Die Akanthusranke nach antikem Vorbild und ihre stilisierten Varianten sind in Renaissancealben, -drucken und -verzierungen durchaus herkömmliche Motive.[1] In einigen Zeichnungsalben und Drucken der Renaissance finden sich mehrere Rankenfriesfragmente aus der Sammlung Della Valle-Medici. Dabei wird selten ein vollständiges Rankenstück übernommen, häufiger sind Details einzelner Blüten dargestellt, wie z.B. im Album von Pierre Jacques (datiert 1576, Abb. 6) oder in den Drucken von Agostino Veneziano (um 1530/1536).[2]
Abb. 6: Pierre Jacques, Rankenblume, 1576, schwarze Kreide, 210 x 270 mm, Paris, Bibliothèque nationale de France, Département des Estampes et de la Photographie, Rés. Fb-18a-4 Quelle: gallica.bnf.fr / BnF, CC0 1.0 Bis zum 18. Jahrhundert werden gedruckte oder gezeichnete Ranken sehr stilisiert wiedergegeben wie etwa bei Antonio Lafréri (Abb. 2 ). Bisweilen sind sie auch nur approximativ an die Marmorstücke angelehnt, wie der Rankenfries im Zeichnungsalbum von Giuliano da Sangallo (um 1485, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ms. Barb. Lat. 4424, fol. 11), der oft mit der Medici-Ranke in Verbindung gebracht wurde, ohne jedoch im Detail übereinzustimmen.[3] Vor Piranesis Druck wurde der hier untersuchte Rankenteil nie so präzise dargestellt wie im Codice Zichy (ca. 1535, fol. 105r, Budapest, Bibliothek Szabó Ervin), auf dem das kleine Nest im Rankenblätteransatz, der Vogel mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Blütenstand und der Greifvogel mit der Schlange in den Krallen zu sehen sind.[4]
Im 18. Jahrhundert erfuhren die Akanthusrankenfragmente der Della Valle-Medici-Sammlung eine breite und weniger stilisierte, dafür jedoch idealisierte Rezeption als Ornamentmotive – u.a. durch Lhuilliers Zeichnungen und Graphiken. Im römischen Zeichnungskontext der 1760er Jahre entstanden sicherlich weitere nicht identifizierte oder verlorene Abklatsche sowie gezeichnete Kopien. So finden sich mehrere Rankenzeichnungen in der Sammlung von Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (1736–1800), der ein enges Verhältnis zu Piranesi pflegte und von seinem ersten (1765–1766) oder zweiten (1770–1771) Romaufenthalt Ornamentzeichnungen nach Deutschland mitbrachte. Unter ihnen befindet sich eine Zeichnung auf grau-blauem Papier, die ebenfalls Lhuillier zugeschrieben wird.[5] Auf der Grundlage solcher Zeichnungen müssen die folgenden zwei Druckgraphiken entstanden sein. Die erste, erschienen im Livre d’ornements (ca. 1772, Abb. 7), gibt das Rankenstück im unteren rechten Wandbereich der Loggia di Cleopatra wieder (Abb. 8).
Abb. 7: Nicolas François Daniel Lhuillier/Doublet, Akanthusrankenrelief, Radierung, ca. 494 x 315 mm, in: Livre d’ornements à l’usage des artistes, Paris um 1772/73 (?), Taf. 13, Paris, Institut National d'Histoire de l'Art, Bibliothèque Jacques Doucet, Fol Est 611CC0 1.0
Abb. 8: Akanthusrankenfragment, Anfang des 1. Jahrhunderts nach Chr., Marmor, 240 x 100 cm, Rom, Villa Medici, Loggia di Cleopatra (rechte Wand unten) Foto: Celia Zuber, CC0 1.0 Dort ist kein Vogelnest in den Rankenblättern zu sehen. Außerdem erscheint statt des Greifvogels auf dem Stängel über der offenen Blume ein kleinerer Vogel im Profil und unter der geschlossenen Blüte sitzt ein weiterer Vogel mit ausgebreiteten Flügeln. Dieses Rankenstück ist auch in einer mit „Villa Medici“ beschrifteten Zeichnung in den Londoner Adam-Alben (vol. 26/76) dargestellt.[6] Die zweite Druckgraphik, erschienen im Recueil d’ornemens , publiziert von Chéreau ab 1778 (Abb. 9), kombiniert die beiden hier erwähnten Rankenfragmente.
Abb. 9: Elisabeth Brinclaire, Fries mit Medici-Ranke, Crayonmanier, ca. 640 x 460 mm, in: Élisabeth Brinclair/André Louis/Jacques-François Chéreau, Recueil d’ornemens, Paris ab 1778, Paris, Institut National d'Histoire de l'Art, Bibliothèque Jacques Doucet, Inv. Pl Est 105CC0 1.0 Der Greifvogel, der die Schlange in seinen Krallen gepackt hat, entspricht der Karlsruher Zeichnung bzw. Piranesis Druckgraphik. Das Vogelnest hingegen wurde weggelassen. Die geschlossene Blume nähert sich dem zweiten, ebenso im Livre d’ornements abgebildeten Friesteil an. Dieser Druck sollte offenbar ein nach der Antike geschaffenes und dem Ornamentstudium dienendes Vorbild sein, wobei eine genaue Übereinstimmung mit einem der realen Marmorfragmente nicht wichtig war. Darüber hinaus ist vielleicht bei der Entstehung dieses zweiten in Paris erschienenen Druckes des Recueil d’ornemens , der Unterschied zwischen den beiden sehr ähnlichen Rankenfragmenten während des Kopierprozesses mit der Zeit verloren gegangen. Über die Ornamentpublikationen von Lhuillier wurde dieses Motiv als Studienmuster im Rahmen der akademischen Architektur- und Zeichenlehre in Frankreich rezipiert.[7] Im römischen Kontext sind im Ornamenthandbuch Raccolta di Ornati esattamente da marmi antichi copiati da P.V. (1770/1780?), dessen Autor bis jetzt nur hypothetisch identifiziert werde konnte, zwei Rankenstücke in zwei Tafeln dargestellt sowie vier vergrößerte Detailabbildungen in vier weiteren Tafeln. Diese weisen wiederum auf die Rezeption der Medici-Rankenstücke als Musterblätter im Rahmen der Zeichenlehre und als Teil eines kanonisierten Ornamentrepertoirs (Abb. 10).[8]
Abb. 10: Francisco Presciado la Vega (?), Medici-Ranke, Radierung, 156 x 220 mm, in: Raccolta di Ornati esattamente da marmi antichi copiati da P.V., Taf. 33, um 1770?, Rom, Biblioteca di archeologia e storia dell'arte, Fondo Lanciani, RARI 253 In. 00014059 (leg. In perg. 20) Foto: Bénédicte Maronnie, CC0 1.0
Vom zweiten Akanthusrankenfragment (Abb. 8 ) existiert im Vogel-Escher Album eine große Zeichnung in schwarzer Kreide, die Lhuillier zugeschrieben wird (Abb. 11) und durch den römischen Aufenthalt des Züricher Architekten und Lhuillier-Schülers David Vogel (1744–1808) in die Jahre 1763–1765 datiert werden kann.[9]
Abb. 11: Nicolas François-Daniel Lhuillier, Akanthusranke, um 1760–1765, schwarze Kreide, 966 x 660 mm, Zürich, Zentralbilbiothek, Vogel-Escher Album, FA Escher vG 188.6, fol. 93CC0 1.0
Dasselbe Rankenstück erscheint als Fragment in dem schon erwähnten Rötelabklatsch der Sammlung von Pierre-Adrien Pâris in Besançon (dort ist der fliegende Vogel mit ausgebreiteten Flügeln erkennbar, Abb. 4 ). Die dichten Parallelllinien im Hintergrund erinnern an Lhuilliers Zeichenmanier, doch unterscheidet sich die Schattenbildung, die weniger schematisch als bei Lhuillier erscheint, sowie die feineren und weniger idealisierten Details wie beispielsweise der Vogel. Daher stammt die diesem Abklatsch zugrunde liegende Zeichnung wohl von einer anderen Hand und ist vermutlich im französischen Umfeld der Akademie im Palazzo Mancini zu suchen. Eine Verbindung zum französischen Umfeld wird durch die Darstellung derselben Ranke in einer der Ornamenttafeln des sogenannten Recueil de Griffonis bestätigt. Diese von Abbé de Saint-Non (1727–1791) nach Zeichnungen verschiedener Künstler radierte und zusammengestellte Serie entstand zwischen 1755 und 1778. Die Tafeln, die eine Auswahl von antiken Gegenständen und Ornamenten zeigen, wurden in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre bis ca. 1763 hauptsächlich unter Mitarbeit von Hubert Robert und Jean-Honoré Fragonard realisiert.[10] Eine Zeichnung und ein weiterer Abklatsch in der Sammlung von Pierre-Adrien Pâris in Besançon (Abb. 12a und b) stellen das Rankenstück mit anderen antiken Gegenständen dar.
Abb. 12a: Ornamentzeichnung mit Medici-Ranke, Zeichnung in schwarzer Kreide, 272 x 199 mm © Bibliothèque municipale de Besançon, Sammlung Pierre-Adrien Pâris, vol. 454, fol. 254Abb. 12b: Ornamentzeichnung mit Medici-Ranke, Abklatsch in schwarzer Kreide, 260 x 196 mm © Bibliothèque municipale de Besançon, Sammlung Pierre-Adrien Pâris, vol. 454, fol. 186
Möglicherweise wurden diese Zeichnungen und ihre korrespondierenden Abklatsche als eine Art Probedruck benutzt, um einen Eindruck der Komposition vor dem Druck zu erhalten.[11] In diesem Fall wurden im endgültigen Druck gleich mehrere Komponenten wie etwa die Vase in der mittleren Reihe (Abb. 13) geändert.
Abb. 13: Ornamentblatt mit Medici-Ranke, Radierung, 307 x 210 mm, in: Abbé de Saint-Non, Recueil de Griffonis, vor 1763, Los Angeles, Getty Research InstituteCC0 1.0
Außerdem wurde der hier besprochene Abklatsch nicht nach der Zeichnung in Besançon gefertigt, sondern nach einer anderen, unbekannten Vorlage.[12] Die Existenz von so zahlreichen – gleichen oder leicht variierenden – Kompositionen und von Abklatschen weist auf die Funktion dieser Blätter als gezeichnete Vorläufer der Drucktafeln: Denn durch ein systematisches Kopier- und Abklatschverfahren wurden die Kompositionen bereits vor der Veröffentlichung der gedruckten Serie verbreitet.
Das in Piranesis Werkstatt entstandene Rankenstück scheint hingegen nicht oft nachgezeichnet worden zu sein. Eine der wenigen Kopien ist im Zeichnungsalbum des in Rom tätigen spanischen Architekten Domingo A. Lois Monteguado nachweisbar (1723-1786, Madrid, Biblioteca Nacional de España , Inv. dib/18/1/9225).[13] In der Gruppe von Zeichnungen, die vom Züricher Architekten Hans Kaspar Escher (1775–1859) aus Rom nach Zürich gebracht wurden und heute in der Zentralbibliothek Zürich (FA Escher 188.6) aufbewahrt werden, befindet sich zudem ein Blatt in schwarzer Kreide, das als Kopie der hier untersuchten Karlsruher Medici-Ranke gelten kann (Abb. 14, siehe Prozesse historischer Nutzung ).
Abb. 14: Hans Kaspar Escher (?) nach Nicolas François-Daniel Lhuillier, Akanthusranke (Medici-Ranke), um 1793–1797, schwarze Kreide, 602 x 251 mm, Zürich, Zentralbibliothek, FA Escher vG 188.101, Falz 11, Zeichnung 22CC0 1.0
Die Karlsruher Zeichnung wurde zum Teil abgepaust, wie die steif wirkenden Konturlinien einiger Rankenblätter ahnen lassen. Weitere Details, zum Beispiel die kleinen Tiere, scheinen dagegen freihändig eingearbeitet worden zu sein. Die Überarbeitungen in schwarzer Kreide wurden beim Kopieren zum Teil übernommen. Auf der Rückseite der Züricher Zeichnung steht der Hinweis „Nach französischer Zeichnung pausende antike Thürverkleidung“. Autor dieser Notiz ist vermutlich Escher selbst, der auch weitere Zeichnungen annotierte und daher wohl auch als Autor der Kopie betrachtet werden kann. Dieser Zusammenhang beweist, dass die Zeichnungen in Zürich und in Karlsruhe zu Weinbrenners und Eschers Zeit Ende der 1790er Jahre ein gemeinsames Konvolut bildeten. Der Hinweis auf ein französisches Vorbild lässt unvermeidlich an Lhuillier denken. Da dieser jedoch nicht explizit genannt wird, kannte Escher ihn wahrscheinlich nicht als Autor der Zeichnungen. Zur damaligen Zeit war es üblich, derartige Rankenfriese als Spolien in den Türrahmungen römischer Kirchen oder Gebäude einzubauen. Obwohl die Ranke in der Notiz als Türverkleidung bezeichnet wird, bedeutet dies daher nicht zwangsläufig, dass der Zeichner diese Spolie auch an einer solchen Stelle gesehen haben muss, denn er kopierte das gezeichnete Vorbild und nicht das Relief selbst. Auch muss sich das Relief zur Entstehungszeit der Kopie nicht an dieser Stelle befunden haben. Zu Eschers Zeit standen die Rankenstücke vermutlich wie in Piranesis Druckgraphik entweder als freier Marmorblock im Eingangsraum oder im Garten der Villa, oder sie waren schon in der Loggia di Cleopatra eingemauert. Die Notiz scheint also eher auf einen allgemeinen Gebrauch solcher Rankenfragmente zu verweisen.
Bénédicte Maronnie
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