Zur Neuidentifikation der Zeichenalben

Zur Neuidentifikation der Zeichenalben

Ein Praktikum und die Folgen

Georg Kabierske

Wie kam es zu der Neuidentifikation der Zeichenalben? Ohne die Möglichkeit eines vierwöchigen Praktikums im Kupferstichkabinett der Kunsthalle Karlsruhe im Juli 2014 wäre mir dies nicht geglückt. Daher möchte ich an dieser Stelle Frau Prof. Dr. Pia Müller-Tamm, der Direktorin der Kunsthalle, und Frau Dr. Dorit Schäfer, der Leiterin des Kupferstichkabinetts, sehr herzlich danken für das große Vertrauen und die Unterstützung, die mir entgegengebracht worden sind.

Piranesi war mir schon vor meinem Praktikum an der Kunsthalle kein Unbekannter. Seit meiner Kindheit begleiten mich zwei seiner Radierungen, darunter die Ansicht der Cestius-Pyramide in Rom, die noch heute als Supraporte über meiner Zimmertür im Haus meiner Eltern hängt. Daher begann mich der Künstler schon früh zu interessieren, und in der Oberstufe des Gymnasiums hielt ich ein Referat über Piranesis Werk. Noch vor meinem Abitur 2014 hatte ich mich für ein Praktikum im Kupferstichkabinett der Karlsruher Kunsthalle beworben, da ich Kunstgeschichte studieren wollte und mich schon seit längerem mit Druckgraphiken und Handzeichnungen insbesondere des 18. Jahrhunderts beschäftigte. Am 1. Juli 2014 konnte ich mein Praktikum antreten, wobei ich nicht nur zahlreiche Bestände des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts einsehen, sondern auch Daten für die Inventarisierung in der internen Datenbank imdas pro ermitteln durfte. Während dieser Tätigkeit wollte ich mir auch die Zeichnungen von Friedrich Weinbrenner im Bestand der Kunsthalle ansehen, dessen Bauten für meine Heimatstadt Karlsruhe mich interessierten. Zuhause waren wir gerade darüber im Gespräch, da mein Vater damals eine Ausstellung über den Architekten vorbereitete. Ich schaute mir nicht nur größere Reisezeichnungen und Architekturentwürfe, sondern auch die während Weinbrenners Studienzeit in Italien 1792 bis 1797 entstandenen Reiseskizzen an, die im klassizistischen Stil der Zeit eher trocken-kühl in Feder und Lavierung ausgeführt worden waren. In diesem Zusammenhang betrachtete ich auch zwei großformatige Alben - etwa 57 cm breit und 43 cm hoch - mit 297 eingeklebten Blättern, die aus dem Nachlass von Weinbrenner stammen. 1907 zum ersten Mal in der Weinbrenner-Forschung erwähnt, wurde auch deren Inhalt dem Architekten zugeordnet.

Beim Durchblättern der Alben gab es so viel zu entdecken, Reliefs, Friese, Kapitelle Sarkophage… eine breite Palette antiker und renaissancezeitlicher Bauornamentik. Im zweiten Band fiel mir plötzlich auf einer Zeichnung (IX 5159-36-19-1) der rechteckige Abdruckrand einer Druckplatte auf, der sich von der Rückseite des Blattes auf die heutige Vorderseite durchgedrückt hatte. Da alle Zeichnungen an ihren Ecken auf das Albumpapier geklebt worden sind, lassen sich die Rückseiten heute in der Regel nur noch mithilfe von Durchlicht sichtbar machen. In diesem Fall aber hatte sich die auf die Rückseite gedruckte Radierung auf das Albumpapier übertragen und wurde dadurch auf dem verso des Trägerpapiers und im Durchlicht identifizierbar. Ich staunte nicht schlecht, als ich erkannte, dass es sich dabei um eine Radierung Piranesis handelte, die den Circus Maximus zwischen den Hügeln Roms und dem antiken Forum wiedergibt und die zum ersten Mal in dem 1761 erschienenen Stichwerk Della Magnificenza ed Architettura de’ Romani veröffentlicht worden war. Sollte der junge Weinbrenner in Rom die Rückseite einer damals sicher kostspieligen Piranesi-Radierung als Zeichenblatt genutzt haben? Diese Vorstellung schien mir doch eher abwegig. Ich hatte Feuer gefangen und begann, die Zeichnungen noch genauer anzuschauen.

Bei zahlreichen Blättern in Kreide fiel mir ein kraftvoll-lebendiger Zeichenstil auf, der nicht so recht zu Weinbrenners mir bekannten anderen Zeichnungen zu passen schien. Die Betonung von Plastizität und Stofflichkeit in der Darstellung entsprach eher der Kunstauffassung der Mitte des 18. Jahrhunderts als der auf Umrisslinien fokussierten Ästhetik der Zeit um 1800, die für einen Großteil von Weinbrenners Zeichnungen charakteristisch ist.

Auf der letzten Albumseite des zweiten Bandes sprangen mir dann zwei locker in Feder gezeichnete kleinere Architekturphantasien (IX 5159-36-33-1, IX 5159-36-33-4) ins Auge, die mich sofort an vergleichbare Zeichnungen von Piranesis Hand erinnerten, mit denen ich mich ebenfalls in meinem Schulreferat beschäftigt hatte. Stammten diese – und andere –Zeichnungen womöglich von Piranesi selbst? Ich war mir der Fallhöhe bewusst, sollte es sich um einen Irrtum meinerseits handeln. Daher recherchierte ich die folgenden Tage erst einmal in der Bibliothek der Kunsthalle sowie abends und nachts im Internet. Dabei kam mir zu Hilfe, dass gerade zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Piranesi-Bestände in New York (Morgan Library) und Washington (National Gallery of Art) sowie die Reisezeichnungen der englischen Architekten Robert und James Adam in London (Soane’s Museum) digitalisiert online zugänglich gemacht worden waren. Ich konnte dort vergleichbare, motivisch sogar identische Blätter aufspüren, was mich von Tag zu Tag mehr in Erstaunen versetzte. An Schlaf war kaum mehr zu denken. Die intensiven Recherchen führten schließlich zu der Erkenntnis, dass anscheinend die Mehrheit der Zeichnungen als Werke von Piranesi und seiner Werkstatt zu identifizieren sind. Wie sich in der Folge herausstellen sollte, ist ein Großteil der Karlsruher Zeichnungen der missing link zu Piranesis archäologischen und dekorativen Druckserien und deren Entstehungsprozess innerhalb der Werkstatt.

Zudem dokumentieren sie anschaulich den netzwerkartigen Zusammenhang verschiedenster Architekten- und Künstlernachlässe: In den Karlsruher Alben finden sich aus der Piranesi-Werkstatt oder von assoziierten Mitarbeitern originale Kreidezeichnungen, die für beziehungsweise von reisenden Künstlern und Architekten kopiert und abgeklatscht wurden. Daher existieren identische Motive in diversen Sammlungen Europas und der USA .

Bestätigt durch meine Recherchen wagte ich es schließlich, Dorit Schäfer meine Entdeckung mitzuteilen, die meine zunächst ja durchaus abenteuerlich wirkenden Erkenntnisse ernst nahm und mich von Anfang an ermutigte, weiter zu forschen. Noch 2014 wurde Prof. Dr. Christoph Frank aus Mendrisio von der Universität della Svizzera Italiana (CH) als Kenner der Kunst und des Kunsttransfers im 18. Jahrhundert herangezogen, der mich ebenso in meinen Entdeckungen bestärkte und förderte und dem ich gleichfalls sehr zu danken habe. Dorit Schäfer und Jane Turner, damalige Leiterin des Kupferstichkabinetts am Rijksmuseum in Amsterdam und Herausgeberin der in New York erscheinenden Fachzeitschrift Master Drawings, setzten sich dafür ein, dass ich meine Entdeckung im Jahr darauf, umfänglich in Master Drawings publizieren konnte.[1] Zwei weitere Aufsätze zu den Karlsruher Zeichnungen sollten bald darauf folgen.[2] Damit wurde die Grundlage für das seit 2017 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Schweizer Nationalfond geförderte Forschungsprojekt an der Kunsthalle zu „In Piranesis Werkstatt. Die Karlsruher Alben“ gelegt.

Seit 2014 war ich zunächst assoziierend in freier Forschung dem Piranesi-Projekt an der Kunsthalle Karlsruhe verbunden, zeitweise auch als Werkstudent –  ich musste ja noch studieren. 2018 beendete ich an der Universität Heidelberg den Bachelor in Kunstgeschichte, 2020 folgte der Master in München, wobei ich mich im thematischen Zusammenhang beider Abschlussarbeiten wiederum intensiv mit den Karlsruher Blättern beschäftigen konnte.[3] Für meine Beiträge in der Datenbank folgte 2021/22 eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Piranesi-Projekt. In dieser Zeit arbeitete ich intensiv mit Christoph Frank, Bénédicte Maronnie, Irene Brückle, Maria Krämer, Astrid Reuter und Dorit Schäfer zusammen. Für die überaus kollegiale und freundschaftliche Kooperation danke ich allen Beteiligten herzlich.

Georg Kabierske

 

Einzelnachweis

1. Georg Kabierske: A Cache of Newly Identified Drawings by Piranesi and His Studio at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Master Drawings 53, 2015, S. 147–178.

2. Georg Kabierske: Weinbrenner und Piranesi. Zur Neubewertung von zwei Grafikalben aus dem Besitz Friedrich Weinbrenners in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, in: Brigitte Baumstark/Joachim Kleinmanns/Ursula Merkel (Hg.): Friedrich Weinbrenner, 1766-1826: Architektur und Städtebau des Klassizismus, Ausst. Kat. Karlsruhe, Städtische Galerie und Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Petersberg 2015 (2. Aufl.), S. 75–87; Georg Kabierske: Vasi, urne, cinerarie, altari e candelabri. Newly Identified Drawings for Piranesi’s Antiquities and Sculptural Compositions at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Francesco Nevola (Hg.): Giovanni Battista Piranesi. Predecessori, contemporanei e successori: Studi in onore di John Wilton-Ely, Rom 2016, S. 245–262.

3. Georg Kabierske: Der sculpteur d’ornement Nicolas Lhuillier (um 1736–1793) und der goût à l’antique in Paris, Universität Heidelberg 2018, BA-Arbeit (unpubliziert); Georg Kabierske: Römische Lehrjahre. Zum Zeichnen und Sammeln von Bauornamentik in Rom in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Ludwig-Maximilians-Universität München 2020, Masterarbeit (unpubliziert).

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