Bei dem Blatt handelt es sich um die einzige Zeichnung in den Karlsruher Alben, die eine komplexe, antikisierende Figurenkomposition zeigt. Auffällig ist vor allem der Zeichengrund, der aus drei zusammengeklebten Papierstücken besteht (siehe Prozesse historischer Nutzung ). Solche Montagen sind in Piranesis Werkstatt üblich, wo Makulaturpapier aus ökonomischen Gründen weiterverwendet wurde. Es wurde im Laufe des Zeichens an- oder aufeinandergefügt, um die Komposition zu vergrößern oder zu korrigieren, wie zum Beispiel in einer Zeichnung aus der Sammlung von George Ortiz.[1] In diesem Blatt wurden die Papierstücke erst aneinandergefügt, dann wurde darauf gezeichnet, was durch die fließend über die Blattränder laufende Zeichnung belegt wird. Auf dem linken, nahezu quadratischen Papierstück könnte eine der Figuren (eventuell die Dea Roma ) zunächst flüchtig skizziert, dann das Papier mit dem unterliegenden, größeren Blatt zusammengefügt worden sein, um die Komposition zu erweitern. Ansonsten ließe sich nicht erklären, weshalb das kleinere Blatt auf das größere appliziert wurde, denn darunter befindet sich weder ein Loch noch ein älterer, verworfener Entwurf (siehe Prozesse historischer Nutzung ). Zur gleichen Zeit oder kurz darauf dürfte das Blatt zusätzlich rechts vergrößert worden sein. Die Skizze wurde nach dem Zusammenfügen aller Blätter erweitert (siehe am Rand links die Beine und oben die Standarten) und dann in kräftigem Duktus ausgearbeitet.
Die ikonographische Bedeutung der an ein antikisierendes Historienbild erinnernden Szene mit den in drei Gruppen gegliederten, miteinander gestikulierend interagierenden Soldaten und antik gekleideten Figuren konnte bislang nicht vollständig entschlüsselt werden. Möglicherweise soll hier eine panegyrische, also lobrednerische, oder allegorische Episode aus der römischen Geschichte wiedergegeben werden. Jedenfalls handelt es sich um eine Komposition im Sinne von Piranesis Assemblagen, bei denen er mit erkennbaren antiken Elementen einen neuen Zusammenhang kreierte.
Als Inspiration für die Komposition dienten Figuren antiker Reliefs, die 1572/73 und nach 1662 im Treppenhaus des Konservatorenpalasts (Kapitolinische Museen ) in Rom eingebaut wurden. Sie stammen ursprünglich von zwei nicht mehr erhaltenen Ehrenbögen, die den Kaisern Hadrian (76–138) und Mark Aurel (121–180) gewidmet waren.[2] Kompositionell bedeutend ist zunächst das auf der Via del Corso nahe dem Palazzo Sciarra gefundene Adventus -Relief, das die Ankunft des siegreichen Kaisers Hadrian (rechts mit Lorbeerkranz) in Rom zeigt, der in Begleitung von Standartenträgern durch die Stadtgöttin Roma (links mit nackter Schulter, den Helm mit Helmbusch und Globus in der Hand) sowie von Mitgliedern des Senats und römischen Volks empfangen wird. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Kopf des Kaisers, den man in der frühen Neuzeit als Mark Aurel restaurierte, gegen einen Porträtkopf von Hadrian ausgetauscht. In der Zeichnung wurde die Darstellung des Kaisers rechts außen übernommen, wobei der mit einem Lorbeerkranz geschmückte Kopf das damals auf dem Relief vorhandene Porträt abwandelte (Abb. 1).[3]
Abb. 1: Figurenkomposition nach Reliefs im Treppenhaus des Konservatorenpalasts, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-15-1. Die markierten Figuren sind aus dem Marmorrelief mit der Darstellung der Adventus des Kaisers Hadrian in Rom (Inv. Scu 810) aus den Kapitolinischen Museen übernommen. CC0 1.0 Diese Abweichung vom Vorbild kam vermutlich der neuen Aussage zugute, die Piranesi der Komposition verleihen wollte. Für den links neben dem Kaiser im Ausfallschritt stehenden und ihn anblickenden Togatus hat sich hingegen bislang kein direktes Vorbild gefunden.
Im linken Teil der Komposition befindet sich die Figur der Dea Roma, die in leichter Unteransicht und im Dreiviertelprofil von hinten dargestellt ist. Durch das Fehlen der Kugel in der ausgestreckten Hand gibt sie sich nicht eindeutig als Personifikation der römischen Stadtgöttin zu erkennen. Hinter ihr sind jedoch deutlich die ebenfalls aus dem Adventus -Relief übernommenen Standartenträger zu erkennen. Im Unterschied zum Relief ist die Dea Roma vom Kaiser abgerückt und wird mit anderen Figuren interagierend dargestellt. Die sie links und rechts flankierenden Figuren gehen auf ein anderes Relief zurück, das die Clementia (Mildtätigkeit) des Kaisers Mark Aurel gegenüber unterworfenen Barbaren zeigt. Es stammt von einem nicht mehr erhaltenen, dem Kaiser gewidmeten Ehrenbogen auf dem Forum Romanum.[4] Als Inspiration für die Zeichnung dienten die beiden äußeren Soldaten, wobei auch sie etwas verändert oder ergänzt wurden (Abb. 2).
Abb. 2: Figurenkomposition nach Reliefs im Treppenhaus des Konservatorenpalasts, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-15-1. Die markierten Figuren sind aus dem Marmorrelief mit der Darstellung der Clementia des Kaiser Mark Aurel (Inv. Scu 809) aus den Kapitolinischen Museen übernommen. CC0 1.0 Markant ist insbesondere die rechte Figur im Ausfallschritt: Das linke Bein wird hier nicht von knienden Barbaren, sondern von einem Ovalschild verdeckt, auf dem sich der Soldat mit der linken Hand abstützt, während er mit der Rechten ein rhombenförmiges Schild hoch hält.
Aus einem weiteren Relief derselben Provenienz, das den kaiserlichen Triumph Mark Aurels zeigt, stammt hingegen die zwischen dem Soldaten und der Dea Roma eingefügte Figur, deren Bekleidung durch eine Agraffe (Schmuckschließe) auf der Brust zusammengehalten wird. Auch der auf die Relieffigur folgende Bläser, eine römische Trompete (tuba) spielend, wurde in der Zeichnung im Hintergrund übernommen, noch enger an die Gestalt mit der Agraffe anschließend (Abb. 3).
Abb. 3: Figurenkomposition nach Reliefs im Treppenhaus des Konservatorenpalasts, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-15-1. Die markierten Figuren sind aus dem Marmorrelief mit der Darstellung des Triumphs des Kaisers Mark Aurel (Inv. Scu 808) aus den Kapitolinischen Museen übernommen. CC0 1.0 Im Unterschied zum Adventus -Relief beziehen sich die Dea Roma sowie der Kaiser im Gestus nicht mehr direkt aufeinander, sondern verweisen mit jeweils zur Mitte ausgestrecktem Arm auf die statuenartige weibliche Einzelfigur im Zentrum der Komposition (Abb. 4).
Abb. 4: Figurenkomposition nach Reliefs im Treppenhaus des Konservatorenpalasts, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-15-1. Die markierte Figur ist möglicherweise von der Urania-Statue (Inv. Scu 806) aus den Kapitolinische Museen inspiriert.CC0 1.0 Diese stützt ihre rechte Hand auf einen hinter ihr liegenden Steinblock beziehungsweise ein Wasserbecken oder einen Sarkophag auf, während sie den linken Arm hebt, in der Hand einen Feldherrenstab oder eine Schriftrolle.
Auffällig ist ihre Bekleidung mit dem aufwändig drapierten Himation (Mantel). Ein mögliches Vorbild könnte eine Statue sein, die sich seit 1566 ebenfalls im Treppenhaus des Konservatorenpalasts der Kapitolinischen Museen befindet und in der Neuzeit als Muse Urania restauriert wurde.[5] Besonders deutlich sind die Übereinstimmungen im Gewand. Wahrscheinlich wurde die Ikonographie umgedeutet, das heißt, die Statue wurde nicht als Urania rezipiert, sondern als bloße Gewandfigur. Wenn man das nur skizzenhaft wiedergegebene Attribut in ihrer Hand als Schriftrolle deutet, könnte es sich bei der Figur um Klio handeln, die Muse der Geschichtsschreibung, die den Ruhm (Fama) der Roma und des Kaisers festhält, der von den Trompeten verbreitet wird. Demzufolge könnte die Zeichnung einen Entwurf für eine allegorische Szene mit der Verherrlichung der römischen Kaiserzeit wiedergeben.
Darüber hinaus besteht die Komposition aus weiteren Figuren, bei denen noch unklar ist, ob es sich dabei ebenso um Rezeptionen antiker Bildwerke handelt.
Georg Kabierske und Bénédicte Maronnie
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