Bei der Zeichnung handelt es sich um ein Fragment von Piranesis Vorzeichnung zu der Radierung Rovine del Sisto, o sia della gran sala delle Terme Antoniane , die 1765 (laut Katalog von 1792) als Teil der Serie Vedute di Roma gedruckt wurde. Ab der Mitte der 1740er Jahre bis zu Piranesis Tod 1778 entstanden, zählen die Vedute di Roma zu den bekanntesten Arbeiten Piranesis, in denen er die Sehenswürdigkeiten Roms monumental inszenierte. Damals wie heute sind sie ein beliebtes Andenken für Romreisende. Es ist die einzige Zeichnung in den Karlsruher Klebealben, die einen Bezug zu dieser Serie aufweist. Wiedergegeben ist ein Teil der Ruinen der Caracalla-Thermen, die auf lateinisch auch Thermae Antoninianae genannt werden. Die gezeichneten Mauern finden in der rechten Hälfte der Radierung ihre Entsprechung, sodass mit dem Karlsruher Blatt lediglich ein Ausschnitt aus der ursprünglich deutlich größeren Vorzeichnung vorliegt (Abb. 1).
Abb. 1: Giovanni Battista Piranesi, Ruinen des Sisto, oder der große Saal der Caracalla-Thermen, Radierung, 1765, Radierung, in: Vedute di Roma, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.755/2 mit Überblendung des Zeichnungsfragments der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-31-1vCC BY-NC-SA 3.0 Auf dem in schwarzer Kreide locker skizzierten und mit Röte l überarbeiteten Fragment sind einige von Pflanzen überwucherte Ziegelmauern und darüber nur locker angedeutete Wolken zu erkennen. Es handelt sich um eine der genuinen Studien topographischer Ansichten von Giovanni Battista Piranesi, bei denen er mit herausragender Auffassungsgabe und Leichtigkeit die antiken Ruinen und den mit dem Mauerwerk verschmelzenden Bewuchs lebendig zu Papier brachte. Die Qualität dieses kleinen Ausschnitts macht den Verlust der restlichen Zeichnung umso bedauerlicher. Charakteristisch für Piranesi sind die kräftigen Konturen der Mauerkronen und die Wiedergabe der unterschiedlichen Beschaffenheit des antiken Ziegelmauerwerks sowie der Wandflächen durch horizontale Striche (opus testaceum ), als Gitternetz (opus reticulatum ), mit Schraffuren oder als helle Flächen.[1] Der im Karlsruher Fragment mehrfach auf den Mauern eingetragene Buchstabe „a“ diente möglicherweise als Notiz oder Abkürzung, um zu kennzeichnen, welcher Typus von antikem Mauerwerk hier darzustellen ist. Vielleicht wurde er in einer Legende am Blattrand aufgelöst, wie es etwa auf der Zeichnung des Dreifußes des Apolls mit Schlange zu beobachten ist (siehe IX 5159-35-45-1 ). Dieses schriftlichen Zusatzes bediente sich Piranesi auch in weiteren Ansichten, beispielsweise in der kompositorisch vergleichbaren Ruinendarstellung im Ashmolean Museum in Oxford (Inv. WA1944.112 ) oder der Innenansicht des Tempio del Dio Canopo der Villa Adriana in den Uffizien Florenz (Inv. 96008 ). Dass solche Zeichnungen dem Künstler als Gedankenstütze dienten, zeigt sich auch an der fragmentarisch erhaltenen Ansicht der Ponte Molle , entstanden vor 1762, in der École nationale supérieure des beaux-arts in Paris (Inv. EBA 267 ) oder jener des Canopo der Hadriansvilla (1776) in der National Gallery of Art in Washington D.C. (Inv. 1994.69.1 ), wo er zum besseren Verständnis sogar einzelne Elemente erklärend beschriftete (Abb. 2).
Abb. 2: Giovanni Battista Piranesi, Ansicht des Canopus in der Villa Adriana bei Tivoli, Gesamtansicht und Detail 1776, Rötel über schwarzer Kreide, 389 x 538 mm, Washington, National Gallery of Art, Inv. 1994.69.1CC0 1.0 Wie schon Jacques Callot (1592–1635), Rembrandt (1606–1669), Giovanni Benedetto Castiglione (1609-1664) oder Stefano della Bella (1610–1664) wich Piranesi von der geläufigen Praxis ab, Vorzeichnungen bis ins Detail auszuarbeiten.[2] Sie dienten vielmehr als orientierende Grundlagen, um die Kompositionen daraufhin in einem kreativen Prozess erst auf der Druckplatte in finaler Fassung frei und locker zu radieren.
Zwei Anekdoten, die durch Piranesis Biographen Jacques-Guillaume Legrand überliefert sind, berichten uns von der Verwunderung, die dieses Vorgehen schon zu Lebzeiten des Künstlers ausgelöst hat. So antwortete Piranesi auf die Frage, weshalb er keine endgültige Vorzeichnung mit vollständig angelegten Schattierungen anfertige: „Das wäre mir sehr unangenehm […], sehen Sie nicht, dass, wenn meine Zeichnung vollendet wäre, meine Tafel [Radierung] nur eine Kopie werden würde; wenn ich dagegen den Effekt auf dem Kupfer erzeuge, mache ich ein Original daraus“[3] . Und dem französischen Maler Hubert Robert (1733–1808) gegenüber erwähnte Piranesi, dass er bisweilen gänzlich aus seiner Erinnerung zeichne: „Der Maler Robert, mit dem er [Piranesi] manchmal auch nach der Natur zeichnete, und der dessen [Piranesis] Talent zu schätzen wusste, konnte nicht verstehen, dass man Skizzen so unvollendet ließ. Piranesi, der sein Erstaunen bemerkte, sagte ihm: Die Zeichnung ist nicht auf meinem Papier, das gestehe ich, sie ist aber vollständig in meinem Kopf, Sie werden es in der Druckplatte sehen. Tatsächlich, sie war getreu und dort fehlte nichts.“ [4]
Dennoch kann angenommen werden, dass Piranesi seine gezeichneten Vorlagen mittels geöltem Papier durch indirektes Pausverfahren oder einen Abklatsch auf die Druckplatte übertrug, dort dann anhand der auf diese Weise erzeugten Anhaltspunkte die Komposition freihändig und unter Verwendung neuer Ideen radierte (siehe zum technischen Prozess den Essay Mit Öl und Wasser kopiert ).[5]
Vergleicht man das Fragment in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe mit dem entsprechenden Ausschnitt der Radierung, so wird die oben beschriebene Diskrepanz offenkundig (Abb. 3).
Abb. 3: Giovanni Battista Piranesi, Zeichnungsfragment, um 1765, Rötel über schwarze Kreide, 263 x 264 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, IX 5159-35-31-1v und Giovanni Battista Piranesi, Rovine del Sisto, o sia della gran sala delle Terme Antoniane, Radierung, 1765, in: Vedute di Roma, Museumslandschaft Hessen Kassel, Kupferstichkabinett, SM-GS 6.2.755/2 (Ausschnitt)CC BY-NC-SA 3.0 Die finale Radierung ist in Bezug auf Details des Mauerwerks und dessen Bruchstellen detailreicher ausgeführt als jene vor Ort entstandene Rötelzeichnung. Piranesi wusste seine Zeichnung nachträglich im malerischen Sinne atmosphärisch zu beleben, wie kaum ein anderer hatte er die Morphologie überwucherter Ruinen verinnerlicht. Daher war es nicht nötig, das antike Mauerwerk ausführlich abzuzeichnen. Die Andeutungen, Kürzel oder Beschriftungen genügten, um zuvor eingeprägte Typen von Ziegelornament an diesen Stellen in die Radierung einzusetzen. So scheinen die architektonischen Elemente der Radierung auf den ersten Blick zwar präzise wiedergegeben, dennoch stellen sie kein exaktes Abbild der Realität im fotografischen Sinne dar. Sie sind vielmehr das Ergebnis einer Werkgenese, die sich aus antiquarisch-dokumentarischen Bestandteilen, eigener Erfahrung und kreativ-künstlerischer Überformung speist. Und wie aus dem oben angeführten Zitat hervorgeht: Die Radierung war für Piranesi das eigentliche Kunstwerk, das Original.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass zahlreiche Zeichnungen Piranesis nur noch als Fragment erhalten sind, zumal er sehr sparsam mit dem damals kostbaren Papier umging. Außerdem zögerte Piranesi im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen, seine Vorzeichnungen an Sammler zu verkaufen. Die Zeichnungen dienten ihm vorrangig als Mittel zum Zweck, um das vollendete Produkt, die Radierung oder den finalen Entwurf, zu erreichen. Wurden sie nicht mehr benötigt, konnten die Rückseiten erneut als Skizzenpapier verwendet und die Blätter in der Folge neu zugeschnitten werden.[6] Dies ist vermutlich auch der Grund, weshalb sich nur wenige vollständige Vorzeichnungen für die Vedute di Roma und andere topographische Radierungen erhalten haben.[7]
So befindet sich auf der damaligen Rückseite – der heutigen Vorderseite – die Zeichnung eines korinthischen Kapitells samt Details (siehe IX 5159-35-31-1 ), die möglicherweise von einem Mitarbeiter der Werkstatt angelegt und im Anschluss durch Giovanni Battista Piranesi verbessert worden ist. Stecknadeleinstiche und Spuren übereinandergeklebter Papiere weisen auf eine komplexe Nutzungsgeschichte hin. Letztlich muss diese Kapitellzeichnung noch länger in der Werkstatt gelegen haben, denn erst durch seinen Sohn Francesco Piranesi (1756?–1810) wurde sie 1790 in eine Radierung übertragen, die als ergänzende Tafel 111 der Serie Vasi, candelabri gedruckt wurde.
Georg Kabierske
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