Stilistische Gruppen
Georg Kabierske und Bénédicte MaronnieIn den Zeichnungen der Piranesi-Werkstatt in Karlsruhe lassen sich die Hände verschiedener Künstler erkennen. Bei Betrachtung des komplexen Werkstattmaterials gelangen bisherige Zuschreibungsmethoden indes immer wieder an ihre Grenzen, wie es auch in anderen Fällen größerer namhafter Werkstattkontexte, z.B. bei Rembrandt (1606–1669) oder beim englischen Kunsttischler Thomas Chippendale (um 1718–1779), festgestellt und erörtert wurde. Jedes einzelne Blatt mit einem Künstlernamen verknüpfen zu wollen, ist aufgrund der Komplexität solchen Werkstattmaterials bislang in vielen Fällen nicht eindeutig lösbar. Methodologisch ist es aufschlussreicher, Zusammenhänge von Zeichnungen aufzuzeigen, um das Material als organische Gesamtheit verstehen zu können. Eine erste Gruppenbildung konnte Stefan Morét bereits in Vorbereitung des internationalen Piranesi-Workshops an der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe vom 8. bis 10. April 2018 vornehmen. Diese wurde im Arbeitsprozess von den Autoren gemeinsam mit Christoph Frank weiter differenziert.
Da es sich bei den Zeichnungen in Karlsruhe in weiten Teilen um Vorstudien zu Motiven in Piranesis Druckwerken oder für andere Projekte handelt, ist oftmals eine zeitliche Einordnung möglich. Zum Beispiel kann das Publikationsdatum eines Drucks den terminus ante quem für eine Zeichnung angeben, die vor dem Druck entstanden sein muss (siehe dazu die Erläuterungen in den einzelnen Katalogeinträgen). Im Ausschlussverfahren lässt sich weiterhin bestimmen, welche Personen zu diesem Zeitpunkt in der Werkstatt aktiv waren oder mit Piranesi in Kontakt standen und somit als Urheber der Zeichnungen in Frage kommen könnten. Obwohl einige Namen bekannt sind, ist eine definitive Zuschreibung der Blätter oft nur bedingt möglich. Die hier vorgestellten Gruppen wurden auf der Basis von stilistischen Vergleichen gebildet, die Frage der Zuschreibung ist aber bislang nur mit Hypothesen zu beantworten, die weiter diskutiert werden müssen. Einerseits fehlen in vielen Fällen eindeutige bzw. signierte Referenzblätter der Künstler, andererseits existiert im Werkstattkontext die Praxis des Kopierens bzw. Übertragens von Zeichnungen und damit einhergehend das Imitieren eines bestimmten Stils. Darüber hinaus gibt es Zeichnungen, die von mehreren Händen in unterschiedlichen Arbeitsschritten ausgearbeitet wurden. Ferner ist zu vermuten, dass etwa Piranesis Kinder – Laura, Francesco, Angelo und Pietro – oder andere Personen, die in die Werkstatt eingebunden waren, anhand des verfügbaren Zeichenmaterials ausgebildet wurden. Bei den Kindern stellt sich die spekulative Frage, ab welchem Alter sie in der Lage waren, auf qualitätvollem Niveau Zeichnungen auszuführen. Außerdem entwickelt sich die Hand eines Zeichners im Laufe der Zeit weiter, was die Definition eines persönlich einheitlichen Stils für einen Künstler erschwert. Der Zeichenstil kann zudem nach Technik, Typologie (Figuren, Ornamentik, Architektur) und Funktion einer Zeichnung variieren, so unterschiedet etwa eine flüchtige Skizze von einer Reinzeichnung.
In den beiden Klebebänden können sowohl Zeichnungen enthalten sein, die innerhalb von Piranesis Atelier entstanden, als auch solche die von externen Künstlern gezeichnet worden sind und danach in die Motivsammlung der Werkstatt gelangten. Tatsächlich ist der Großteil der Zeichnungen in Karlsruhe nicht von Piranesi selbst ausgeführt worden, wenngleich einzelne von ihm eigenhändig überarbeitet wurden. Bei der Analyse der Alben sind vorrangig zwei Zeichner hervorgetreten, zum einen der französische Ornamentzeichner Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793) und zum anderen Giovanni Battistas ältester Sohn, Francesco Piranesi (1756?–1810). Die übrigen laut der Angaben von Piranesis Biographen Jacques-Guillaume Legrand (1753–1807) in der Werkstatt tätigen Künstler, Vincenzo Dolcibene (um 1746–1820) und Benedetto Mori (aktiv in den 1760er bis Anfang 1800),[1] sind in Karlsruhe nur schwer zu greifen. Dolcibenes bekannte Zeichnungen haben nur in wenigen Fällen einen Wiederhall gefunden, wie Vergleiche zeigen.[2] Da bislang keine Zeichnungen von Mori bekannt sind, der laut Legrand als Architekturzeichner bei Piranesi tätig war, ist sein Name mit keiner der Karlsruher Zeichnungen zu verbinden.[3] Hingegen könnten je nach Zeitraum auch noch andere Zeichner bei Piranesi tätig gewesen sein, deren Namen nicht überliefert sind. Dabei muss man von einer kleinen Anzahl direkter Mitarbeiter ausgehen und von Zeichnern, die Piranesi nahe waren oder seine Werkstatt frequentierten. Man denke an Hubert Robert (1733–1808), Charles-Louis Clérisseau (1721–1820) oder Jean-Laurent Legeay (um 1710–nach 1786), die alle in Legrands Lebensbeschreibung des Künstlers besonders hervorgehoben werden.
Zeitlebens fungierte Piranesi sowohl als Master Draughtsman (Meisterzeichner) als auch Mastermind (Ideengeber). Soweit sich dies belegen lässt, rekurriert somit die gesamte zeichnerische und graphische Produktion seiner Werkstatt allein auf ihn, unabhängig von der Frage, wer im Einzelnen der ausführende Zeichner gewesen sein mag, der zudem die jeweilige Zeichnung nach den Vorgaben Piranesis auszuführen gehabt haben dürfte – eine Praxis, wie sie noch heute in großen und bedeutenden Architekturbüros vorherrscht und sich zunehmend auch in den geradezu industriell betriebenen Werkstattbetrieben heutiger Künstler wiederfindet. Im Kontext der Neuidentifizierung der Karlsruher Alben ist jetzt erstmals die Betrachtung Giovanni Battista Piranesis Zeichenstil in Zusammenhang mit seiner Werkstatt übergreifend möglich, ein Themenfeld, das von der Forschung bisher nur in Einzelfällen beachtet wurde.[4] Eigenhändige Zeichnungen Piranesis konnten von Mitarbeitern im Zuge der Ausarbeitung durch weitere Zeichnungsschritte präzisierend übertragen werden. Zudem korrigierte oder beschriftete Piranesi zahlreiche Zeichnungen seiner Mitarbeiter mit eigener Hand. Dies ist nicht nur in Karlsruhe, sondern auch in den Piranesi-Beständen der Kunstbibliothek Berlin und der Morgan Library in New York belegt. Vor dem Hintergrund dieser Zuschreibungsproblematik ist es möglich, mittels stilistischer oder inhaltlicher Übereinstimmungen innerhalb der Karlsruher Alben verschiedene Zeichnungsgruppen zu bilden. Anstatt eine Zeichnung nur als einzelnes Werk zu betrachten, kann der Blick auf die ganze Gruppe neue Perspektiven in Bezug auf Zeichenart, Motive sowie deren Verknüpfungen und weitere Verbreitung eröffnen. Sollten in den nächsten Jahren zudem weitere Blätter aus der Piranesi-Werkstatt gefunden werden, könnten diese mit dem Karlsruher Material und den hier vorgeschlagenen Gruppen in Bezug gesetzt werden. Bislang unbekannte Zeichnungen könnten die Einordnungsversuche ergänzen, Zuschreibungen erleichtern oder auch revidieren.
Vergessen werden darf dabei nicht, dass die Karlsruher Zeichnungen sehr eng mit weiteren bekannten Blättern aus der Piranesi-Werkstatt verbunden sind. Dazu zählen die Zeichnungen der Morgan Library in New York, die Skizzenbücher der Biblioteca Estense in Modena[5] und ein Teil des Vogel-Escher-Albums[6] in der Zentralbibliothek Zürich sowie einzelne Blätter vor allem in der Kunstbibliothek Berlin, der Kunsthalle Hamburg und dem British Museum London. Eine gesamtheitliche Betrachtung des kompletten bislang bekannten Werkstattmaterials steht noch aus. In Bezug auf einzelne Karlsruher Katalogeinträge wird diese sammlungsübergreifende Einordnung nun eingeleitet. Diese neue Betrachtung von Zeichenmaterial aus der Werkstatt Giovanni Battista Piranesis wirft auch ein neues Licht auf die Zeichenpraxis von anderen Architekten und Künstlern in Rom und deren Vernetzung.
Im Verlauf einer mehrjährigen Begutachtung und Diskussion in der Forschungsgruppe konnten fünfzehn stilistische bzw. typologische Gruppen definiert werden, wobei mehrere auch von derselben Zeichenhand stammen können. Die Benennungen wurden möglichst offen formuliert, um den verschiedenen Zuschreibungshypothesen Raum zu geben und sie ausreichend diskutieren zu können. Aufgrund der vielfältigen Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Zeichnungen kommt es oftmals zu Überschneidungen zwischen den Gruppen. Für jene Blätter, die bislang nicht zuzuordnen waren, wurden vier Sondergruppen definiert.
Einzelnachweis
1. Siehe Gilbert Erouart/Monique Mosser: À propos de la „Notice historique sur la vie et les ouvrages de J.-B. Piranesi": origine et fortune d’une biographie, in: Piranèse et les français, Kolloquium, Rom, Villa Médicis, 12.–14. Mai 1976, Rom 1978, S. 213–252, hier S. 230: „Dolcibene qui dessina pour Piranesi pendant 7 à 8 ans des figures, bas-reliefs et autres accessoires de l’achitecture“ und S. 251: „Fr. Piranesi continua donc ses travaux […] en s’adjoignant toujours le fidèle compagnon de son père et le sien l’architecte Benedetto Mori graveur habile et aussi laborieux qu’instruit dans toutes les parties de l’architecture civile.“
2. Die hier hinzugezogenen Zeichnungen von Dolcibene sind jene aus dem Bestand von Charles Townley im British Museum, London. Zu Dolcibene und seiner Tätigkeit als Zeichner für Charles Townley siehe Ilaria Bignamini/Clare Hornsby: Digging and Dealing in Eighteenth-Century Rome. New Haven/London 2010, S. 178, 179, 181, 190; Viccy Coltman: Designs on eighteenth-century sculpture, in: The Sculpture Journal 13, 2005, S. 89–102.
3. Über die künstlerische Tätigkeit von Benedetto Mori ist nicht viel bekannt. Auf Grundlage von Legrand nimmt Bevilaqua an, er habe während Piranesis Reisen nach Paestum und Pompeji zur Ausführung von Grundrissen und technischen Zeichnungen beigetragen, siehe u.a. Mario Bevilacqua: Piranesi 1778: Ricerche interrotte, opere perdute, in: Vincenzo Cazzato/Sebastiano Roberto/Mario Bevilacqua (Hg.): La festa delle arti: Scritti in onore di Marcello Fagiolo per cinquant’anni di studi, 2 Bde., Rom 2014, Bd. 2, S. 792–797, hier S. 792, 795. Zudem wird vermutet, dass er an der topographischen Aufnahme der Villa Adriana und vom Campo Marzio beigetragen habe, vgl. Rossana Caira Lumetti: La cultura dei Lumi tra Italia e Svezia. Il ruolo di Francesco Piranesi, Rom, 1990, S. 133; John Pinto/William Lloyd MacDonald: Hadrian's Villa and its Legacy, New Haven 1995, S. 247. Zwischen 1780 und 1808 lieferte er die Architekturzeichnungen für die Histoire de l’art par les monuments (1823) von Séroux d’Agincourt. Benedetto, sein Bruder Vincenzo sowie Francesco werden zu den Protagonisten der Armfelt-Affäre (1793–1794), dazu siehe Caira Lumetti 1990 (siehe oben), S. 127–170. In einem Brief an Acton (Dezember 1794) wird erwähnt, dass Mori seit 12 Jahren für Piranesi arbeitet, siehe Rossana Caira Lumetti (Hg.): Vincenzo Monti, Lettera di Francesco Piranesi al Signor Generale D. Giovanni Acton, Palermo 1991, S. 69–71.
4. Siehe Sarah Vowles: Piranesi Drawings. Visions of Antiquity, Ausst. Kat. London, British Museum, London 2020, S. 6–9.
5. Biblioteca Estense Universitaria di Modena, ms. Campori 1522 (γ 6, 32) und ms. Campori 1523 (γ 6, 23).
6. Zentralbibliothek Zürich, Vogel-Escher Album, FA Escher vG.188.6.
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