Eine Motivkette bildet sich aus den mehreren, in verschiedenen Sammlungen identifizierten gezeichneten Exemplaren der Säulenbasis. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Kopien ist nicht immer eindeutig zu definieren. In Zürich hat sich im Vogel-Escher-Album ein großes Konvolut solcher großformatigen Reinzeichnungen von Säulenbasen und Kapitelle erhalten. Darunter befindet sich ein vergleichbares Exemplar der Säulenbasis aus dem Baptisterium der Lateranbasilika (Abb. 4).
Abb. 4: Nicolas François Daniel Lhuillier (oder nach ihm?), Säulenbasis aus dem Baptisterium der Lateranbasilika, um 1764/65, schwarze Kreide, 630 x 406 mm, Zentralbibliothek Zürich, Vogel-Escher-Album, FA Escher vG.188.6, fol. 60Die Zeichnungen stammen aus dem Besitz des Züricher Architekten David Vogel (1744-1808), der sich von 1763 bis 1765 in Rom aufhielt, um dort seine Ausbildung fortzuführen.[1] Briefe von Johann Friedrich Reiffenstein und Johann Joachim Winckelmann belegen, dass Vogel in Rom mit Lhuillier in engem Kontakt war. Vogel erhielt von seinem Lehrer Zeichnungen und lernte bei ihm auch das Zeichnen von Ornamenten.[2] Die vierzig Ornamentzeichnungen in Zürich stammen also aus dem römischen Kontext und sind 1764/65 in der Zeit von Vogels dortigem Aufenthalt zu datieren. Ob sie von Lhuillier und/oder von Vogel nach Lhuilliers Vorlagen gezeichnet wurden, ist vor dem Hintergrund des Bemühens um möglichst genaue stilistische Wiedergabe der Vorlagen nicht oder nur in einigen Fällen eindeutig zu beantworten. Es könnte sich bei diesen Blättern um die in Reiffensteins Briefen von 1764 erwähnten Zeichnungen handeln, die Vogel von Lhuillier zeichnen ließ.[3] Möglicherweise handelt es sich aber um die 40 an seinem Vater gesendeten Zeichnungen, die Vogel in einem undatierten Brief (vermutlich von Ende 1765) erwähnt.[4] In diesem Schreiben nennt Vogel den Autor der Zeichnungen nicht, als ob er sie zumindest zum Teil selbst angefertigt hätte. Aufgrund der schriftlichen Quellen zu Vogels Aufenthalt in Rom kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich darunter auch eigenhändige Zeichnungen Lhuilliers befanden. Die Zeichnungen gingen 1859 als Schenkung des Architekten und Schüler Weinbrenners, Hans Caspar Escher (1775–1859), an die Stadtbibliothek (heute Zentralbibliothek) Zürich über.[5]
Die Zeichnung der Säulenbasis in Karlsruhe ist einige Zentimeter größer als die in Zürich, die ebenso monumental erscheint. Die Wahl eines großen Formats für die Darstellung kann durch ihre Verwendung als Vorlagen im Zeichenunterricht erklärt werden. Beim genauen Betrachten beider Zeichnungen fallen Unterschiede in einzelnen Details auf, beispielsweise innerhalb der Wellenranke in der rechteckigen Fußplatte oder im Palmettenfries (Abb. 5).
Abb. 5: Detailvergleich zwischen Säulenbasis aus dem Baptisterium der Lateranbasilika, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-38-1, und Abb. 4CC0 1.0 Diese Veränderungen gründen wohl auf einem anderen Ergänzungs- bzw. Interpretationsvorschlag des antiken Motives in der idealisierenden Zeichnung. Der Vergleich mit dem antiken Vorbild zeigt jedoch, dass die Zeichnung in Zürich wohl nach der Säulenbasis links von der Tür der Vorhalle (Abb. 6) und die Karlsruher Zeichnung nach dem rechten Gegenstück (Abb. 1 ) gezeichnet wurde. Dies fällt vor allem in den Variationen der Blumen in der Fußplatte auf. Diese Unterschiede machen auch klar, dass trotz ihrer Ähnlichkeit die eine Zeichnung nicht direkt nach der anderen kopiert wurde. Wie in diesem Beispiel greift Lhuillier in seiner seriellen Zeichnungsproduktion häufig den repetitiven, jedoch variierenden Charakter der römisch-antiken Ornamentkunst auf. Dabei weisen die Zeichnungen innerhalb eines spezifischen Ausführungsmodus auch Unterschiede auf, wie man bei der Kopierpraxis von oder nach Zeichnungen Lhuilliers beobachten kann (siehe dazu Essay „Stilistische Gruppen“, Gruppen 5, 6 und 7 ). Betrachtet man den Wulst mit Flechtband in beiden Blättern, so merkt man, dass in der Züricher Zeichnung die Linien den Kurven des Motivs gleichmäßig folgen und die Schattenpartien stärker verwischt sind. In der Karlsruher Zeichnung sind die Schraffierungen hingegen auch gekreuzt, wirken wie flirrend und sind vor allem weniger verwischt (Abb. 7).
Abb. 6: Baptisterium der Lateranbasilika, südöstliche Seite, Vorhalle: Linke Säulenbasis Foto: Bénédicte Maronnie, CC0 1.0
Abb. 7: Vergleich eines vergrößerten Details der Säulenbasis aus dem Baptisterium der Lateranbasilika, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-38-1, und Abb. 4CC0 1.0 Die Zeichnungen in schwarzer Kreide aus der Sammlung Pacettis, die heute in der Kunstbibliothek Berlin aufbewahrt sind, stehen in der Qualität der Ausführung der Karlsruher Zeichnung näher als die Zeichnung der Säulenbasis in Zürich (Abb. 8).[6]
Abb. 8: Detailvergleich von Ornammentmotiven, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-38-1, und Lhuillier oder nach Lhuillier, 1770er Jahre, schwarze Kreide 132 x 195 mm und 135 x 314 mm, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, HdZ 621 und 617 Fotonachweis: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Fotograf: Dietmar Katz, CC BY-NC-SA 3.0 DE Anhand dieser unterschiedlichen Qualität der Ausführung wird die Komplexität der Zuschreibungsfrage deutlich. Zum einen kann vermutet werden, dass die Züricher Zeichnung trotz der Unterschiede zur Karlsruher Zeichnung von Lhuillier gezeichnet wurde. Es ist nämlich kaum vorstellbar, dass Lhuillier während seines mehrjährigen Romaufenthalts (um 1755 bis 1768) die Bauornamente immer exakt gleich kopierte. Aufgrund der schriftlichen Quellen und des damaligen Kontextes des Zeichenunterrichts in Rom liegt zum anderen aber auch die Vermutung nahe, dass die Züricher Zeichnung 1765 von Vogel nach Lhuilliers Vorlage gezeichnet wurde. Dies würde bedeuten, dass Vogel am Ende seines römischen Aufenthaltes zu den begabtesten Nachahmer Lhuilliers zählte. Aufgrund der angestrebten Objektivierung des dargestellten Motivs durch die für Lhullier typische Zeichenart sowie des eher technischen als künstlerischen und zudem repetitiven Kopiervorgang durch andere Zeichner kommt die stilistische Händescheidung ohne Signatur oder zusätzliche schriftliche Quellen an ihre Grenzen. Eine weitere Zeichnung der linken Hälfte der Basis in Feder und Pinsel laviert ist in der Sammlung des Cooper-Hewitt Museums aufbewahrt (Inv. 1938-88-7309 ). Sie ist als Teil einer Gruppe von Blättern einer anonymen Hand von Georg Kabierske identifiziert worden.[7] Wenn, so Kabierske, für diese Zeichnung eine Vorlage Lhuilliers verwendet worden sein könnte, dann würde dies bedeuten, dass seine Zeichnungen nicht nur in Kreide nachgezeichnet wurden. Da aber das Motiv der Wellenranken im unteren Teil der Basis von den Kreidezeichnungen in Zürich und Karlsruhe abweicht, muss in diesem Fall eine weitere bislang nicht bekannte Kopie der Säulenbasis als Vorbild gedient haben.
Bénédicte Maronnie
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