Das Skizzenblatt belegt einen mehrstufigen Zeichenprozess: Über den lose in schwarzer Kreide angedeuteten architektonischen Formen liegen einige in kraftvollem Rötel angelegte Motive. Die skizzenhafte Ausführung und der sukzessive Zeichenprozess deuten auf Giovanni Battista Piranesi als Autor der Studien.
Werkdaten
Künstler
Giovanni Battista Piranesi (1720–1778), Gruppe 1
Ort und Datierung
Rom, vor 1770
Abmessungen (Blatt)
144 x 271 mm
Inventarnummer
IX 5159-35-32-4v
- Zeichenmedien
Schwarze Kreide und Rötel; weitere Informationen siehe: Merkmale der Zeichenmedien
- Beschriftungen
In der Handschrift von Giovanni Battista Piranesi, Inschrift auf antiker Urne in Rötel: „D M/f. Rutinio/Cibello (Liberto?)“
- Literatur
Unpubliziert
- Hadernpapier
Vergé; italienische Herstellung; Zeichnung auf der Filzseite; weitere Informationen siehe: Merkmale des Papiers
- Rückseite
Keine erkennbaren Hinweise auf eine rückseitige Bezeichnung oder Beschriftung
Das Werk im Detail
- Bildgegenstand und ikonographische Bedeutung
Auf dem fragmentarisch erhaltenen Blatt sind mehrere unterschiedlich ausgearbeitete Skizzen zu erkennen, die sich verschiedenen Funktionen und Entstehungszeiten zuordnen lassen: eine in schwarzer Kreide vorgezeichnete und partiell in Rötel überarbeitete, schemenhafte Darstellung einer Architekturphantasie oder Stadtvedute, eine denkmalhafte Figurenkomposition in der linken Blatthälfte sowie im Vordergrund und rechts in Rötel wiedergegebene antike Urnen. Auf der linken Blatthälfte entstanden im Kontext eines späteren Pausvorgangs die auffallenden Flechtbandornamente in Rötel.
Georg Kabierske
- Beschreibung und Komposition
Zuunterst liegt die skizzenhafte Darstellung einer Architekturphantasie oder Stadtvedute: Am linken Blattrand ist ein angeschnittenes Gebäude mit zinnenbekrönter Mauer zu erkennen, dahinter ragt ein turmartiges, an ein Säulenmonument erinnerndes Gebilde empor. Im rechten Winkel zur Mauer erhebt sich eine auf den ersten Blick diffuse antikisierend-denkmalhafte, rechteckige Skulpturenkomposition. Von nur schemenhaft angedeuteten Konsolen wird ein Figurenrelief mit ebenfalls nur lose skizzierten Brustbildern getragen (siehe Einordnung in das Gesamtwerk). Als Bekrönung sind darauf zwei Büsten aufgestellt, wobei nur die linke durch die Überarbeitung in Rötel als solche klar zu identifizieren ist, während die rechte vage angedeutet und oben abgeschnitten erscheint. Das Figurenrelief wird symmetrisch von jeweils einer etwas niedrigeren Büste flankiert; beide stehen auf leicht nach vorne gezogenen schmalen Sockeln. Auch hier wurde nur die linke durch den Einsatz des Rötelstifts präzisierend überzeichnet und lässt sich dadurch als männlicher Kopf mit Bart und Helm deuten.
Im Vordergrund befinden sich drei Urnen: Die rechte rundliche wurde vollständig in Rötel skizziert, während jene in der Mitte in Rötel über einer lockeren Vorskizze mit klaren Umrisslinien und einer Inschrift in der Handschrift von Giovanni Battista Piranesi präzisiert wurde. Diese ist nicht eindeutig zu entziffern: „D M/f. Rutinio/Cibello Liberto [?]“. Unmittelbar links folgt die dritte Urne, die jedoch nur in einer flüchtigen Umrisslinie in schwarzer Kreide skizziert wurde. Bei den Flechtbandornamenten in der linken Blatthälfte in Rötel handelt es sich um Pausen, darunter scheint sich zudem eine nur in schwarzer Kreide schemenhaft angedeutete tabula ansata zu befinden.
Georg Kabierske
- Einordnung in das Gesamtwerk Piranesis
Im kompositionellen Prozess nutzte Piranesi die Einzelstudien auf diesem Blatt, um sie zusammen mit anderen Motiven in seinen Radierungen zu neuen Bildkompositionen zu arrangieren.
So findet sich etwa eine vergleichbare Relief- und Büstenkomposition in ähnlich schräg perspektivischer Ansicht links im Hintergrund der fiktiven Ansicht der Via Appia antica, die auf dem 1756 erschienenen Frontispiz des zweiten Bandes der Antichità Romane zu sehen ist (Abb. 1 und 2).
Abb. 1: Giovanni Battista Piranesi, Fantastische Ansicht der antiken Kreuzung der Via Appia und Via Ardeatina, in: Antichità Romane II, Erstauflage Rom 1765, Frontispiz, Biblioteca Histórica de la Universidad Complutense de Madrid. BH GRL 4(3)
CC BY-NC 4.0Abb. 2: Detailvergleich der denkmalhaften Komposition in der Zeichnung (IX 5159-35-32-4v) und der Radierung Piranesis (Abb. 1)
CC BY-NC 4.0Im Wesentlichen wurden nur die Podeste der flankierenden Büsten durch Konsolen ersetzt und die fünf Brustbilder auf vier reduziert. Die im British Museum aufbewahrte, skizzenhaft-lebendige Vorzeichnung (Inv. 1908,0616.43) gibt hingegen diese Komposition nur als schematisch rechteckigen Kasten wieder.[1] Die in Rötel skizzierte bauchige Urne am rechten Rand des Karlsruher Blattes wurde am linken Rand der imaginären Ansicht des Circus Maximus, als Frontispiz des dritten Bandes der Antichità Romane, aufgegriffen (Abb. 3 und 4), wenn auch in Perspektive und Ausrichtung etwas verändert.
Abb. 3: Giovanni Battista Piranesi, Fantastische Rekonstruktion des Circus Maximus, in: Antichità Romane III, Erstauflage Rom 1765, Frontispiz, Biblioteca Histórica de la Universidad Complutense de Madrid. BH GRL 4(4)
CC BY-NC 4.0Abb. 4: Detailvergleich der Urne in der Zeichnung (IX 5159-35-32-4v) und der Radierung Piranesis (Abb. 3)
CC BY-NC 4.0Beide erwähnten Frontispize wurden etwas später von Piranesi in verkleinerten Dimensionen in den Lettere di Giustificazione (1757) und den Opere varie (Ausgabe nach 1761, Idea delle antiche vie Appia e Ardeatina und Veduta d’uno de’circhi antichi) erneut aufgegriffen. Die hier in die Diskussion einbezogenen Elemente sind jedoch so schematisch wiedergegeben, dass kein direkter Bezug der Zeichnungen in Karlsruhe zu der verkleinerten Version der Radierungen besteht.
Für die so prägnant in der Mitte des Karlsruher Blattes platzierte, mit einer Inschrift versehene, aber ansonsten schmucklose Urne lässt sich bislang keine direkte Umsetzung in eine Radierung feststellen. In der bereits erwähnten Ansicht der Via Appia antica (Abb. 1) ist lediglich am rechten Rand ein ähnliches Gefäß angeschnitten.
Später als die zuvor genannten Zeichnungen entstand dann das sich überlagernde Flechtbandornament, das, wie Untersuchungen von Maria Krämer ergaben, durch ein Pausverfahren von einer Vorlage zweifach abgeriebenen wurde, möglicherweise als Test vor der Übertragung auf die Druckplatte (siehe Essay „Mit Öl und Wasser kopiert, Die Pause“). Zusammen mit den zusätzlichen Motiven auf der heutigen Vorderseite IX 5159-35-32-4 diente es vermutlich der Vorbereitung des Titelblatts für den zweiten Band der Vasi, candelabri, wo es auf dem Bauch der am linken Rand angeordneten Urne Verwendung fand (Abb. 5 und 6). Vermutlich vor 1756 entstanden zunächst jene im Kontext der Antichità Romane stehenden Motive, vor 1770 dann die Urne, das durchgepauste Flechtband sowie die weiteren Urnen auf der heutigen Vorderseite.
Abb. 5: Giovanni Battista Piranesi, Titelblatt des zweiten Bandes von Vasi, candelabri, Taf. 56, Rom 1770 (laut Katalog von 1792), Radierung, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.696, fol. 1
CC BY-NC-SA 3.0Abb. 6: Detailvergleich des zweifachen Abriebs einer Pause mit Flechtbandornament (IX 5159-35-32-4v) und der Wiedergabe auf der Urne in der Radierung Piranesis (Abb. 5)
CC BY-NC-SA 3.0Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Für Beschreibung und Einordnung der gesamten Zeichnung siehe Sara Vowles: Piranesi Drawings, Visions of Antiquity: Drawings from the British Museum, Ausst. Kat. London, British Museum, London 2020, Nr. 29.
- Zuschreibungshypothesen
Dieses Blatt lässt sich Giovanni Battista Piranesi zuschreiben, da es seinen Zeichenduktus und die charakteristische Arbeitsweise dokumentiert, erste Ideen in einer spontanen Skizze auf das Papier zu bringen und diese dann in einzelnen Details mit klaren, kraftvoll gesetzten Umrissen präzisierend zu verdeutlichen. Dabei verwendete er verschiedene Zeichenmedien, häufig – wie auch hier – schwarze Kreide und Rötel, die besonders kontrastreich wirken. Die flüchtige Vorzeichnung in schwarzer Kreide erinnert an topographische und imaginäre Ansichten aus dem Skizzenbuch A in Modena (z.B. fol. 11r, 47v).[1] Die in Rötel weiter ausgearbeitete Büste mit strichartigen Gesichtszügen lässt daneben an den ägyptisierenden Kopf in einer fragmentierten, bislang nicht identifizierten Komposition in der Morgan Library (Abb. 7) und an den Figurenkopf in IX 5159-36-16-1 (siehe dort Abb. 5) denken.
Abb. 7: Stilistischer Detailvergleich der Büste in der Zeichnung (IX 5159-35-32-4v) und einem ägyptisierenden Kopf in einer fragmentarisch erhaltenen Zeichnung von Giovanni Battista Piranesi, vor 1761, schwarze Kreide und Rötel, 103 x 230 mm © The Morgan Library & Museum. 1966.11:23v. Bequest of Junius S. Morgan and gift of Henry S. Morgan. Darüber hinaus lässt sich die skizzenhafte Urne am rechten Rand mit einem von Giovanni Battista Piranesi gezeichnetem Delphinkapitell, ebenfalls im Skizzenbuch A in Modena (fol. 31r) stilistisch in Verbindung bringen.
Wie häufig bei Piranesi und seiner Werkstatt ist zudem eine mehrfache Nutzung des Papiers zu konstatieren. Hatten die Motive ihre Funktion zur Herstellung von Druckgraphiken oder Kompositionen erfüllt, konnten sie überzeichnet, beschnitten oder auf der Papierrückseite erneut bezeichnet werden.[2]
Georg Kabierske
Einzelnachweis
1. Giovanni Battista Piranesis, Skizzenbuch A, Modena, Biblioteca estense, Inv. ms. Campori 1523 (GAMMA y 6, 33).
2. Siehe dazu zuletzt Carolyn Yerkes/Heather Hyde Minor: Piranesi Unbound, Princeton/Oxford 2020, S. 31–33.
- Kunsthistorische Wertung
Dieses beidseitig bezeichnete Blatt, dessen hier vorgestellte Seite Piranesi selbst zugeschrieben werden kann, dokumentiert in mehrfacher Hinsicht die Arbeitsweise des Künstlers. Vor allem die Rückseite, die aufgrund der großenteils flüchtigen und schemenhaften Wiedergabe leicht übersehen werden kann, erweist sich als überraschende „Fundgrube“ erster Ideenskizzen für später ausgeführte vielgestaltige Radierungen, nach denen sich das Blatt zwischen 1756 und 1770 datieren lässt. Zusammen mit der heutigen Vorderseite wird hier somit eine Nutzung des Blattes durch Piranesi über einen längeren Zeitraum belegt.
Georg Kabierske
- Merkmale des Papiers
Siehe IX 5159-35-32-4
- Merkmale der Zeichenmedien
Schwarze Kreide: sehr feine und unter Vergrößerung glitzernde Partikel, dicht an die Papierfasern gebunden; breitere und stärker verwischte Linien als auf der heutigen Vorderseite, Kratzer im Strich.
Rötel: Strich wirkt verdichtet und weist Merkmale von Feuchtigkeitseinwirkung, vermutlich durch Öl, auf; verwischt (Detail 1).
Detail 1: Auflicht
Rötel über schwarzer Kreide - Zeichnerischer Prozess
Die Vorzeichnung geschah mit schwarzer Kreide, die aufgrund geringen Abriebs nur flüchtige Striche bildete. Sie wurde sowohl für die Architekturphantasie als auch für die Gefäße verwendet; Teile beider Skizzen wurden mit Rötel frei überarbeitet. Ein Flechtbandornament in der linken Hälfte des Blattes, das über die Zeichnung verläuft, wurde wohl durch Anreiben auf ein geöltes Papier übertragen. Das Blatt ist an dieser Stelle stark verwellt und die Spur des Reibekontakts ist verbräunt (Detail 2).
Detail 2: Auflicht
Flechtbandornament in Rötel; rechts Ölspur durch Anfertigung eines AbdrucksDetail 3: Auflicht
Durch Anreiben auf das Papier übertragener Abdruck der Rötelzeichnung in Detail 2 mittig Strich in EisengallustinteEin schwächerer, um fast 180° gedrehter Abdruck desselben Flechtbandmusters zeigt, dass die Kopie auf geöltem Papier sogleich wieder durch Anreiben auf das Blatt übertragen wurde (Detail 3). Der Sinn dieses Vorgangs ergibt sich auf den ersten Blick nicht; da die Breite des Flechtbands der Breite im Druckwerk entspricht, geschah der Pausvorgang aber vermutlich in diesem Zusammenhang. Auf den Skizzen des bauchigen Gefäßes wurden weitere Variationen des Musters ausprobiert.
Maria Krämer
- Spuren historischer Nutzung
Spuren einer flächigen Öleinwirkung (gelblich fluoreszierende Flecken); Abdrücke geschwärzter Finger (Detail 4; UV-Strahlung auslöschend, UVF, Abb., zoomen Sie hier in das Blatt), Spuren von schwarzer Kreide, einer schwarzen Zeichentusche und Eisengallustinte.
Detail 4: Fingerabdruck Maria Krämer
- Prozesse historischer Nutzung
Siehe IX 5159-35-32-4 recto.
Schlagwörter
- Vasi, candelabri
- Rötel
- Giovanni Battista Piranesi
- Italienisches Papier
- Schwarze Kreide
- Pause
- Adler
- Stilistische Gruppe 01
- Verso
- Stern im Kreis (Beizeichen: Kreuz und F)
- Urne
- Circus Maximus
- Flechtband
- Architektur
- Architekturfantasie
- IX 5159-35-32-4v
- Antichità Romane
- Via Appia
- Architekturphantasie
GND-Begriffe
Permalink | piranesi.kunsthalle-karlsruhe.de/de/werk/134/architekturfantasie-zwei-urnen-und-flechtband
Der Permalink führt Sie immer zur neuesten Version des Beitrags.Zitierfähiger Link | piranesi.kunsthalle-karlsruhe.de/de/werk/134/architekturfantasie-zwei-urnen-und-flechtband/1
Mit dem zitierfähigen Link können Sie zukünftig auf diese Inhalte zugreifen, ohne dass Änderungen am Text vorgenommen wurden.
Versionshistorie
Bei dieser Seite wurde bereits eine Aktualisierung der Inhalte durchgeführt. Nutzen Sie bitte den folgenden Link um auf die neuste Version zu wechseln.
Zur neusten Version wechseln
Kommentare
Hier können Sie uns Anmerkungen und Kommentare zu unseren Objekten hinterlassen, die nach Sichtung durch unsere Mitarbeiter*innen allen Leser*innen angezeigt werden.