesi sopra la lettre de Monsieur Mariette, Della Introduzione, Rom 1765, fol. 166, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.877
CC BY-NC-SA 3.0Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Siehe dazu beispielsweise: Charles Errard nach Polidoro da Caravaggio: Divers Trophées, 1651, vgl. New York, The Metropolitan Museum, Inv. 2012.193(3).
- Graphischer Transfer und mediale Umsetzung
Dieselbe Komposition ist in gleicher Größe auf dem schon auf der direkt folgenden Albumseite eingeklebten Blatt IX 5159-35-27-1 ein zweites Mal gezeichnet. Während in der ersten Zeichnung (Abb. 1) die Umrisse in einer Art Findungsprozess noch mehrfach nachgefahren wurden, zeichnet sich dieses zweite, ebenfalls in schwarzem Stift ausgeführte Blatt (Abb. 2) durch klare Konturen und präziser ausgeführte Details aus. Das von oben links einfallende Licht unterstreicht die Dreidimensionalität des Reliefs. Es handelt sich um eine Reinzeichnung des Entwurfs, in der Korrekturen des ersten Blattes berücksichtigt wurden. Dies lässt sich besonders gut am zentralen Turm nachvollziehen, bei dem die Rustika um die Tür etwas verbreitert und so in die zweite Zeichnung übernommen wurde (Abb. 8). Ebenso wurden die Maschikuli-Bögen (Wurflochreihen) unter dem Zinnenkranz durch die Korrekturen vergrößert und dadurch aus der Ferne deutlich sichtbar gemacht. Die urspünglich nur skizzenhaft angelegten Meerwesen auf den Helmen wurden zu rundlich-muskulösen Gestalten ausgearbeitet, bisweilen um eine Muscheltrompete (rechts) oder um ein Segel (links) passend zur maritimen Ikonographie ergänzt. Durch den gekonnten Einsatz von Licht und Schatten, etwa im Bereich der Kordeln, des Helmschmucks und des Prälatenhuts, werden die verschiedenen Ebenen und die Plastizität des Reliefs besonders deutlich.
Abb. 8: Detailvergleich der beiden Zeichnungen für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom, um 1764–1766, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-26-1 (oben) und IX 5159-35-27-1 (unten)
CC0 1.0In der Ausführung entspricht das Stuckrelief den Zeichnungen weitgehend und erstaunlich präzise. Allerdings gibt es auch einige merkwürdige Abweichungen, die Fragen zur genauen Funktion der Karlsruher Zeichnungen aufwerfen: So hängen im ausgeführten Relief die Helmbüsche nur bis zum Kreuz herunter, das heißt,deren im zweiten Arbeitsschritt in die erste Zeichnung eingetragene sowie in die Reinzeichnung übernommene Verlängerung bis unterhalb des Kreuzes blieb unberücksichtigt (Abb. 9).
Abb. 9: Vergleich beider Zeichnungen mit dem ausgeführten Stuckrelief in Santa Maria del Priorato in Rom, 1764–1766; v.l.n.r.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 sowie Abb. 3
CC0 1.0Gleiches gilt für den Turmhelm mit seinen rundbogigen Maschikuli, deren Proportionierung dem Zustand vor der Überarbeitung entspricht. Ebenso orientieren sich die figürlichen Szenen auf den Helmen eher an der ersten, noch skizzenhaften Zeichnung: Auf dem linken Helm ist der Triton ohne Muschelhorn, auf dem rechten Helm ist die rechte äußere Figur ohne Segel und mit sichtbaren Fischflossen dargestellt (Abb. 10). Auch beim Blick auf die Quasten, die an den Kordeln des Hutes herabhängen, fällt ein Unterschied auf: Die rahmende Leiste wurde näher an sie herangerückt, sodass ein dichteres, von Überlagerung geprägtes Reliefbild entstand (Abb. 11).
Abb. 10: Detailvergleich beider Zeichnungen mit dem ausgeführten Stuckrelief in Santa Maria del Priorato in Rom, 1764–1766; v.o.n.u.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 sowie Abb. 3
CC0 1.0Abb. 11: Detailvergleich beider Zeichnungen mit dem ausgeführten Stuckrelief in Santa Maria del Priorato in Rom, 1764–1766; ; v.o.n.u.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 sowie Abb. 3
CC0 1.0Schon in der ersten Zeichnung kündigt sich diese Intervention durch einen schwarzen, abgeknickten Strich in der linken Ecke zwischen Quaste und Rahmung an. Auch wenn diese Korrektur in die Reinzeichnung übernommen wurde, ist die Rahmung am fertigen Relief nochmals etwas enger gesetzt. Darüber hinaus ist im Relief die in den Turm eingelassene Tür mit einer deutlich schwächer rustizierten, gleichförmigeren Rahmung als in beiden Zeichnungen wiedergegeben. Zudem weist sie eine gebogene statt einer horizontal-blockhaften Attika über dem Sturz auf (Abb. 12), trotzdem diese Elemente bei der Überarbeitung des ersten Blattes besonders betont und in die Reinzeichnung des zweiten Blattes übernommen worden sind. Auch der Perlstab des ovalen Schildes, das den Turm hinterfängt, ist im ausgeführten Relief eher als Kette mit dickeren und dünneren Gliedern statt mit gleichförmigen Kugeln wie in den Zeichnungen umgesetzt. Die Lorbeerblätter am Nackenschutz der Helme entfernen sich sogar ganz von den Karlsruher Zeichnungen, die diese Partie als rechteckige Streifen wiedergeben.
Abb. 12: Detailvergleich beider Zeichnungen mit dem ausgeführten Stuckrelief in Santa Maria del Priorato in Rom, 1764–1766; v.o.n.u.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 sowie Abb. 3
CC0 1.0All diese Beobachtungen belegen, dass das ausgeführte Relief in seinen Details am ehesten dem Zustand der ersten Karlsruher Zeichnung vor der Überarbeitung entspricht, wobei es aber auch Partien gibt, die in der Stuckausführung grundsätzlich abweichend ausgeführt wurden.
Aufgrund dieser partiellen Unterschiede kann es als sicher gelten, dass die beiden Zeichnungen vor der Umsetzung in Stuck entstanden sind. Die Abweichungen lassen sich dabei als künstlerische Freiheiten des ausführenden Bildhauers Tommaso Righi erklären, möglicherweise entstanden sie auch in Rücksprache mit Piranesi vor Ort, da sie auf eine gewisse Vereinfachung und Straffung der Komposition im Hinblick auf die Fernwirkung abzuzielen scheinen. Vielleicht gab es für das Relief auch noch eine weitere, heute verlorene Zeichnung mit eingetragenen Abänderungen. Im Fall des größeren Reliefs in der Mitte des Kirchengewölbes lassen sich jedoch in der einzigen erhaltenen Federzeichnung der Morgan Library (Abb. 6) noch deutlich stärkere Unterschiede zwischen Entwurf und Ausführung beobachten.
Denkbar wäre, dass der Bildhauer jeweils eine Gruppe von Zeichnungen als Vorlage für das jeweilige Relief nutzte, zu denen neben einer Gesamtansicht auch Darstellungen von Details gehörten. Für den Newdigate-Kandelaber (IX 5159-35-46-1) ist eine solche separate Zeichnung (IX 5159-35-44-1), die nur ein Detail der Gesamtkomposition wiedergibt, in der Karlsruher Kunsthalle überliefert. Es ließe sich also vermuten, dass die Karlsruher Blätter neben weiteren Zeichnungen Tommaso Righi als Vorlage gedient haben. Vorstellbar wäre auch, dass diesen Zeichnungen eine dokumentarische Funktion zukam, d.h. die Komposition für die Motivsammlung der Werkstatt Piranesis festgehalten wurden. Denn im Gegensatz zu den Zeichnungen für die Stelen auf dem Vorplatz der Kirche (IX 5159-35-34-6) sind hier keine für die Ausführung notwendigen Maßangaben eingetragen, stattdessen steht die dreidimensionale Komposition des Reliefs im Fokus. Allerdings bleibt erstaunlich, dass Piranesi, der sich so gerne als Architekt sehen wollte, seine Entwürfe für Santa Maria del Priorato nicht in Radierungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte.
Da wir nur einen zufälligen Ausschnitt des Materials aus der Piranesi-Werkstatt kennen, fällt es ohne das Auffinden weiterer Zeichnungen schwer, die exakten Verbindungsketten der Werke untereinander nachzuvollziehen. Die beiden Karlsruher Zeichnungen legen jedoch nahe, dass es für jedes Relief in der Kirche mehrere Vorstudien gab. Letztendlich muss offenbleiben, inwiefern die Blätter, insbesondere das zweite, als finale Ausführungsentwürfe dienten oder ob sie nicht vielmehr einen wohl zusammengehörigen Abschnitt im Ausarbeitungsprozess darstellen beziehungsweise zur Dokumentation der Komposition dienten.
Georg Kabierske
- Zeichenstil
Beide Zeichnungen (IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1) wurden in schwarzem Stift ausgeführt, der eine weiche Gesamtwirkung erzeugt. Beim ersten Blatt handelt es sich eindeutig um eine Entwurfszeichnung: Die Linien sind mehrfach nachgefahren, der Zeichner bemüht sich um die exakte Konturfindung. Ornamentale Details wie Perlstab und Wellenband des zentralen Schildes sind nur mit Umrissen oder Strichen angedeutet, ohne die Volumina auszubilden, wie sie in der Reinzeichnung wiedergegeben sind. Doch zeigen sich in einzelnen Details wie etwa der Ornamentierung an der linken Ecke des Schildes auch in der Reinzeichnung Schwierigkeiten bei der exakten Ausbildung der ineinander verschränkten S-förmigen Wellenbänder, direkt vergleichbar mit dem auf dem ersten Blatt am Rand links zusätzlich vergrößerten Detail (Abb. 13).
Abb. 13: Detailvergleich beider Zeichnungen für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom, um 1764–1766, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-26-1 (links und Mitte) und IX 5159-35-27-1 (rechts)
CC0 1.0Auch der doppelköpfige Adler weist auf beiden Blättern stilistische Übereinstimmungen auf, wie sich insbesondere in der Auffassung des Gefieders mit den S-förmigen Strichführungen an der kompakten Brust und den mit parallelen Strichen strukturierten Einzelfedern der Flügel zeigt (Abb. 14).
Abb. 14: Detailvergleich beider Zeichnungen für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom, um 1764–1766, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-26-1 (links) und IX 5159-35-27-1 (rechts)
CC0 1.0Ferner sind die Schraffierungen der Flächen in beiden Zeichnungen vergleichbar. So werden einerseits parallele Vertikal- oder Horizontalstriche wie etwa am Turm, im dahinter liegenden Schild oder im Kreuz, andererseits dichte dunkle Flächen zur Kontraststeigerung des Hintergrunds verwendet. Auch wenn das erste Blatt skizzenhafter ausgeführt ist, entspricht sein Zeichenstil, abgesehen von der Überarbeitung, dem der Reinzeichnung. Beide Blätter sind sich so nah, dass eine Zuordnung an verschiedene Zeichner kaum möglich erscheint und davon auszugehen ist, dass sie von derselben Hand ausgeführt worden sind.
Ganz anders wirkt dagegen der expressive Zeichenduktus der Überarbeitung des ersten Blattes, in das mit kräftig aufgedrücktem schwarzen Stift korrigierend eingegriffen und architektonische Details am Turm, die Konturen der Quasten und Helme sowie die schweifartig fallenden Helmbüsche präzisiert wurden. Zudem entsteht der Eindruck, als wollte der Zeichner mit einzelnen Kringeln im linken oberen Helmbusch antikisierende Bohrlöcher akzentuieren, ein Vorgehen, das sich auch bei anderen in diesem Duktus überarbeiteten Blättern (IX 5159-35-10-1, IX 5159-35-31-1, IX 5159-35-42-1) in den Karlsruher Alben feststellen lässt.[1]
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Bohrlöcher erkennt man auch im Helmbusch des Stuckreliefs, wobei sich die Frage nach deren Funktion stellt. Weder werden sie arbeitstechnisch für die Stuckatur benötigt, noch sind sie mit bloßem Auge an der Kirchendecke, nur unter Zuhilfenahme einer Vergrößerung zu erkennen. Fast scheint es so, als hätte Piranesi bei der Ausführung jenseits der Motivik auch besonderen Wert auf eine korrekte Reliefwiedergabe im antiken Sinne gelegt, ein Phänomen, dass man auch an der vermutlich absichtlich unvollendet belassenen Rückseite des Hochaltars feststellen kann. Bei antiken Bohrlöchern handelte es sich um Arbeitsspuren an Marmorskulpturen, bei denen mit Handbohrern etwa Haarlocken oder Ranken plastisch wirksam ausarbeitet wurden.
- Zuschreibungshypothesen
Beide Blätter, ganz besonders die Reinzeichnung (IX 5159-35-27-1), können innerhalb der Karlsruher Alben einer stilistischen Gruppe von 20 Zeichnungen (Gruppe 4) zugeordnet werden, die sich durch eine akademisch kontrollierte Linienführung, charakteristische parallel angelegte Schraffuren und kontrastreiche Licht- und Schattenbildung auszeichnen. Auch aufgrund der gekonnten plastischen Wiedergabe in den weich modellierten Volumina lassen sie sich dem von etwa 1746/51 bis 1768 in Rom weilenden französischen Bildhauer und Zeichner Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793) zuschreiben, von dem um 1755 bis zu seiner Abreise nach Paris 1768 entstandene Zeichnungen nach römischer Bauornamentik auch in die Werkstatt von Giovanni Battista Piranesi gelangten. Charakteristisch für diesen Zeichner ist etwa die rasterhafte Kreuzschraffur mit Punkten, die hier zur Betonung der Quastenköpfe dient und auf anderen seiner Zeichnungen beispielsweise zur Akzentuierung von Pinienzapfen verwendet wurde (Abb. 15 und Abb. 16). Lhuillier galt geradezu als Spezialist für das Zeichnen römischer Bauornamentik, insbesondere von Halb- und Flachreliefs, die er jeweils in schwarzer oder roter Kreide wiedergab. Er erhielt auch entsprechende Aufträge von Architekten oder gab diesen selbst sogar Zeichenunterricht.
Abb. 15: Entwurf für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom (Detail), um 1764–1766, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-26-1
CC0 1.0Abb. 16: Nicolas François Daniel Lhuillier, Soffitte mit Blattranken (Detail), um 1755–1768, Rötel, 287 x 405 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-36-29-2
CC0 1.0Etwa zeitgleich mit der Entstehung dieser beiden Blätter zeichnete Lhuillier in der ersten Hälfte der 1760er Jahre als Schüler von Charles-Louis Clérisseau (1721–1820) für Architekten wie James Adam (1732–1794) und David Vogel (1744–1808), zudem stand er mit Johann Joachim Winkelmann (1717–1768) in Kontakt. Ab 1768 arbeitete er in Paris als wichtigster Mitarbeiter von François-Joseph Bélanger (1744–1818) und anderen Architekten als Ornamentbildhauer und fertigte klassizistische Bauornamente nach von ihm selbst in Rom gezeichneten Motiven. Wie das 1779–1781 neu gestaltete Speisezimmer im Château de Maisons-Laffitte bei Paris belegt, stellte Lhuillier auch seine zeichnerischen Fähigkeiten in den Dienst von Bélanger und fertigte plastische und sauber in schwarzer Kreide ausgeführte Präsentationszeichnungen an (Abb. 17), hier mit der Reinzeichung (IX 5159-35-27-1) stilistisch vergleichbar. Bislang ist aber noch völlig unklar, wo Lhuillier bildhauerisch ausgebildet wurde und was ihn befähigte, unmittelbar nach seiner Ankunft in Paris bauplastische Dekorationen von hoher Qualität auszuführen.[1] Sollte er schon für Santa Maria del Priorato gearbeitet haben, könnte man spekulieren, ob er bei dem Bildhauer Tommaso Righi eine entsprechende Ausbildung erhalten haben könnte.[2] Darüber hinaus gibt es unter den von Christoph Frank in der Kunstbibliothek Berlin identifizierten Zeichnungen, die er relativ sicher Lhuillier zuschreiben konnte, direkte stilistische Bezüge zu den hier diskutierten Blättern. So zeigt etwa die Turmkrone der Darstellung eines Reliefs aus dem Bosquet des Dômes in Versailles eine vergleichbar mit kurzen Strichen ausgeführte, klötzchenhafte Rustika (Abb. 18).
Abb. 17: Nicolas Lhuillier für François-Joseph Bélanger, Wandaufriss für das Speisezimmer im Château de Maisons-Laffitte, schwarze Kreide, 720 x 565 mm, Shatwell, Drawing Matter Collection, Inv. DMC 1004
© Drawing Matter 2022Abb. 18: Nicolas Lhuillier, Relief aus dem Bosquet des Dômes in Versailles, 1768–1778, schwarzer Stift, 286 x 217 mm, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Hdz. 3508
Fotonachweis: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Fotograf: Dietmar Katz, CC BY-NC-SA 4.0Der kräftige, zuweilen aggressive und auf Homogenität der ersten Stiftzeichnung keinerlei Rücksicht nehmende Duktus der Überarbeitungen in schwarzem Stift scheint hingegen auf eine weitere Hand hinzudeuten. Das Vorgehen ist charakteristisch für die Piranesi-Werkstatt und vergleichbar mit den Zeichnungen des Adlerreliefs (5159-35-35-1), des Aldobrandini- Reliefs (IX 5159-35-42-1), der Medici-Ranke (IX 5159-35-10-1) oder eines Kapitells (IX 5159-35-31-1), die jeweils in einem separaten Arbeitsschritt mit kräftigem Strich überarbeitet wurden. Die expressive Führung des Kreidestifts und die Hervorhebung wichtig erscheinender Partien lässt sich mit eigenhändigen Vedutenzeichnungen Giovanni Battista Piranesis in Verbindung bringen; so etwa mit den 1776 entstandenen Ansichten des Canopus der Hadriansvilla in der National Gallery in Washington.[3] Dort wurden – der Wiedergabe des linken Helmbuschs vergleichbar – Löcher im antiken Mauerwerk mittels entschiedener Kürzel in dunklerem Kreidestift angedeutet oder Kanten und Verschattungen mit kraftvollen Zickzacklinien betont (Abb. 19). Als eine der wenigen bekannten Zeichnungen Piranesis vollständig in schwarzer Kreide ausgeführt, zeigt die Vedute der Portikus des Gaius und Lucius in Rom vergleichbare in kräftigem Strich nachgezogene Linien oder kurze, bestimmte und „Haken schlagende“ Schraffuren, die in der Eigenart des Künstlers Details betonen und verlebendigen (Abb. 20). Vor dem Hintergrund des Entwurfsprozesses für den Deckenstuck könnte dies darauf hindeuten, dass Piranesi selbst oder ein enger Werkstattmitarbeiter diese Überarbeitung durchführte. Dabei wäre es denkbar, dass es sich bei dem ersten Blatt (IX 5159-35-26-1) um eine Kopie nach Piranesis eigenhändigem, noch stärker skizzenhaft gezeichnetem Entwurf handelt, der sukzessive ins Reine gezeichnet wurde.[4]
Abb. 19: Giovanni Battista Piranesi, Ansicht des Canopus in der Hadriansvilla, 1776, Rötel über schwarzer Kreide, 394 x 553 mm, Washington, National Gallery of Art, Inv. 1994.69.1
Public Domain Mark 1.0Abb. 20: Giovanni Battista Piranesi, Ansicht der Portikus des Gaius und Lucius in Rom, um 1760–1764, schwarzer Stift, 500 x 700 mm, The Trustees of the British Museum, 1905, 1110.65
CC BY-NC-SA 4.0Allerdings fanden – wie im Kapitel Graphischer Transfer und mediale Umsetzung gezeigt werden konnte – diese Korrekturen, die in der Reinzeichnung (IX 5159-35-27-1) aufgegriffen wurden, keine Berücksichtigung im ausgeführten Stuckrelief. Daher stellt sich die Frage, inwiefern sie für die Komposition und Ausführung des Reliefs tatsächlich von Belang waren. Denn einerseits könnten sie einen letztlich verworfenen Entwurf wiedergeben, andererseits wäre es möglich, dass die Überarbeitung des ersten Blattes (IX 5159-35-26-1) sowie die Reinzeichnung (IX 5159-35-27-1) eine eigenständige, von der Ausführung bewusst abweichende Redaktion darstellen. Der Vergleich mit einer eigenhändigen Zeichnung von Tommaso Righi schließt eine Beteiligung seiner Hand an diesen Blättern zumindest aus.[5]
Andrew Robison hat für das erste Blatt (IX 5159-35-26-1) bei seinem Besuch in Karlsruhe im April 2018 während eines Symposiums zu den Klebebänden aufgrund der zeichnerischen Qualität und der entwurfsartigen Wirkung eine Zuschreibung an Giovanni Battista Piranesi erwogen, ohne jedoch den direkten stilistischen Zusammenhang mit dem zweiten Blatt (IX 5159-35-27-1) zu kommentieren. Diese auch von Stefan Morét unterstützte Einordnung des ersten Blattes (IX 5159-35-26-1) wird vom Autor höchstens in Bezug auf die korrigierende Überarbeitung und die seitlichen Hintergrundschraffuren des ersten Blattes geteilt, da diesem ansonsten trotz hoher Qualität der für eigenhändige Zeichnungen Piranesis charakteristische gesamtheitlich spontan-kräftige Duktus fehlt.[6]
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Bereits 1768–1769 führte Lhuillier, unter Rückgriff auf seine in Rom gezeichneten Motive, für Bélanger die bauplastischen Dekorationen des Pavillon de Bains am Hôtel de Branca in der rue de l’Université in Paris aus, siehe: Georg Kabierske: Der sculpteur d’ornement Nicolas Lhuillier (um 1736–1793) und der goût à l’antique in Paris, Universität Heidelberg 2018, BA-Arbeit (unpubliziert), S. 7–10.
2. Auch Christoph Frank wies im mündlichen Austausch auf diese Möglichkeit hin.
3. Washington D. C., National Gallery of Art Inv. 1994.69.1.
4. Für das Umbauprojekt von San Giovanni in Laterano liegen auch großformatige Entwurfszeichnungen in der Hand von Giovanni Battista Piranesi sowie eines Werkstattzeichners in der Avery Architectural Library und der Morgan Library vor, die in sehr spontanem Duktus in Feder und brauner Tinte ausgeführt worden sind, siehe: Bent Sørensen: The Project for the Reconstruction of the Lateran Basilica in Rome, in: Sarah E. Lawrence (Hg.): Piranesi as Designer, New York 2007, S. 170–201.
5. Katarzyna Mikocka-Rachubowa: Włoscy rzeźbiarze na dworze króla stanisława augusta, in: Rocznik Historii Sztuki 29, 2004, S. 49–120, hier Abb. 30.
6. Nach eingehender Beschäftigung mit den Blättern muss der Autor seine in den vorangegangenen Publikationen erfolgte Zuschreibung an Giovanni Battista Piranesi korrigieren, ohne dabei jedoch die federführende Autorschaft des Künstlers im Entwurfsprozess dieser Komposition in Zweifel zu ziehen.
- Kunsthistorische Bedeutung
Bei den beiden in schwarzem Stift ausgeführten Zeichnungen (IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1) handelt es sich um eine innerhalb der Entwürfe für Santa Maria del Priorato bislang unbekannte Darstellungsart, die neue Fragestellungen bezüglich des Entwurfsprozesses, des intermedialen Transfers und der Umsetzung von Piranesis Entwürfen durch den Bildhauer Tommaso Righi aufwerfen. Trotz der Bedeutung dieser Bauaufgabe waren bislang nur neun Zeichnungen für die Kirche bekannt. Dank des Karlsruher Bestands, der mit der zentralen Stele des Vorplatzes noch eine dritte Architekturzeichnung (IX 5159-35-34-6) enthält, wächst dieser Corpus für Santa Maria del Priorato nun auf insgesamt 12 Blätter an.
Georg Kabierske
- Merkmale des Papiers
Wasserzeichen:
Kreisring mit unbekanntem Motiv (wahrscheinlich Lilie)Herstellungsmerkmale:
Ungefärbt; hohe Stärke; stark knötchenhaltiger Faserstoff mit holzigen Einschlüssen und wenigen, farbigen Fasern; nahe der Blattränder ungleichmäßige Stoffverteilung; feine Siebstruktur; ungleichmäßige Stegschatten; deutliche Filzmarkierung; mehrere, senkrecht zu den Kanten verlaufende Quetschfalten entlang der Ränder; gelatinegeleimt (UVF); im Reflexlicht deutlicher, gleichmäßiger Glanz durch starke Glättung der Oberfläche.
Maria Krämer
- Merkmale der Zeichenmedien
Schwarzer Stift (vermutlich Kreide) mit fetthaltigem Bindemittel (Details 1, 2, 3, 4): Wo kräftig aufgetragen, tiefschwarze, teils breite und furchige Striche; in halbdeckenden Bereichen unterschiedlich graues bis schwarzes Erscheinungsbild auch innerhalb gleicher Linien (Detail 4); in deckenden Bereichen kompakter, pastoser Strich, der auch die Täler der Papieroberfläche füllt, im Reflexlicht leicht glänzend; keine Hofbildungen erkennbar; feine, rundliche Partikel, unter Vergrößerung leicht glitzernd im Reflexlicht (Detail 1, close-up).
Nicht zur Entstehung der Zeichnung gehörende Farbmittel: Der insgesamt leicht graue Farbeindruck des Papiers ist auf einen gleichmäßigen Abrieb schwarzen Pigments (vermutlich Kreide) zurückzuführen.
Detail 1:Fetthaltiger schwarzer Stift, teils stark deckendenes Erscheinungsbild
Detail 2:Fetthaltiger schwarzer Stift in furchigem Auftrag
Detail 3:Fetthaltiger schwarzer Stift in unterschiedlicher Auftragsstärke
Detail 4: Auflicht
Fetthaltiger schwarzer Stift, unterschiedlich deckendDetail 5: Auflicht
Fetthaltiger schwarzer Stift über Zirkeleinstich, der in das Papier eingedrückt ist (erscheint hell)Detail 6a: Auflicht
Fetthaltiger schwarzer Stift in breitem Auftrag über Markierung in BlindlinienDetail 6b: Streiflicht
Fetthaltiger schwarzer Stift in breitem Auftrag über Markierung in BlindlinienMaria Krämer und Irene Brückle
- Zeichnerischer Prozess
Die in fetthaltigem schwarzem Stift ausgeführte Zeichnung reicht bis an die Kanten des unbeschnittenen Papierbogens. Das in der Stoffverteilung etwas unregelmäßig geformte Papier könnte einer minderen Qualität, etwa einem Konzeptpapier, entsprechen. Bei dem vermutlich als Sortenzeichen zu verstehenden Wasserzeichen, von dem nur ein Kreisring erkennbar ist, handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine Lilie.
Einzelne dreieckige Einstriche markieren Eckpunkte der Darstellung, z.B. die Perlstab-Umfassung des Schildes, insbesondere die Ecken der rautenförmigen Umrahmung. Die dreikantige Form der Einstiche lässt auf ein entsprechend geschliffenes Werkzeug, eventuell einen Zirkel, schließen (Detail 5). Eine Zirkelmarkierung ist auch oberhalb des Kreuzes in Form von sich überschneidenden Blindlinien zu finden (Detail 6). Das Motiv wurde wohl mit demselben Stift vorgezeichnet und anschließend kräftig überarbeitet. Die Linien des äußeren Rahmens der Kartusche wurden mit einem Lineal gezogen, nachdem das innere Motiv bereits angelegt worden war, denn in einigen Fällen überschneiden sie dessen Ränder. Die Abstände zwischen den Rahmenlinien wurden an allen Seiten etwa mittig mit kurzen Strichen markiert. An der rechten unteren Leiste wurde zusätzlich ihr Profil eingezeichnet. Die senkrechte und waagrechte Mittelachse sowie der mit einer weiteren Zierleiste umrahmte, teils verdeckte Wappenschild wurden nach Augenmaß gezeichnet. Dies deutet darauf hin, dass dem Entwurf ein weiterer vorausging, bei dem die Proportionen und Formen festgelegt worden waren.
In der Zeichnung sind Vorzeichnung und Überarbeitung nicht als zwei klar getrennte Schritte erkennbar, sondern gehen fließend ineinander über. Die einzelnen schnellen Striche wirken stellenweise unregelmäßig, weil der Stift beim Zeichnen offensichtlich zu ungleichmäßigem Abtragen neigte (Detail 4). Die einzelnen Motive wurden mit sicherem, breitem Strich angelegt, wobei die Konturen häufig korrigierend nachgearbeitet wurden und daher akzentuiert erscheinen. Alle Motive wurden zwar in schnellem Duktus, aber doch bis in das kleinste Detail ausgeführt, so etwa die Quasten oder der Perlstab der inneren Raute.
Die heraldischen Felder wurden so schraffiert, dass unterschiedliche Graustufen entstanden. Auf dem ovalen Wappen sowie auf der sie rahmenden, angeschnittenen Raute läuft die Schraffur durchgehend senkrecht. Das Feld der äußeren Rahmung wurde in Schrägen weitgehend parallel zu den Rahmenlinien schraffiert. Ausgenommen sind dabei Bereiche, in denen eine Schattierung hinzugefügt wurde, die unterschiedlich ausgerichtet, einen wolkigen Effekt erzielt. Die Darstellung erweiternd bilden weniger dichte, waagrechte Schraffuren eine ungefähr rechteckig angelegte Fläche, die das Motiv der Wappenkartusche umfassend, das Blatt fast vollständig bedeckt. Diese Vorgehensweise erzeugt einen malerischen Effekt, der aber auch den grauwertigen Grund einer Radierung bilden könnte. Links oben wurde – wie häufig bei Zeichnungen in den Karlsruher Piranesi-Alben zu beobachten – ein Detail zur Verdeutlichung wiederholt, in diesem Fall die linke Ecke der inneren Raute, in der das umlaufende Wellenband-Ornament über ein florales Element verknüpft ist.
Maria Krämer und Irene Brückle
- Merkmale historischer Nutzung
Unbeschnittener Bogen; verso Klebepunkte mit anhaftenden Papierfragmenten einer früheren Montierung entlang der Blattkanten, die auch eine ausgerissene Ecke u.l. verursachte; recto ebenfalls Klebstoffpunkte, teilweise im Bereich der Zeichnung; parallel zur kurzen Kante verlaufende Verwellungen; großer, hellgelb fluoreszierender Fleck (UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt) oberhalb des linken Helms; paarige Stecknadeleinstiche in den Ecken der Rauten nahe den Blattkanten.
Maria Krämer
- Prozesse historischer Nutzung
Die parallelen Verwellungen könnten dafür sprechen, dass die Zeichnung zu einem früheren Zeitpunkt gerollt transportiert oder aufbewahrt wurde. Mittig an den äußersten Papierrändern sind links und rechts paarige Stecknadeleinstiche erhalten. Sie weisen keine Spuren einer Öleinwirkung auf, weshalb ihr Zweck, etwa die Fixierung des Blattes auf einer Unterlage oder einem anderen Blatt, nicht weiter bestimmbar ist.
Montierungshistorie:
Mehrere rückseitige Klebepunkte und Papierreste belegen eine frühere Montierung auf einer Unterlage oder einem Album ähnlichen Formats. Der obere, eingeklappte Rand ist frei von Klebstoffspuren, die historische Montierung dürfte der heutigen Montierung entsprochen haben.
Maria Krämer
Schlagwörter
- Nicolas François Daniel Lhuillier
- Relief
- Schwarzer Stift
- Giovanni Battista Piranesi
- Piranesi-Werkstatt
- Wasserzeichen
- Italienisches Papier
- Santa Maria del Priorato
- Giovanni Battista Rezzonico
- Tomasso Righi
- Aventin
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- Maison-Laffitte
- Paris
- Osservazioni
- Della Introduzione
- Malteser-Orden
- Wappenkartusche
- Stuckrelief
- Trophäe
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- Helm
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- Stuck
- Adler
- Stilistische Gruppe 04
- Lilie im Kreisring
- IX 5159-35-26-1
GND-Begriffe
- Righi, Tommaso;
- Piranesi, Giovanni Battista;
- Lhuillier, Nicolas-François-Daniel;
- Rezzonico, Giovanni Battista
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