Vielleicht handelt es sich hier um eine Entwurfszeichnung für die „Restaurierung“ der Marmorvase, in der Piranesi seine erste Idee für deren Gesamtkomposition festhielt. Neben der überaus spontanen und suchenden Linienführung entsteht anhand der dunklen Schraffuren am unteren Rand des Vasenkörpers wie auch im Blick auf den höher ausgreifenden, fast bis an den Abschlussrand des Vasenbauches reichenden Schwung der oberen Ranke der Eindruck, als sei das Weinreben-Eroten-Relief zunächst sehr viel größer, ausgedehnter geplant gewesen und erst in einem zweiten Entwurfsschritt der Lanzettblattfries kräftig darüber skizziert worden (Abb. 3). Für diese These sprechen auch Piranesis eigenhändige Zeichnungen für Marmorkompositionen im Taccuino B der Bibliotheca Estense in Modena (Abb. 4).[1] Diese Skizzen sind zwar deutlich kleiner, weisen jedoch einen vergleichbaren spontanen und zügigen Duktus sowie eine ähnliche summarische Wiedergabe der skulpturalen Form auf.
Abb.3: Offenbar in einem zweiten Schritt eingezeichnete Lanzettblätter am Vasenkörper, Skizze der Stowe-Vase (Ausschnitt), Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-40-1vCC0 1.0 Abb. 4: Giovanni Battista Piranesi, Skizze einer monumentalen Urne (Marmorversion heute im Antikenmuseum Gustav III., NMSk 184), vor 1773, Rötel, 185 x 130 mm, Modena, Biblioteca Estense, Taccuino B (Ms. Campori 1522; GAMMA.Y.06.32), fol. 14 Courtesy Ministero della Cultura – Gallerie Estensi, Biblioteca Estense Universitaria, CC BY-NC-SA 4.0
Diese These könnte auch erklären, weshalb auf der heutigen Vorderseite des Karlsruher Blattes die Stowe-Vase erneut, aber zu einem anderen Zweck dargestellt wurde. Nachdem unsere Entwurfsskizze ihren Zweck erfüllt hatte, könnte demnach das Blatt umgedreht und in dem für die Piranesi-Werkstatt üblichen Verwertungsprozess von Makulaturpapieren abermals als Zeichengrund genutzt worden sein.
Ob die skizzenhafte Ansicht der Vase tatsächlich auch vor der Frontalansicht der Vorderseite entstanden ist, ist schwer zu sagen. Zumindest entstanden die zufälligen Kontaktabdrücke mit einer Rötelpause des Vasenhenkels am unteren Rand der Rückseite, die im Zeichenprozess der Vorederseite Verwendung fand, nachdem die perspektivische Skizze bereits vorhanden war (siehe Prozesse historischer Nutzung ). Alternativ könnte es sich auch um den Entwurf für eine perspektivische Ansicht handeln, die vielleicht für die Vasi, candelabri vorgesehen war, dann aber verworfen wurde. Es bleibt Spekulation, ob Piranesi auch für die anderen in Karlsruhe erhaltenen Vasen- und Kandelaberzeichnungen gleichartige spontane Zeichnungen angefertigt haben könnte, die anschließend von Werkstattmitarbeitern in lesbare und für die Umsetzung in die Radierung detailliertere Zeichnungen übertragen wurden. Aufgrund des skizzenhaften Charakters der Zeichnung ist diese zweite These jedoch weniger wahrscheinlich.
Im Verhältnis zum recto steht die Zeichnung des verso überdies auf dem Kopf. Maria Krämer entdeckte, dass die Zeichnung zu einem Zeitpunkt vor der Montierung in diesem Album jedoch hier an der Unterkante auf der recto- Seite aufgeklebt war und umgefaltet werden konnte, sodass man zeitweise beide Vasen aufrecht betrachten konnte (Siehe Historische Montierung ). Wann und in welcher Absicht das geschah, ist jedoch unklar. Die Montierung könnte auch erfolgt sein, als die Zeichnungen ihre Ursprüngliche Funktion schon verloren hatten. Es muss nicht zwangsläufig ein direkter funktionaler Bezug zwischen recto und verso bestanden haben, als die Frontalansicht der Stowe-Vase gezeichnet wurde.
Da nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem Material der Piranesi-Werkstatt vorliegt, müssen Versuche zur Rekonstruktion von Kausalitäten und wechselseitigen Abhängigkeiten grundsätzlich mit Vorsicht betrachtet werden. Denn wir wissen nicht, wie viele weitere Zeichnungen es zu den Marmorkompositionen noch gegeben hat und wie genau der Restaurierungs- und Kompositionsprozess in der Kommunikation mit den beauftragten Bildhauern ablief. Welchem Zweck die vorliegende Zeichnung diente, ist daher nicht eindeutig zu beantworten.
Georg Kabierske
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