In schwarzer Kreide, vereinzelt auch in Rötel, ist auf dem Blatt eine antikisierende Vase in Form eines Kraters mit extravaganten Schlangenhenkeln, Ornamenten, Weinreben und Eroten gezeichnet. Die letzteren beiden Elemente verweisen auf den Kontext des Weingotts Dyonisos, der in der griechisch-römischen Mythologie rauschende Feste veranstaltete. Diese Ikonographie passt zur Gefäßform, denn in der griechischen Antike diente ein Krater als Mischgefäß, in dem Wein mit Wasser verdünnt zum Trunk serviert wurde.
Mit Ausnahme komplexerer Elemente wie das Rankenrelief am Vasenbauch und die beideseitig dargestellten Schlangenhenkel ist nur die linke Hälfte der Vasenzeichnung nahezu vollständig ausgearbeitet. Dieses exemplarische Vorgehen, streng symmetrisch zu ergänzende ornamentale Partien nur einseitig zu zeichnen, ist ein typisches Merkmal der Zeichnungen der stilistischen Gruppe 11 , die mit den Vasi, Candelabri in Verbindung stehen.
Bei dem dargestellten Objekt handelt es sich um die sogenannte Stowe-, Grenville- oder Buckingham-Vase, eine 119,38 x 101,6 x 76,2 cm große Marmorkomposition aus der Antikensammlung von George Grenville, 3rd Earl Temple (1753–1813) (Abb. 1).
Abb. 1: Stowe-Vase, zwischen 1769–1774 (mit antiken Fragmenten), Marmor, 119,38 × 101,6 × 76,2 cm, Los Angeles County Museum of ArtPublic Domain Mark 1.0 Der englische Adelige, 1784 zum Marquis of Buckingham erhoben, hat sie während seiner Grand Tour nach Italien bei Giovanni Battista Piranesi 1774 erworben. In der Folge wurde sie in seinem englischen Landhaus Stowe aufgestellt, wo das Stück bis zu einer Auktion 1848 verblieb.[1] 1951 kam sie mit der Sammlung von William Randolph Hearst (1863–1951) in das Los Angeles County Museum of Art, wo sie sich noch heute befindet.[2]
Kurz nachdem die Stowe-Vase nach England verkauft worden war, publizierte sie Piranesi 1775 in Frontal- und Seitenansicht (laut dem Katalog von 1792) in seiner Serie Vasi, Candelabri (Abb. 2 und Abb. 3 ).[3] In der Beschreibung behauptet er, es sei eine antike Vase („Vaso antico di Marmo “), die 1769 von Gavin Hamilton im Pantanello auf dem Gelände der Hadriansvilla bei Tivoli gefunden worden sei.[4]
Jedoch handelt es sich hier nicht um ein genuin antikes Objekt. Derartige Marmorskulpturen wurden von Piranesi und seiner Werkstatt ab den späten 1760er Jahren aus antiken Marmorfragmenten, die zwischen 1769 und 1773/1774 durch den Antiquar Gavin Hamilton (1723–1798) und Piranesi im Sumpfgebiet von Pantanello, einem Teil der berühmten Hadriansvilla bei Tivoli, ausgegraben worden waren, und aus neugeschaffenen Teilen kompilativ zu antikisierenden Kreationen zusammengesetzt.[5] Diese Marmorkompositionen, auch Pasticci genannt, wurden von Piranesi als opere romane [6] bezeichnet und in diesem Sinne als „echte Antiken“ in den Ausstellungsräumen des Künstlers im Palazzo Tomati in Rom einem finanzstarken europäischen Publikum zum Kauf präsentiert. Zahlreiche dieser Objekte wurden zudem zwischen 1768 bis 1778 in der Druckserie Vasi, Candelabri publiziert, die auch als eine Art Werbekatalog und Referenz auf Produktionen der Piranesi-Werkstatt aufmerksam machen sollte. Die angebliche Fundgeschichte und Bedeutung der Stücke als auch der Verbleib bereits verkaufter Objekte wird dabei durch Kommentare und Beschreibungen belegt.
Für diese sogenannten „Restaurierungen“ nach eigenen Vorgaben beauftragte Piranesi spezialisierte Bildhauer wie zum Beispiel Antoine Guillaume Grandjaquet (1731–1801), Annibale Malatesta (um 1754–nach 1825) oder Lorenzo Cardelli (1733–1794). Inwiefern darin auch Bartolomeo Cavaceppi (ca. 1716–1799) involviert war oder ob Piranesi diesem nur antike Objekte verkaufte, konnte bislang nicht geklärt werden.[7] Die Bildhauer führten die Bruchstücke geschickt zusammen, überarbeiteten oder ergänzten sie in einer den antiken Fragmenten entsprechenden Qualität, sodass die Unterscheidung zwischen antiken Originalen und Nachahmungen noch heute Schwierigkeiten bereitet. Anders als von Piranesi angegeben deuten Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit des Newdigate-Kandelabers (IX 5159-35-46-1 ) in Oxford und des Rhyton-Kandelabers (IX 5159-36-30-1 ) im Stockholmer Antikenmuseum Gustav III. aber darauf hin, dass bei diesen Skulpturen die neu geschaffenen Elemente deutlich überwiegen, wobei absichtlich Risse und Brüche in den Marmorstücken herbeigeführt wurden, um den Eindruck eines restaurierten antiken Originals zu erwecken.[8] Prinzipiell handelt es sich bei diesen Komposition jedoch nicht um plumpe Fälschungen. Denn aus Piranesis theoretischen Schriften wie Parere su l’architettura (1767) oder den Diverse maniere (1769) geht hervor, dass er mit seinen Kreationen die Erschaffung einer neuen einfallsreichen Formensprache anstrebte. Statt den klassischen Regeln der Architektur streng zu folgen oder bekannte antike Skulpturen nur nachzuahmen, forderte er einen kreativen Prozess, in dem durch Vielfalt, Variation und Kombination antiker Einzelelemente unterschiedlicher Herkunft Neues entstehen, gleichzeitig jedoch historisch-antik wie ein archäologisches Objekt wirken sollte. Piranesi sah sich in der Tradition der römischen Antike, die das Formen- und Stilrepertoire anderer Kulturen und Völker zu einer neuen und eigenständigen kulturellen Identität zusammenführte.[9]
Im Fall der Stowe-Vase ist davon auszugehen, dass nur der Vasenkörper, vielleicht auch die Ansätze der Henkel und Köpfe der Schlangen, antike Fragmente enthalten, während die fragil ausgreifenden Henkel und der Vasenfuß vollständig ergänzt wurden. Ausgehend vom Blickwinkel der Karlsruher Zeichnung scheint der linke obere Erote in Oberkörper und ausgehöhltem Hinterkopf aus einem antiken Fragment zu bestehen. Folgt man Pierluigi Panza, so stammen die Eroten größtenteils aus der Piranesi-Werkstatt, ebenso seien der Hals des Gefäßes sowie die Schlangenhenkel neu angefertigt worden.[10] Die Vase muss zwischen dem von Piranesi angegebenen Funddatum 1769 und dem Verkauf an George Grenville 1774 entstanden sein.
Die Karlsruher Zeichnung gibt die Vase in der Frontalansicht wieder, wie sie auch in der 1775 erstmals gedruckten Ansicht auf Tafel 15 der Vasi, candelabri zu sehen ist. Im Druck steht die Vase zudem auf einem Sockel in Form eines antiken Altars, von Piranesi als „antico Pulvinare di Marmo “[11] bezeichnet, der sich seiner Angabe zufolge zur Zeit der Publikation auch in England befinden sollte. Dieser wurde jedoch nicht durch Grenville erworben, sondern von dem englischen Sammler Lyde Brown (? – 1787), der ihn zusammen mit anderen Stücken, darunter auch der sogenannten Lyde-Brown-Vase (IX 5159-35-39-1 ), an die Zarin Katharina II. nach Russland verkaufte. Heute befindet sich der Sockel daher in der Eremitage Sankt Petersburg.[12] Der Sockel im Los Angeles County Museum stammt hingegen nicht von Piranesi und ist neueren Ursprungs.[13] Wie sich auch anhand anderer Beispiele zeigen lässt, arrangierte Piranesi seine Antikenkompositionen in den Vasi, Candelabri teils neu beziehungsweise ergänzte sie um Stücke anderer Sammlungen, um alternative Vorschläge für deren Aufstellung und Arrangement anzubieten (siehe auch IX 5159-35-21-3 , Graphischer Transfer und mediale Umsetzung ).
Georg Kabierske
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