Dieselbe Komposition ist in gleicher Größe auf dem schon auf der direkt folgenden Albumseite eingeklebten Blatt IX 5159-35-27-1 ein zweites Mal gezeichnet. Während in der ersten Zeichnung (Abb. 1 ) die Umrisse in einer Art Findungsprozess noch mehrfach nachgefahren wurden, zeichnet sich dieses zweite, ebenfalls in schwarzem Stift ausgeführte Blatt (Abb. 2 ) durch klare Konturen und präziser ausgeführte Details aus. Das von oben links einfallende Licht unterstreicht die Dreidimensionalität des Reliefs. Es handelt sich um eine Reinzeichnung des Entwurfs, in der Korrekturen des ersten Blattes berücksichtigt wurden. Dies lässt sich besonders gut am zentralen Turm nachvollziehen, bei dem die Rustika um die Tür etwas verbreitert und so in die zweite Zeichnung übernommen wurde (Abb. 8). Ebenso wurden die Maschikuli-Bögen (Wurflochreihen) unter dem Zinnenkranz durch die Korrekturen vergrößert und dadurch aus der Ferne deutlich sichtbar gemacht. Die urspünglich nur skizzenhaft angelegten Meerwesen auf den Helmen wurden zu rundlich-muskulösen Gestalten ausgearbeitet, bisweilen um eine Muscheltrompete (rechts) oder um ein Segel (links) passend zur maritimen Ikonographie ergänzt. Durch den gekonnten Einsatz von Licht und Schatten, etwa im Bereich der Kordeln, des Helmschmucks und des Prälatenhuts, werden die verschiedenen Ebenen und die Plastizität des Reliefs besonders deutlich.
Abb. 8: Detailvergleich der beiden Zeichnungen für den Deckenstuck mit Wappenkartusche in Santa Maria del Priorato in Rom, um 1764–1766, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-26-1 (oben) und IX 5159-35-27-1 (unten)CC0 1.0
In der Ausführung entspricht das Stuckrelief den Zeichnungen weitgehend und erstaunlich präzise. Allerdings gibt es auch einige merkwürdige Abweichungen, die Fragen zur genauen Funktion der Karlsruher Zeichnungen aufwerfen: So hängen im ausgeführten Relief die Helmbüsche nur bis zum Kreuz herunter, das heißt,deren im zweiten Arbeitsschritt in die erste Zeichnung eingetragene sowie in die Reinzeichnung übernommene Verlängerung bis unterhalb des Kreuzes blieb unberücksichtigt (Abb. 9).
Abb. 9: Vergleich beider Zeichnungen mit dem ausgeführten Stuckrelief in Santa Maria del Priorato in Rom, 1764–1766; v.l.n.r.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 sowie Abb. 3CC0 1.0 Gleiches gilt für den Turmhelm mit seinen rundbogigen Maschikuli, deren Proportionierung dem Zustand vor der Überarbeitung entspricht. Ebenso orientieren sich die figürlichen Szenen auf den Helmen eher an der ersten, noch skizzenhaften Zeichnung: Auf dem linken Helm ist der Triton ohne Muschelhorn, auf dem rechten Helm ist die rechte äußere Figur ohne Segel und mit sichtbaren Fischflossen dargestellt (Abb. 10). Auch beim Blick auf die Quasten, die an den Kordeln des Hutes herabhängen, fällt ein Unterschied auf: Die rahmende Leiste wurde näher an sie herangerückt, sodass ein dichteres, von Überlagerung geprägtes Reliefbild entstand (Abb. 11).
Abb. 10: Detailvergleich beider Zeichnungen mit dem ausgeführten Stuckrelief in Santa Maria del Priorato in Rom, 1764–1766; v.o.n.u.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 sowie Abb. 3CC0 1.0 Abb. 11: Detailvergleich beider Zeichnungen mit dem ausgeführten Stuckrelief in Santa Maria del Priorato in Rom, 1764–1766; ; v.o.n.u.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 sowie Abb. 3CC0 1.0
Schon in der ersten Zeichnung kündigt sich diese Intervention durch einen schwarzen, abgeknickten Strich in der linken Ecke zwischen Quaste und Rahmung an. Auch wenn diese Korrektur in die Reinzeichnung übernommen wurde, ist die Rahmung am fertigen Relief nochmals etwas enger gesetzt. Darüber hinaus ist im Relief die in den Turm eingelassene Tür mit einer deutlich schwächer rustizierten, gleichförmigeren Rahmung als in beiden Zeichnungen wiedergegeben. Zudem weist sie eine gebogene statt einer horizontal-blockhaften Attika über dem Sturz auf (Abb. 12), trotzdem diese Elemente bei der Überarbeitung des ersten Blattes besonders betont und in die Reinzeichnung des zweiten Blattes übernommen worden sind. Auch der Perlstab des ovalen Schildes, das den Turm hinterfängt, ist im ausgeführten Relief eher als Kette mit dickeren und dünneren Gliedern statt mit gleichförmigen Kugeln wie in den Zeichnungen umgesetzt. Die Lorbeerblätter am Nackenschutz der Helme entfernen sich sogar ganz von den Karlsruher Zeichnungen, die diese Partie als rechteckige Streifen wiedergeben.
Abb. 12: Detailvergleich beider Zeichnungen mit dem ausgeführten Stuckrelief in Santa Maria del Priorato in Rom, 1764–1766; v.o.n.u.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-26-1 und IX 5159-35-27-1 sowie Abb. 3CC0 1.0 All diese Beobachtungen belegen, dass das ausgeführte Relief in seinen Details am ehesten dem Zustand der ersten Karlsruher Zeichnung vor der Überarbeitung entspricht, wobei es aber auch Partien gibt, die in der Stuckausführung grundsätzlich abweichend ausgeführt wurden.
Aufgrund dieser partiellen Unterschiede kann es als sicher gelten, dass die beiden Zeichnungen vor der Umsetzung in Stuck entstanden sind. Die Abweichungen lassen sich dabei als künstlerische Freiheiten des ausführenden Bildhauers Tommaso Righi erklären, möglicherweise entstanden sie auch in Rücksprache mit Piranesi vor Ort, da sie auf eine gewisse Vereinfachung und Straffung der Komposition im Hinblick auf die Fernwirkung abzuzielen scheinen. Vielleicht gab es für das Relief auch noch eine weitere, heute verlorene Zeichnung mit eingetragenen Abänderungen. Im Fall des größeren Reliefs in der Mitte des Kirchengewölbes lassen sich jedoch in der einzigen erhaltenen Federzeichnung der Morgan Library (Abb. 6 ) noch deutlich stärkere Unterschiede zwischen Entwurf und Ausführung beobachten.
Denkbar wäre, dass der Bildhauer jeweils eine Gruppe von Zeichnungen als Vorlage für das jeweilige Relief nutzte, zu denen neben einer Gesamtansicht auch Darstellungen von Details gehörten. Für den Newdigate-Kandelaber (IX 5159-35-46-1) ist eine solche separate Zeichnung (IX 5159-35-44-1 ), die nur ein Detail der Gesamtkomposition wiedergibt, in der Karlsruher Kunsthalle überliefert. Es ließe sich also vermuten, dass die Karlsruher Blätter neben weiteren Zeichnungen Tommaso Righi als Vorlage gedient haben. Vorstellbar wäre auch, dass diesen Zeichnungen eine dokumentarische Funktion zukam, d.h. die Komposition für die Motivsammlung der Werkstatt Piranesis festgehalten wurden. Denn im Gegensatz zu den Zeichnungen für die Stelen auf dem Vorplatz der Kirche (IX 5159-35-34-6) sind hier keine für die Ausführung notwendigen Maßangaben eingetragen, stattdessen steht die dreidimensionale Komposition des Reliefs im Fokus. Allerdings bleibt erstaunlich, dass Piranesi, der sich so gerne als Architekt sehen wollte, seine Entwürfe für Santa Maria del Priorato nicht in Radierungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte.
Da wir nur einen zufälligen Ausschnitt des Materials aus der Piranesi-Werkstatt kennen, fällt es ohne das Auffinden weiterer Zeichnungen schwer, die exakten Verbindungsketten der Werke untereinander nachzuvollziehen. Die beiden Karlsruher Zeichnungen legen jedoch nahe, dass es für jedes Relief in der Kirche mehrere Vorstudien gab. Letztendlich muss offenbleiben, inwiefern die Blätter, insbesondere das zweite, als finale Ausführungsentwürfe dienten oder ob sie nicht vielmehr einen wohl zusammengehörigen Abschnitt im Ausarbeitungsprozess darstellen beziehungsweise zur Dokumentation der Komposition dienten.
Georg Kabierske
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