Das Giebelrelief eines antiken Grabaltars, ein Kapitell und eine Säulenbasis: Dieses Blatt gehört zu Piranesis Skizzen vor antiken Fragmenten, die er spontan auf Erkundungsspaziergängen durch die Stadt oder Besichtigungen von Monumenten und Ausgrabungsorten anfertigte. Die Beschriftung verweist auf den Ort, an dem er die hier wiedergegebenen Elemente gesehen hat. In der Werkstatt müssten viele solche gezeichneten Notizen von Piranesis existiert haben, auch in Form von Skizzenbüchern.
Giebelseite eines Grabaltars (auf dem Kopf stehend), Kapitell und Säulenbasis aus dem Collegio Romano
Werkdaten
Künstler
Giovanni Battista Piranesi (1720–1778), Gruppe 1
Ort und Datierung
Rom, vor 1761
Abmessungen (Blatt)
228 x 169 mm
Inventarnummer
IX 5159-35-30-5
- Zeichenmedien
Rötel
- Beschriftungen
In der Handschrift von Giovanni Battista Piranesi in Rötel bezeichnet: „nel Coleggio Romano/Coleggio Romano“
- Literatur
Georg Kabierske: A Cache of Newly Identified Drawings by Piranesi and His Studio at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Master Drawings 53, 2015, S. 147–178, hier S. 164, Abb. 25.
- Hadernpapier
Vergé; vermutlich italienische Herstellung; Papierseite der Zeichnung nicht zuweisbar
- Rückseite
Keine erkennbaren Hinweise auf eine rückseitige Bezeichnung oder Beschriftung
Das Werk im Detail
- Bildgegenstand und ikonographische Bedeutung
Auf diesem Blatt sind drei Bauornamente dargestellt. Oben ist das Giebelrelief eines antiken Grabaltars schnell skizziert. Da das Blatt beim Zeichnen gedreht wurde, ist es hier auf dem Kopf stehend zu sehen. Im Zentrum des Giebels befinden sich zwei Tauben in einer Muschel, links davon ein Delphin und ein Akroter in Form einer Maske. Die rechte Hälfte wurde nur zum Teil angedeutet und nicht vervollständigt.
Im Zentrum des Blattes ist ein Kapitell gezeichnet, dessen horizontale Konstruktionslinien und Mittelachse mit dem Lineal angelegt wurden – im oberen Bereich wurde die Mittelachse freihändig fortgeführt. Das Kapitell ist von den dargestellten Elementen zeichnerisch am genauesten ausgeführt. Es handelt sich um die Variante eines korinthischen Kapitells mit glatten Blättern, von dem zahlreiche Exemplare bekannt sind.[1] Die Mittelachse geht in die Zeichnung des Giebelreliefs über und zeugt davon, dass dieses zuerst gezeichnet wurde.
Unter dem Kapitell sind die Umrisse einer Säulenbasis dargestellt, deren Mittelachse diesmal komplett freihändig gezeichnet wurde. Die horizontalen Konstruktionslinien wurden in der linken Hälfte der Zeichnung mit Lineal gezeichnet und nach rechts freihändig erweitert. Nur der linke Teil des Profils der Basis ist vollendet worden.
Zur Verortung der zwei zuletzt genannten Bauornamente hat Giovanni Battista Piranesi rechts über das Kapitell und den Säulensockel die Angaben „nel Coleggio Romano“ beziehungsweise „Coleggio Romano“ geschrieben. Die Authentizität der Handschrift lässt sich durch mehrere Vergleiche mit eigenhändigen Quellen belegen (Abb. 1).
Zu Piranesis Zeit war das Collegio romano – bis zur Aufhebung des Ordens durch Papst Clemens XIV. im Jahr 1773 – der Sitz der Jesuiten in Rom. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts bewahrte das Collegio die berühmte archäologische Sammlung und Raritätenkammer des deutschen Gelehrten und Abts Athanasius Kircher (1601–1680), das sogenannte Musaeum Kircherianum.[2] Mitte des 18. Jahrhunderts war der Jesuit Contuccio Contucci (1688–1768) Kustode der Sammlung, die nach Kirchners Tod vor allem im 18. Jahrhundert wesentlich erweitert wurde. Contucci gehörte zu den Gelehrten, die mit Giovanni Battista in Kontakt waren.[3]
Säulenbasen und Kapitelle dieser Art sind Teile einer seriellen Antikenproduktion. Insofern sind die Vorbilder nicht eindeutig zu identifizieren. Vergleichsbeispiele sind jedoch in römischen Sammlungen zu sehen: mehrere Exemplare einer solchen Basis befinden sich noch heute in der Sammlung des Collegio Romano,[4] während das Museo Nazionale Romano verschiedene Beispiele eines solchen Kapitells aufbewahrt.[5] Zu Piranesis Zeit dürften mehrere solcher Bauornamente im Collegio Romano existiert haben.[6]
Die drei Bauornamente scheinen wegen ihrer homogenen Ausführung zeitnah auf dem Blatt gezeichnet worden zu sein. Das Giebelrelief ähnelt sehr dem Giebelrelief mit Vögeln unbekannter Provenienz, das heute im Kreuzgang der Kirche San Paolo fuori le Mura eingemauert ist (Abb. 2).[7] Hier liegt die Vermutung nahe, dass sich dieses Giebelrelief zur Zeit Piranesis im oder nahe des Collegio Romano befand, und erst später in der Kirche versetzt wurde, oder wahrscheinlicher, dass es bei den Jesuiten ein weiteres Exemplar gab, dass uns nicht bekannt ist.
Bénédicte Maronnie
Einzelnachweis
1. Siehe z.B. Antonio Giuliano (Hg.)/ Angelo Gallottini, Loretta Lupi (Bearb.): Museo Nazionale Romano, Bd. I, 11, Nr. 31–33, 110, S. 18f., 66.
2. Zur Geschichte der Sammlung siehe u.a. Ettore de Ruggiero: Del Museo Kircheriano, Parte Prima, Rom 1878, S. VII–XXXI.
3. Siehe Legrand in Gilbert Erouart/Monique Mosser: À propos de la „Notice historique sur la vie et les ouvrages de J.-B. Piranesi": origine et fortune d’une biographie, in: Piranèse et les français, Kolloquium, Rom, Villa Médicis, 12.–14. Mai 1976, Rom 1978, S. 213–252, hier S. 238; Mario Bevilacqua: Piranesi. Taccuini di Modena, Bd. 1, Rom 2008, S. 60f.
4. Marina Sapelli: Antichità del Collegio Romano, in: Claudia Cerchiai (Hg.): Il Collegio Romano dalle origini al Ministero per i Beni e le Attività culturali, Rom 2003, S. 19–43, hier siehe z.B. Nr. 23, S. 36.
5. Antonio Giuliano (Hg.)/Angelo Gallottini, Loretta Lupi (Bearb.): Museo Nazionale Romano, Bd. I, 11, Nr. 31–33, 110, S. 18f., 66. Die Nr. 110, S. 66 stammt übrigens aus Kirchers Sammlung. Im Druck von 1678 aus Giorgio Sepis Beschreibung ist der Innenraum von Kirchers Museum gezeigt, in dem eine (?) Säule, Kapitelle und Pilaster zu sehen sind. Diese sind aber im Druck kaum zu identifizieren. Siehe Georgius Sepibus: Romani Collegii Societatis Jesu Musaeum Celeberrimum […], Amsterdam 1678, Titelblatt, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Inv. Q763-8-FOL RES.
6. Solche Kapitelle mit glatten Blättern befinden sich noch heute im Collegio Romano, siehe Marina Sapelli: Antichità del Collegio Romano, in: Claudia Cerchiai (Hg.): Il Collegio Romano dalle origini al Ministero per i Beni e le Attività culturali, Rom 2003, S. 19–43, hier Nr. 14, 15, S. 32f.
7. Der größte Teil der antiken Reliefs und Inschriften, die in der Kirche San Paolo fuori le mura aufbewahrt waren, wurden bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Kreuzgang zusammengebracht und zum Teil eingemauert. Die Anordnung der Sammlungsstücke wurde im Laufe der Zeit geändert, siehe Giorgio Filippi (Hg.): Il Chiostro di San Paolo fuori le Mura. Architettura e raccolta archeologica, Vatikanstadt 2010, S. 43–60. Dort ist der Giebel jedoch nicht spezifisch erwähnt.
- Einordnung in das Gesamtwerk Piranesis
Das Motiv des Kapitells und der Basis sind in einer Tafel der Druckserie Della Magnificenza dei Romani (1761) abgebildet (Abb. 3a),[1] sowie auch weitere Zeichnungen aus Piranesis Werkstattmaterial, z.B. das Hekataion aus Villa Albani auf Blatt IX 5159-35-32-2 (siehe Della Magnificenza, Taf. 12). Dies ist auch bei einigen Zeichnungen in der Morgan Library der Fall, beispielsweise bei einem Gebälkfries mit Delphinen und Palmetten (Inv. 1966.11.21, vgl. Della Magnificenza, Taf. 18) und einem Kapitell (Inv. 1966.11.22, vgl. Magnificenza, Taf. 19),[2] die stilistisch und zeitlich einer gemeinsamen Gruppe von Zeichnung aus der Werkstatt zugeordnet werden können.
Die beiden Zeichnungen der Basis und des Kapitells scheinen jedoch nicht von vornherein als Vorzeichnungen im Hinblick auf dem Druck angelegt worden zu sein. Es sind vielmehr gezeichnete Notizen oder Dokumentation antiker Stücke, die sich zu Piranesis Zeit im Collegio Romano befanden. Darauf weist zum Beispiel die Präsenz eines weiteren Elements auf demselben Blatt: das Giebelrelief, das im Druck nicht übernommen wurde. Demnach wurden die gezeichneten Motive erst im Nachhinein als Teil von Piranesis Motivsammlung für die gedruckte Zusammenstellung verschiedener Bauornamente in der Tafel 17 von Della Magnificenza verwendet. In Bezug auf diese Druckserie darf das Blatt in der zweiten Hälfte der 1750er oder um 1760 datiert werden, auf jeden Fall vor dem Jahr seiner Veröffentlichung 1761.
Im Rahmen der zeitgenössischen Debatte um die Vorrangstellung der römischen oder griechischen Kunst, die sich auf internationalem Niveau entwickelte, publizierte Piranesi 1761 Della Magnificenza dei Romani. In Text und Bild plädierte er für die römische Kunst. Seine Tafeln richten sich besonders an den französischen Architekten David Leroy und gelten als direkte Antwort auf seine kurz zuvor publizierte Beschreibung Antiquités de la Grèce (1758). Piranesi baute mit seinen Tafeln eine vergleichende Gegenargumentation auf und zitierte dafür einzelne Elemente wörtlich aus Le Roys Antiquités. So wird in der Tafel 17 von Della Magnificenza (Abb. 3) ein zerstörtes, kaum erkennbares Kapitell aus Delos abgebildet. Dieser ist auf einem zettelartigen aufgehängten, illusionistisch wiedergegebenen Papierstück mit der Beschriftung „Inter Deli rudera“ („in den Ruinen von Delos“) als Zitat aus Le Roys Werk wiedergegeben (Abb. 4).[3] Die weiteren in diesem Druck von Piranesi dargestellten römisch-antiken Bauornamente kontrastieren durch ihre Pracht und Vollständigkeit nicht ohne rhetorische Ironie, mit das kleine und zerstörte Kapitell Le Roys. Unter den römischen Bauornamenten ist rechts oben das Kapitell aus dem Collegio Romano abgebildet und links hinter Le Roys Kapitell die Säulenbasis. Beide sind mit der Legende „In colleggio Romano“ beschriftet, die wiederum den Leser auf Piranesis empirische Kenntnis der Antike verweisen.
Bénédicte Maronnie
Einzelnachweis
1. Siehe Carlo Gasparri: Piranesi e il suo archivio di modelli di architettura, in: Ginevra Mariani (Hg.): Giambattista Piranesi: Matrici incise 1761–1765, Rom 2017, S. 27–38. Die Verbindung der Zeichnung des Kapitells mit dem Druck wurde auch von Carlo Gasparri aufgezeigt (siehe Kat. 45, S. 180).
2. Siehe auch ebd. Kat. 47, S. 181; Kat. 50, S. 182 und Felice Stampfle: Giovanni Battista Piranesi, Drawings in the Pierpont Morgan Library, New York 1978, Kat. 22, 23, S. xxiii.
3. Die vollständige Beschriftung des Drucks lautet: „Les plus beaux monuments de la grèce. Ex Le Royo part. 2”.
- Graphischer Transfer und mediale Umsetzung
Den technischen Untersuchungen von Maria Krämer zufolge weist das Blatt Spuren einer Übertragung mithilfe eines geölte Papiers auf (siehe Essay „Mit Öl und Wasser kopiert“).[1] Die Maße des Kapitells stimmen in der Zeichnung und im Druck aus Della Magnificenza überein. In den jeweiligen Medien werden die Schattierungen unterschiedlich erzeugt (Abb. 5). Im Druck werden die Tonabstufungen vom tiefen Schwarz bis Weiß bzw. Schatten und Licht durch akkurat gesetzte Parallellinien wiedergeben, in der Zeichnung durch spontane verwischte Rötelansätze. Solch ein technischer Unterschied wird bei diesem Kapitell besonders gut sichtbar.
Wie es Augusta Monferini und rezenter Ciro Salinitro gezeigt haben, ist es nicht ungewöhnlich, Radierübungen auf Rückseiten von Druckplatten aus Piranesis Werkstatt zu finden.[2] So ist das Kapitell mit einer Metallnadel freihändig und etwa grob zusammen mit anderen zumeist geometrischen Motiven auf der Rückseite des ersten Frontispizes zu Della Magnificenza dei Romani (Rom, Istituto Centrale per la grafica, Inv. VIC 1400/285 verso), vermutlich nach bereits radiertem Vorbild in Tafel 17, kopiert worden. Der Vergleich (Abb. 6) zwischen den beiden Darstellungen, die eine in der Drucktafel für Tafel 17, die andere auf der Rückseite macht die unterschiedliche technische Ausführung und Qualität deutlich sichtbar.[3] Die Datierung solcher Übungen ist nicht gesichert, laut Ciro Salinitro wurden sie vermutlich von einem Radierer der Werkstatt im Ausbildungskontext erst zu Francescos Zeit nach 1778 erzeugt.[4]
Bénédicte Maronnie
Einzelnachweis
1. Ich bedanke mich Maria Krämer für diese Mitteilung vom 30.11.2021.
2. Augusta Monferini: Nota introduttiva al catalogo, in: Henri Focillon (Hg.): Giovanni Battista Piranesi, Bologna 1967, S. 265–268, Abb. 240; Ciro Salinitro: Incisioni sul verso delle matrici piranesiane. Nuove scoperte per uno studio sulle implicazioni della bottega nella produzione della Calcografia Piranesi, in: Ginevra Mariani (Hg.): Giambattista Piranesi: Matrici incise 1761–1765, Rom 2017, S. 57–63 und Ciro Salinitro in ebd., Kat. Nr. 26, S. 166.
3. Abgebildet in Ciro Salinitro: Incisioni sul verso delle matrici piranesiane. Nuove scoperte per uno studio sulle implicazioni della bottega nella produzione della Calcografia Piranesi, in: Ginevra Mariani (Hg.): Giambattista Piranesi: Matrici incise 1761–1765, Rom 2017, S. 57–63, Detail S. 61, Abb. 6a; Augusta Monferini: Nota introduttiva al catalogo, in: Henri Focillon (Hg.): Giovanni Battista Piranesi, Bologna 1967, S. 267, Nr. 927 und Abb. 240. Ginevra Mariani hat während des Workshops in der Kunsthalle Karlsruhe im April 2018 auf die Verbindung mit der Rückseite hingewiesen. Für diesen Hinweis bedanke ich mich sehr.
4. Ciro Salinitro: Incisioni sul verso delle matrici piranesiane. Nuove scoperte per uno studio sulle implicazioni della bottega nella produzione della Calcografia Piranesi, in: Ginevra Mariani (Hg.): Giambattista Piranesi: Matrici incise 1761–1765, Rom 2017, S. 57–63, hier S. 61–63.
- Zuschreibungshypothesen
Der spontane, jedoch kontrollierte und flüssige Duktus entspricht eindeutig Giovanni Battista Piranesis Stil. Die Schreibweise sowie die Typologie der Zeichnung – eine vor Ort am Gegenstand hergestellte Kopie – erinnern an die Skizzenbücher in Modena, aber auch an andere Zeichnungen in Karlsruhe, wie die eines etruskischen Kapitells (IX 5159-35-19-5), die aber eine akkuratere zeichnerische Ausführung aufweist. Stilistisch nahe sind vor allem weitere eigenhändige Ornamentzeichnungen aus der Morgan Library, beispielsweise der Gebälkfries mit Delphinen und Palmetten (Inv. 1966.11.21) und hinsichtlich des lockeren Duktus insbesondere die Zeichnung eines Brustornaments von der Statue der Artemis von Ephesos heute im Museo archeologico in Neapel (Abb. 7). All diese Zeichnungen sind durch ihre Verbindung mit der Druckserien Della Magnificenza dei Romani (1761) und der Lapides Capitolini (1762) Ende der 1750er Jahre oder um 1760 zu datieren.
Bénédicte Maronnie
Schlagwörter
- Rötel
- Giovanni Battista Piranesi
- Stilistische Gruppe 01
- Säulenbasis
- Giebelrelief
- Magnificenza dei Romani
- David Le Roy
- IX 5159-35-30-5
- Anker im Kreis (Beizeichen: D und M)
GND-Begriffe
Permalink | piranesi.kunsthalle-karlsruhe.de/de/werk/111/giebelseite-eines-sarkophagdeckels-kapitell-saulenbasis
Der Permalink führt Sie immer zur neuesten Version des Beitrags.Zitierfähiger Link | piranesi.kunsthalle-karlsruhe.de/de/werk/111/giebelseite-eines-sarkophagdeckels-kapitell-saulenbasis/1
Mit dem zitierfähigen Link können Sie zukünftig auf diese Inhalte zugreifen, ohne dass Änderungen am Text vorgenommen wurden.
Kommentare
Hier können Sie uns Anmerkungen und Kommentare zu unseren Objekten hinterlassen, die nach Sichtung durch unsere Mitarbeiter*innen allen Leser*innen angezeigt werden.