
Die Werte der Karlsruher Klebebände
Ein Plädoyer für das Imperfekte
Irene BrückleDie Zeichnungen zeigen sichtbare Spuren historischer Nutzung, die man ohne weitere Kenntnis der Alben einfach als einen zu restaurierenden Schaden betrachten könnte. Wie wir im Kontext der Karlsruher Klebealben augenscheinliche Schäden bewertet haben, erfahren Sie in diesem Essay.
- Einführung
Tritt man zum ersten Mal vor die Karlsruher Zeichnungen, so beeindrucken der Reichtum der Motive und die Dynamik künstlerischer Techniken dieser – insbesondere in markantem Rötel und tiefschwarzen Kreiden – ausgeführten Werke. Unweigerlich wird der Blick allerdings auch auf einige weitere schadensartige Erscheinungsbilder gelenkt. Deutlich erkennbar sind (Abb. 1) unterschiedlich bräunliche Flecke (1, 2, 4, 5, 8, 9), Ablagerungen von Rötel (5), starke Knicke (5, 6, 7), abgerissene Ecken (2, 4, 9) und Einrisse (4, 9, 10), Insektenfraß (10) und etwas „schäbig“ wirkende Reparaturen (3).[1]
Abb. 1: Erscheinungsbilder, die nicht zu den gezeichneten Darstellungen gehören: 1. Tintenflecke; 2. Klebepunkt, ausgerissene Ecke, Fehlstellen, Rötelabrieb; 3. Reparaturen; 4. Ölfleck, ausgerissene Ecken, Einriss; 5. Ablagerung von Rötel, Knick; 6. vertikale Falte; 7. Knicke (Streiflicht); 8. Ablagerung einer braunen Substanz; 9. Einriss, aufklebendes Fragment einer Zeichnung, Klebepunkt; 10. Einriss, Insektenfraß Zunächst liegt es nahe, diese sichtbaren Merkmale als beeinträchtigend zu empfinden, einer ungestörten Würdigung der Motive unangemessen. Es überrascht nicht, dass dunkle Flecke, starke Knicke und große Fehlstellen im Papier auch negativ beeindrucken können, sind wir es doch gewohnt, das museal gepflegte Kunstwerk in einem gemäßigten Zustand natürlichen Alterns anzutreffen. Visuell aufdringliche Störfaktoren werden bei vielen Werken auf Papier normalerweise soweit minimiert, dass sie hinter der ästhetischen Wirkung zurücktreten und von der inhaltlichen Wertschätzung nicht ablenken. Gepflegte Erscheinungen des Alterns – etwa eine leichte Verfärbung des Papiers oder Spuren inzwischen geschlossener Einrisse – können uns zwar bei der Betrachtung eines alten Kunstwerks einnehmen und sogar beeindrucken, denn sie erinnern uns daran, dass sein Überleben bis zu seinem Eingang in die schützende Institution des Museums nicht als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden kann. Dagegen erwecken nicht behandelte Knickfalten und offenstehende Einrisse leicht den Eindruck mangelnder Pflege. Eine Erwägung, die sich wohl verstärkt, wenn man als Außenstehender solche Störungen als technisch behebbar einschätzt, wie es bei einem Einriss der Fall sein mag. So ein Gedanke führt leicht weg von einer Kontemplation der künstlerischen Inhalte, die uns ein Besuch im Museum, ob wir es nun wissbegierig oder ästhetisch meditierend durchwandern, bieten kann. Überdies führen derartige Überlegungen zurück in einen außermusealen Alltag, in dem wir Defekte pragmatisch mit Reparaturanliegen verbinden. Doch kann man mit diesem Ansatz auch in die geschichtliche Betrachtung der Zeichnungen einsteigen, denn einige von ihnen wurden noch in Rom und womöglich durch Mitarbeiter der Piranesi-Werkstatt repariert (Abb. 1: 3). Restauratoren im heutigen Sinn gab es damals noch nicht, wohl aber war man um die Erhaltung der Zeichnungen bemüht, was die historische Ausbesserung eindrücklich dokumentiert.
Andere schadensartige Erscheinungsbilder sind weniger leicht zu deuten, aber für viele von ihnen konnte unsere Forschung zeigen, dass sie entweder schon aus der Entstehungszeit der Zeichnungen stammen oder ihrer Nutzung im geschäftigen Umfeld von Piranesis römischer Werkstatt zuzuschreiben sind. Dort dienten die Zeichnungen als Arbeitsmaterial für weitgespannte Projekte, insbesondere Piranesis umfangreiches Druckwerk. Davon abgesehen wurden sie rege ausgetauscht, kopiert und vertrieben. Für diese Zwecke wurden sie durch Abklatsch und Ölpause kopiert, wodurch unter anderem Ölspuren entstanden (Abb. 1: 4). Andere Flecke wurden wohl durch das Hantieren mit Druckplatten in unmittelbarer Nähe der Zeichnungen übertragen (Abb. 1: 8). Vermutlich wurden die Blätter schon gegen Ende dieser Epoche, vielleicht um die Zeit oder direkt nach Piranesis Tod im Jahr 1778, zur Aufbewahrung auf Papierbögen montiert, einem ersten sortierenden und sammelnden Impuls folgend. Ein solches Vorgehen ist an Papierfragmenten und Klebstoffpunkten ablesbar (Abb. 1: 2, 9). Die Spuren haben also durch ihren direkten Bezug zur Piranesi-Werkstatt historischen Wert.
Unterschiedlich deutliche, schadensartige Spuren kennzeichnen fast alle Zeichnungen der Karlsruher Piranesi-Alben und bilden damit eine Art zweiten, der Motivanalyse untergeordneten Erzählstrang. Es bietet sich daher an, Knicke, Flecke und sonstige, nicht ausdrücklich zeichnerische, aber visuell wirksame Spuren in Bezug auf die unterschiedlichen, mit den Zeichnungen verbundenen Werte in den Blick zu nehmen. Ästhetische, historische, künstlerische und sonstige Charakteristika, die im Folgenden als Werte (engl. values) bezeichnet werden sollen, sind generell spezifisch für jedes Objekt und unter Berücksichtigung seines Kontexts zu konkretisieren.[2] Sie umgeben das Kunstwerk wie eine Art Kraftfeld und sind Ausdruck unseres Interesses an ihm. Die „Kombination aller Werte, die einem Objekt zugeschrieben werden“ machen seine Bedeutung (engl. significance) aus.[3] Für die Karlsruher Zeichnungen hat die interdisziplinäre Analyse innerhalb des Ende 2021 abgeschlossenen DFG/D-A-CH Förderungsprojekts feststellen können, dass fast jeder einzelnen von ihnen über die Alben hinausweisend verschiedene Werte zukommen, die umfassende Bedeutung dieses gesamten zeichnerischen Bestands aber in seiner überlieferten Bewahrung in den Klebebänden an der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe zu verankern ist.
Vom Projektende aus betrachtet, lässt sich hinsichtlich des erzielten Forschungsresultats überspitzt sagen, dass die Zeichnungen in der fünfjährigen Aufarbeitung aus einem unübersichtlichen Anfangszustand in eine intellektuell fassliche Ordnung gebracht wurden. Entscheidend für die hier thematisierten schadensartigen Störungen ist dabei, dass sie nicht als hinzunehmender Mangel verbleiben, sondern künftig als ein identitätsstiftender Bestandteil der Zeichnungen betrachtet werden. In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, dass visuelle Störfaktoren und Alterungsspuren als materialtechnische Merkmale an Kunstwerken einer auf das Publikum abgestimmten Erläuterung[4] bedürfen, will man sie mit dem gleichen Gewinn wie die motivischen, historischen oder stilistischen Inhalte[5] betrachten.
Mit Blick auf diesen Anspruch an die museale Vermittlung wird vorliegender Essay versuchen, den Zustand der Zeichnungen in den Karlsruher Piranesi-Klebebänden bezogen auf ihre Werte darzustellen. Über dieses direkte Anliegen hinaus bietet die fokussierte Betrachtung der nichtzeichnerischen – also der schadensartig wirkenden oder tatsächlich als Schaden zu wertenden – Spuren auch ganz grundsätzlich Gelegenheit zum Nachdenken über unsere Haltung gegenüber imperfekten Zuständen von Kunstwerken auf Papier. Daher ist dieser Essay auch als Beitrag zur restauratorischen Theoriebildung gedacht.
Einzelnachweis
1. Die Abb. zeigt Details aus den folgenden Werken der Karlsruher Klebealben: 1: IX 5159-35-14-1, 2: IX 5159-35-19-1, 3: IX 5159-35-8-3, 4: IX 5159-35-8-3, 5: IX 5159-35-11-1, 6: IX 5159-35-35-1, 7: IX 5159-35-7-1, 8: IX 5159-35-11-2, 9: IX 5159-35-12-3, 10: IX 5159-35-47-1.
2. Die in jüngerer Zeit wohl prägnanteste restauratorische Darstellung von Wertevorstellungen im Umgang mit Kulturgut, entwickelt aus ihrer Erfahrung in interdisziplinären Zusammenhängen, gibt die Objektrestauratorin Barbara Appelbaum: Conservation Treatment Methodology, Amsterdam 2007, S. 86–115; ihre Liste umfasst: den künstlerischen Wert, den ästhetischen und historischen Wert sowie Werte des Gebrauchs (= heutige Nutzung einschließlich z.B. religiöser Praxis bei ethnographischen Objekten); Werte in Zusammenhang mit der Forschung und Vermittlung; die Alters- und Neuheitswerte; persönliche und monetäre und Raritätswerte; durch Bezug auf Personen oder Ereignisse der assoziative und Erinnerungswert; diese Liste ist anpassbar und erweiterbar. Aus der Perspektive des modernen Kunsthandels hat sich mit den Werten des Originals befasst: Wolfram Völcker (Hg.): Was kostet Kunst? Ein Handbuch für Sammler, Galeristen, Händler und Künstler, Ostfildern 2011.
3. Definition von Werten im Verhältnis zur Bedeutung von Kulturgut, siehe Technisches Komitee CEN/TC 3346: EN 15898:2011-12 (D), Erhaltung des Kulturellen Erbes – allgemeine Begriffe, Brüssel 2011, 3.1.6, S. 8.
4. Schon Andrew Oddy notierte diesen Bedarf mit dem Hinweis, dass die Erwartungen der Öffentlichkeit an den Grad einer restauratorischen Wiederherstellung von den Vorstellungen eines Fachgremiums differieren kann; siehe A. Oddy (Hg.): Restoration: Is It Acceptable?, gleichnamige Einleitung des Hg., London 1994, S. 3–7, hier S. 7. Dem konservierungswissenschaftlichen Erklärungsbedarf von (gealtertem) Kulturgut kommen Vermittlungsprogramme wie der europaweite „Tag der Restaurierung“ nach oder institutionelle Einzelprojekte wie das Kulturgut-Lab der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, ein vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gefördertes „Lehr- und Lernlabor“. Ein ausgefeiltes Museumsprogramm wird vorgestellt von Francesca Casadio/Jacqueline Terrassa/Emily Fry/Michael Neault/Sarah Alvarez: Intersections in an Art Museum. Where Art meets Science, Art Institute of Chicago 2020 (alle eingesehen am 27.12.2021).
5. Dass begleitende Information die kognitive Erfassung eines Kunstwerks verbessert und damit die ästhetische Erfahrung positiv verstärkt, wurde für die stilistische Betrachtung abstrakter Kunst untersucht, die, vergleichbar den hier thematisierten Alterungsspuren, nicht motivisch lesbar ist und daher eine gewissen Parallele bietet; siehe Benno Belke/Helmut Leder/M. Dorothee Augustin: Mastering Style – Effects of Explicit Style-Related Information, Art Knowledge and Affective State on Appreciation of Abstract paintings, in: Psychology Science 48, 2006, S. 115–134 (eingesehen am 27.12.2021).
- Grundsatz konservatorischer Sicherung
Eingangs hervorzuheben sind die restauratorischen Grundsätze, die das Fundament jeder, auch der forschenden Beschäftigung mit dem zu konservierenden Original bilden. Für dessen Erhaltung sind Spezialistinnen und Spezialisten aus dem Fach der Restaurierung verantwortlich. Entsprechend der jeweiligen Objektart wird diese Verantwortung von den beteiligten Vertretern der Kunstgeschichte, des Denkmalschutzes, der Archäologie und sonstigen öffentlichen oder privaten Interessensvertreten mitgetragen. Grundsätzlich sind alle Beteiligten einer Sicherung des noch erhaltenen Bestands und einer möglichst weitgehenden Entschleunigung künftigen Alterns verpflichtet, wobei auch die Anliegen heutiger Nutzer zu berücksichtigen sind. Vielfältige, oft durch umfangreiche Untersuchungen vorbereitete Schutzmaßnahmen rings um das Original gewährleisten dabei sein langfristiges Bestehen. Auf dieser Grundlage werden sichernde oder auch wiederherstellende Eingriffe, die womöglich einen früheren Zustand des Objekts zurückgewinnen sollen, verhandelt. Die restauratorische Arbeit umfasst dabei die Analyse des Werks im vorgefundenen Zustand; gefolgt von der Feststellung derjenigen Faktoren, die seine Erhaltung gefährden und seine Wertschätzung beeinträchtigen; darauf fußend werden Entscheidungen über passende Maßnahmen getroffen. Bei komplexen Gegenständen, zu denen auch die Karlsruher Klebebände (und grundsätzlich alle Klebebände dieses Typus) gehören, ist die Entscheidungsfindung ein Prozess, der gelegentlich Kompromisslösungen erfordert.
Für die Karlsruher Klebebände waren die konservatorischen Voraussetzungen ihrer Erhaltung günstig, denn sie sind seit ihrem Eintritt in die Sammlung 1861 museal sorgfältig aufbewahrt worden. Akute Gefährdungen bzw. Risiken einer künftigen Schädigung der Zeichnungen, ausgehend von den genannten Spuren (Abb. 1), wurden innerhalb des Forschungsprojekts, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht festgestellt. Als Gefährdung dieser Art fielen etwa vereinzelte, inzwischen gesicherte Einrisse an exponierten Blatträndern der Zeichnungen ins Auge; in den jeweiligen Werkbeschreibungen sind solche Eingriffe notiert. Die Fixierung der Zeichnungen in den Alben war konservatorisch also insgesamt weiterhin vertretbar, da diese, gut zweihundert Jahre bestehende Situation die Erhaltung der Zeichnungen bisher nicht erkennbar negativ beeinflusst hat. Der künftige analoge Zugang zu den Klebebänden wurde durch einige konservatorische Neuerungen optimiert. Die im Folgenden dargelegte Werteanalyse war daher nicht von Fragen notwendiger konservatorischer Sicherung beherrscht.
- Werte der Zeichnungen
Die Zeichnungen in den Karlsruher Piranesi-Klebebänden haben viele, unterschiedlich zu klassifizierende Werte. Zuerst einmal ist jede von ihnen ein physisches Objekt, dessen Wert in seiner Materialität besteht. In unserem Fall betrifft dies eine bestimmte Sorte Papier, auf das mit einer bestimmten Art von Zeichenmittel, etwa mit Kreide, in einer bestimmten Weise gezeichnet wurde. Dadurch ergibt sich ihr weiterer Wert als Unikat. Jede der Zeichnungen hat zudem einen künstlerischen Wert, indem sie Ausdruck künstlerischen Schaffens ist, womöglich zum Œuvre eines bekannten Künstlers wie etwa Nicolas François Daniel Lhuillier gehörig (siehe Essay „Stilistische Gruppen“, Gruppen 4–7). Überdies mag sie Raritätswert haben. Eine solche Qualität hat eine Zeichnung dann, wenn nur wenige vergleichbare Werke existieren. In unserem Kontext gilt dies insbesondere für die komplexen, durch den Karlsruher Fund bekannt gewordenen Vorzeichnungen für die in der Piranesi-Werkstatt neu geschaffenen Skulpturen (Gruppe 4), darunter die zeichnerisch ausgefeilte Vorarbeit für den prominenten Newdigate Kandelaber (IX 5159-35-46-1). Historisch hatten derartige Zeichnungen vordringlich einen Gebrauchswert, indem sie einem weiteren Arbeitsziel dienten. Heute kommt solchen Blättern auch ein dokumentarischer Wert zu, denn an ihnen lassen sich künstlerische Schaffensverläufe in der Werkstatt von Piranesi annähernd rekonstruieren. Hier beginnt die „Biographie“ der Zeichnungen; mit ihrer nachfolgenden Nutzung in Weinbrenners Karlsruher Architekturschule wird anschließend eine weitere wichtige Phase ihrer Provenienz markiert. Im Lauf der Zeit kommt dann ein zusätzlicher Wert ins Spiel: der sogenannte Alterswert. In Verbindung mit dem Alterswert sind materielle Alterungserscheinungen der Zeichnungen zu diskutieren, die ihnen auch visuell ein gealtertes Aussehen verleihen. Der ästhetische Wert der Zeichnungen, der bei der Betrachtung unmittelbar wirksam ist, konzentriert sich auf ihr Erscheinungsbild und damit auch auf die sichtbaren Alterungsspuren. Der ästhetische Wert ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal von Kunstwerken, doch bestimmt er das Kunstwerk in singulärer Weise. Denn anders als Alltagsgegenstände, deren Form uns begleitend zu ihrer Funktionalität auch in ihrer Ästhetik erfreuen kann, haben Kunstwerke keinen Gebrauchswert im herkömmlichen Sinn und sind in der Regel durch keine Kopie ersetzbar. Dem ästhetischen Wert wird daher in den Folgeabschnitten besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein. Abhängig von diesen Faktoren haben die Zeichnungen einen kunsthistorischen und einen restauratorischen Forschungswert, wie in dieser Datenbank dokumentiert. Und schließlich haben sie wie alle Kunstwerke einen monetären Wert, der sich in Abhängigkeit zu ihren anderen Werten entwickelt.
Am Wellenrankenrelief in der Villa Medici, hier ausschnitthaft gezeigt (Abb. 2), lässt sich eine Vielzahl an Werten konkretisieren: die Zeichnung ist historisch bedeutend, da sie die Vorlage für die entsprechende Radierung in Piranesis Druckwerk bildet; sie ist dokumentarisch vielschichtig, weil sie, Nicolas François Daniel Lhuillier zugeschrieben, noch vor 1771 zusätzlich und möglicherweise von Giovanni Battista oder seinem Sohn Francesco in schwarzer Kreide überarbeitet wurde und damit zum authentischen Zeugnis der Werkstattaktivitäten wird. Sie hat somit auch in Zusammenhang mit anderen Abzeichnungen und Drucken des Rankenstücks einen künstlerischen, einen kunsthistorischen und kunsttechnologischen Forschungswert.
Abb. 2: Nicolas François Daniel Lhuillier, überarbeitet in der Piranesi-Werkstatt (Giovanni Battista oder Francesco Piranesi?), Wellenrankenrelief in der Villa Medici (Detail mit Rankenvolute), vermutlich zwischen 1755 und 1768, in jedem Fall vor 1771, Rötel mit Überarbeitungen in Rötel und schwarzem Stift, 650 x 258 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-10-1 Die anspruchsvolle Rötelzeichnung lädt zu einer eingehenden Betrachtung ein. Neben den genannten Werten wird ihr ästhetischer Wert unter anderem in der ansprechenden Form des Pflanzenmotivs wirksam. Auch kann diese Darstellung weitere, assoziative Bezüge entstehen lassen. So folgt der Blick vielleicht zuerst der spiralig eingedrehten Ranke mit den vielen, ihren Windungen folgenden Blättern. Dann entdeckt man Kleinigkeiten: Der Vogel, der mit offenem Schnabel und womöglich beutelustig auf die Eidechse schaut, die wiederum geschickt eine Rankenform vortäuscht, um sich zu tarnen – die Szene mag uns, wie womöglich vormals einen antiken Betrachter des Reliefs, als Naturstück beeindrucken. Die Schnecke allerdings hebt diese Täuschung auf, denn sie schwebt nicht etwa unterhalb eines Rankenblatts, sondern haftet offensichtlich auf dem steinernen Fond des Reliefs (auf dem erhaltenen antiken Bildwerk weniger deutlich als in der Zeichnung erkennbar). Vielleicht ist das Schneckenhaus leer, die Bewohnerin vergangen. Zusammengenommen mit den beiden anderen Tierfiguren wäre in diesem Detail der Medici-Ranke dann ein Sinnbild des Werdens und Vergehens und der Verwandlung von Materie versteckt, das womöglich auch in der Antike vom gebildeten Publikum als solches hätte verstanden werden können.[1]
Darüber hinaus sind die Schadensspuren Teil der ästhetischen Wirkung des Rankenreliefs. Daher lohnt ein differenzierter Blick auf einzelne Merkmale, die mehreren Stadien historischer Nutzung zuzuordnen sind (Abb. 3a, links) und den heutigen Zustand der Zeichnung erklären (Abb. 3a, rechts). Zu den Spuren des Nutzungsprozesses gehören kleinteilige Deformationen im Papier sowie verdichtete Rötellinien mit Merkmalen einer Feuchteeinwirkung (Abb. 3, Mitte und rechts). Wie in der Werkbeschreibung („Prozesse historischer Nutzung“) eingehend erläutert, deuten sie als Indizien auf ein Kopieren der Zeichnung durch Abklatsch hin. Zwar ist kein Abklatsch erhalten, doch stützen vergleichbare Spuren an belegbar abgeklatschten Zeichnungen aus demselben Wirkungskreis diese These. Des Weiteren weisen großflächige Ablagerungen von Rötelpulver, die auf den blanken Papiereinfassungen des Reliefmotivs gut erkennbar sind (Abb. 2), unabhängig von den genannten Vorgängen auf ein wiederholtes Hantieren mit der Zeichnung hin. Der Verlust der oberen Kante und die starken Knickspuren sind vermutlich erst entstanden, als die Zeichnung nach dem Ende ihrer aktiven künstlerischen Nutzung gelagert und womöglich umgelagert, montiert, demontiert und neu montiert wurde.
Abb. 3a: Wellenrankenrelief in der Villa Medici (siehe Abb. 2), Einwirkungen auf die Rötelzeichnung,
links: digitale Konstruktion eines weniger geschädigten Zustands, rechts: heutiger Zustand
Foto: Annette Keller, Bearbeitung: Irene BrückleAbb. 3b: Wellenrankenrelief in der Villa Medici (Details, siehe Abb. 2), Papierdeformationen (Streiflicht)
Fotos: Annette Keller, Maria KrämerAbb. 3c: Wellenrankenrelief in der Villa Medici (Details, siehe Abb. 2), Rötelauftrag, darüber schwarzer Stift (Auflicht)
Fotos: Annette Keller, Maria KrämerAußerdem ist mit dieser Zeichnung die Erfahrung ästhetischen Schaffens verbunden, denn sie wurde im Zuge der experimentellen Erforschung der historischen Kopiertechniken mit Rötelkreide auf handgeschöpftem Papier nachgezeichnet (Abb. 4). So eine Erfahrung lässt sich auch losgelöst vom Forschungskontext machen, denn die Zeichnungen bieten Anregungen für eigenhändige Versuche zum Zeichnen mit Rötel nach historischen Techniken; entsprechende Details sind in den Werkbeschreibungen und den Essays zur Zeichentechnik sowie den Kopiermethoden nachzulesen. Das historisch arbeitsbegleitende Zurichten des Rötels wird sogar anhand von Stiftproben auf einer der Karlsruher Zeichnungen nachvollziehbar. Auch außerhalb der Karlsruher Internetpräsentation finden sich digitale Darstellungen historischer Röteltechniken.[2] Durch eine so intensive Befassung mit einer Zeichnung entsteht nicht zuletzt auch ein persönlicher Wert, der uns mit dem Kunstwerk verbindet.
Abb. 4: Digitaler Ausdruck der Zeichnung Wellenrankenrelief (siehe Abb. 2, mit porte-crayon bzw. Kreidehalter) als Vorlage für eine mit Rötel angelegte Zeichnung (rechts)
Foto: Maria KrämerEinzelnachweis
1. Aristoteles sieht in Pflanzen die niedrigste Lebensform, die durch Fortpflanzungs- und Nährvermögen geprägt ist. Tiere haben darüber hinaus Wahrnehmungsvermögen (alle haben Tastsinn, die meisten haben Bewegungsvermögen) und verbunden mit ihrem Nährvermögen ein Sinnenvermögen. Jeder lebende Organismus behält sein Seelenvermögen trotz der äußerlichen Hinzuführung von Materie in Form von Nahrung bei, sodass „die Nahrung relativ zum Beseelten ist“. Vgl: De anima – Über die Seele: Griechisch – Deutsch, übersetzt mit Einleitung und Kommentar von Thomas Buchheim, Darmstadt 2016, hier S. 123, 416b 9.
2. Eine videobegleitete, museale Erläuterung bietet das Metropolitan Museum of Art in New York: Chalk (eingesehen am 27.12.2021).
- Gleichgerichtete Werte
In den Klebebänden sind die künstlerischen Persönlichkeiten Piranesi und Weinbrenner eindrücklich verbunden. Dass die Zeichnungen aber in unserer 2017 bis 2021 erfolgten Forschung in ihrem überlieferten Zustand erhalten und nicht etwa dauerhaft herausgelöst wurden, ist das Ergebnis der gemeinsamen Entscheidung, fußend auf einer Aufschlüsselung der vielschichtigen Bedeutungen des Ensembles. Das künstlerische Spannungszentrum liegt dabei in Piranesis römischer Werkstatt, das nachnutzende künstlerische Interesse an Rom spiegelt sich Jahrzehnte später in Weinbrenners Karlsruher Klebebandsammlung. Da das gebündelt überlieferte Konvolut schon in Rom eine Art montiertes Archiv gebildet hat (ablesbar an den Spuren einer früheren Montierung), welches in der Weinbrennerzeit gewissermaßen eine Fortsetzung fand, überlagern sich hier zwei historisch auf Sammlungsbildung ausgerichtete Bedeutungen, auch wenn diese sicherlich nicht völlig identisch miteinander waren. Die sichtbaren Spuren der früheren, römischen Montierung werden dabei auch ästhetisch von der heutigen Weinbrennermontierung aufgefangen, da sich ihr historischer Zweck nur im Album selbsterklärend darstellt. Auch lässt sich aus der sinnlichen Erfahrung der Alben ein ästhetischer Gewinn ziehen, denn die Zeichnungen eröffnen sich der Betrachtung erst durch das vorsichtige Hantieren mit der sperrigen Albumstruktur, was dem historischen Bezug der Motive zu vielerlei skulpturalen und architektonischen Großprojekten zu entsprechen scheint. Verbindend wirkt dabei die einzigartige Nähe dieses zeichnerischen Clusters zu Giovanni Battista Piranesis Wirken. Der Albumkontext hat überdies – und dies ist ganz wesentlich – mit Blick auf künftige Forschungen gewissermaßen einen Werteüberschuss, denn die heutige Forschung hat zwar wesentliche Erkenntnisse hervorgebracht, doch stellen wir uns diese nicht als abgeschlossen vor. Die Entscheidung für den Zusammenhalt der Alben wurde verstärkt durch die Erkenntnis, dass die Auflösung der Alben konservatorisch nicht erforderlich ist und ihre analog eingeschränkte Zugänglichkeit zudem durch die Internetpräsentation aufgefangen wird.
- Widerstreitende Werte
Ob Piranesis wenige eigenhändige Zeichnungen anders als die restlichen Zeichnungen zu behandeln seien, war eine weitere, anfangs nicht eindeutig zu beantwortende Frage. Giovanni Battistas eigenhändige capricci (auf Albumseite IX 5159-36-33, Abb. 5a) sind aufgrund ihrer Autorschaft und der für Piranesi typischen, phantastischen Motive aus dem Zeichnungskonvolut deutlich herausgehoben, weshalb sie auch die Neuzuschreibung entscheidend beförderten.[1] Man könnte also argumentieren, dass die in der Weinbrennerzeit erfolgte Montierung der beiden Architekturphantasien auf dem letzten genutzten Blatt im Klebeband 2 dem heutigem Verständnis ihrer Bedeutung nicht entspricht und ihre Vereinzelung in Passepartouts angemessener wäre. So würden sie ästhetisch hervorgehoben und wären auch unabhängig von den Alben flexibel einsehbar (Abb. 5b).
Im Forschungsteam mit der Kunsthalle Karlsruhe haben wir uns trotzdem für ihren Verbleib in den Alben entschieden und damit ihrer Bedeutung im historischen Kontext den Vorrang gegeben. Hätte man sich zum Herauslösen beider Zeichnungen entschlossen, träfe man auf der Albumseite auf zwei Leerstellen und der ästhetische Effekt ihrer an dieser Stelle überraschenden Präsenz wäre verloren (Abb. 5c). Als weiterer Umstand wurde berücksichtigt, dass die mit Eisengallustinte gezeichneten Werke aufgrund ihrer Empfindlichkeit gegenüber Feuchtigkeit materialtechnisch nur mit dem Ziel ihrer dauerhaften Trennung sinnvoll zu separieren sind. Das unterscheidet sie von einigen weniger empfindlichen Zeichnungen, die aus Forschungsgründen temporär abgelöst und wieder in die Alben einmontiert wurden. Diese Überlegungen stärkten die Entscheidung für den einstweiligen Verbleib der capprici in den Alben.
Ihre Montierung im Klebeband stellt nun eine zeitliche („biographische“) Station in der Existenz der beiden Zeichnungen dar. Die Frage eines Herauslösens kann sich kuratorisch aufgrund ihrer herausgehobenen künstlerischen Bedeutung oder konservatorisch aufgrund eines kritisch intensivierten Alterungszustands der eisenhaltigen Tintenlinien immer wieder neu stellen. Konservatorisch sind die Zersetzungsprozesse von Eisengallustinte auf Papier und die ihnen entgegenwirkenden Behandlungsmethoden gut erforscht, daher werden sich künftige Zustandsüberprüfungen und Entscheidungen über die Sicherung der Zeichnungen auf die hierfür erforderliche materialwissenschaftliche Basis stützen können.[2] Sollten die Zeichnungen dann aus den Alben entfernt werden, so können an ihrer Stelle einzufügende Faksimiles ihre ursprüngliche Wirkung nachempfinden lassen.
Abb. 5a: Klebealbum 2, Blatt 33, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-33 Abb. 5b: Giovanni Battista Piranesi, Architekturphantasie mit Brücken und Triumphbögen, Feder und Lavierung in Braun (mit Eisengallustinte) über Vorzeichnung in schwarzer Kreide,129 x 180 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-33-1,digital in ein Passepartout montiert Abb. 5c: Klebealbum 2, Blatt 33, digitale Konstruktion, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-33 Einzelnachweis
1. Georg Kabierske: A Cache of Newly Identified Drawings by Piranesi and His Studio at the Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, in: Master Drawings 53, 2015, S. 147–178.
2. Zu den Ursachen von Tintenfraß siehe Gerhard Banik (Hg.): Tintenfraß, Stuttgart 2000. Zur Überprüfung der Effektivität invasiver Behandlung an historischen Mustern, siehe Ute Henniges/Rebecca Reibke/Gerhard Banik/Enke Huhsmann/Ulrike Hähner/Thomas Prohaska/Antje Potthast: Iron Gall Ink-Induced Corrosion of Cellulose: Aging, Degradation and Stabilization, Teil 2: Application on Historic Sample Material, in: Cellulose 15, 2008, S. 861–870. Zustandsklassifizierung geschädigter Tintenaufträge siehe: Birgit Reißland/Judith Hofenk de Graaff: Zustandsklassifizierung für Papierobjekte mit Eisengallustintenaufträgen, Amsterdam 2001; dazu siehe auch Szenarien feuchte- und handhabungsbedingter Schädigung. Zu einer in unserem Zusammenhang relevanten Methode lokaler Sicherung siehe: Sonja Titus/Regina Schneller/Enke Huhsmann/Ulrike Hähner/Gerhard Banik: Stabilising Local Areas of Loss in Iron Gall Ink Copy Documents from the Savigny Estate, in: Restaurator 30, 2009, S. 16–50 (alle eingesehen 22. 12. 2021).
- Umgang mit Werten
Mit der Feststellung einiger gängiger Werte betreten wir ein vieldiskutiertes Feld materieller und ideeller Wertebestimmungen, die wir mit Kunstwerken und allen anderen Formen von Kulturgut verbinden. Die Werteanalyse ist in allen Bereichen der Restaurierung und auch bei der Sicherung ganzer Sammlungen von Bedeutung. Sie tritt aber vor allem dann in den Vordergrund, wenn ein geschädigtes Original einer restauratorischen Entscheidung bedarf, die es in seiner materiellen Substanz oder rein ästhetisch einschneidend verändern wird. Oftmals ist bei einem solchen Schritt zu überlegen, welchen mit dem Original verbundenen Werten Vorrang zu geben ist. Dabei ist entscheidend, dass sich die restauratorische Wertesondierung nicht isoliert, sondern in Verbindung mit der kunsthistorischen Analyse und unter Berücksichtigung der Wertevorstellungen sonstiger Interessensvertreter vollzieht.
Das Verhältnis der Kunstgeschichte und Restaurierung zueinander ist hinsichtlich ihrer jeweiligen, für die Einordnung und Erklärung von Kunstwerken notwendigen Bewertungssysteme auch historisch kurz zu beleuchten: Die Kunstgeschichtsschreibung hat ihr Werteverständnis von Kunst über viele Jahrhunderte hinweg in einer zum Teil bemerkenswerten Kontinuität, zum Teil aber auch in Verschiebungen und Tendenzwenden entwickelt und in Kategorien, die sich in einem nach und nach herausgebildeten Diskurs niedergeschlagen haben, systematisiert und theoretisiert. Insbesondere seit dem 18. Jahrhundert hat sich dieses Kategoriensystem in unterschiedlichen, im Austausch mit der philosophischen Ästhetik entwickelten Theorien ausdifferenziert.[1]Alterungszustände von Kunstwerken und Baudenkmälern wurden dabei schon früh als ästhetisch wirksam und historisch relevant erkannt. Auf dieser Erkenntnis gründete sich die Denkmalpflege als eigener Zweig kunsthistorischer Praxis noch bevor sich die wissenschaftliche Restaurierung als eigenes Berufsfeld entwickelte.[2] Wichtig ist in diesem Zusammenhang der durch den Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl (1858–1905) geprägte Begriff „Alterswert“, der gegen allzu rücksichtslose Wiederherstellungsbestrebungen ins Feld geführt wurde.[3] Restauratoren folgten lange den außerhalb ihres eigenen Berufsfelds kanonisierten Auffassungen von Wiederherstellung, häufig in einer Art Fortschreibung künstlerischen und handwerklichen Tuns. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts aber hat die Akademisierung des Fachs Restaurierung eine der Kunstgeschichte vergleichbare, alle ihre Bereiche umfassende, methodologische Reflexion zur Folge gehabt. Seither ist die Erhaltung von Altersspuren verstärkt Teil eines wissenschaftlichen Konzepts, dessen Kriterien nicht durch Machbarkeit bestimmt sind, sondern dem Original auch mit zurückhaltender Intervention begegnen können. Heutige Restauratoren beziehen hinsichtlich der materiell an das Original gebundenen Bedeutungen eigene theoriebasierte Positionen in einem oft blickschärfenden Wechselspiel der beiden voneinander lernenden Wissenschaften.
Für die seit den 1820er Jahren unberührten Karlsruher Alben ist es ein Glücksfall, dass sich im Zuge ihrer jüngsten Untersuchung die kunsthistorische und restauratorische Erforschung frei vom Ballast historischer Werteanalysen entfalten konnte. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts hinein wäre möglicherweise ein verlustreiches Demontieren der Alben in Erwägung gezogen worden, das die Überlieferung eines skelettierten Denkmals zur Folge gehabt hätte.
Rahmengebend für die restauratorische Abwägung der im Original verankerten Werte sind museale und restauratorische Regelwerke, letztere repräsentiert durch den Code of Ethics (Ethikkodex) der European Confederation of Conservator-Restorers Organizations (E.C.C.O.).[4] Dieser Ethikkodex formalisiert ein über einige Jahrzehnte ausgereiftes fachliches Verständnis, ohne für den Einzelfall Vorgaben zu machen.[5] Er empfiehlt gedanklich vermittelnde Ansätze, die auch in Bezug auf das „Wertereservoir“ der Karlsruher Piranesi-Alben anwendbar sind. Unter Nennung zentraler Werte fordert der E.C.C.O. Code of Ethics, die „ästhetische, historische und spirituelle Bedeutung und die physische Unversehrtheit“ des Kulturerbes zu respektieren (Artikel 1), und spezifiziert, dass originales Material nicht entfernt werden soll, „es sei denn, dass dies für seine Erhaltung unerlässlich ist oder seinen historischen und ästhetischen Wert signifikant beeinträchtigt“ (Artikel 5). Zwischen diesen ideellen und materialorientierten Positionen zu vermitteln, gehört zu den diffizilen Aufgaben der Restaurierung, die dabei grundsätzlich einen größtmöglichen Erhalt originaler Substanz verficht.[6]
Verschiedene Werte sind meistens nur in ihrem Zusammenspiel sinnvoll zu betrachten. Sie können einander ergänzen und verstärken, treten aber auch in Konflikt zueinander, wenn nicht alle eine optimale Geltung entfalten können. Sie sind außerdem veränderlich, denn die einem Objekt von uns zugeschriebenen Werte können sich im Lauf der Zeit mit der Rekontextualisierung des Objekts und durch dabei neu entstehende Betrachtungsweisen verschieben. Auch sichtbare Alterungsspuren können dabei zunehmend akzeptiert werden, was für die künstlerisch verwitterten Gemälde von Edvard Munch (1863–1944) am Munch-Museum in Oslo konstatiert wurde: „Rückblickend ist es interessant festzustellen, wie sich im Laufe der Jahre die Wahrnehmung und die Reaktionen von Restauratoren, Museumsfachleuten und Besuchern auf Oberflächenunregelmäßigkeiten verändert haben. Der anfängliche Schock, wenn man den Verfall eines Gemäldes bemerkt, scheint im Laufe der Zeit weniger beunruhigend geworden zu sein.“[7] Die Verschiebung von Betrachtungsweisen kann aber auch sofortige und außerdem über das Werk hinaus weitreichende Folgen haben: Die Neuzuschreibung der Karlsruher Zeichnungen hat beispielsweise andere Werke außerhalb des Ensembles erfasst, die in einem nun erweiterten Bezugsfeld an dieser Neubewertung teilhaben. Das bezeugen die zahlreichen, in den Werkbeschreibungen und Essays dieser Internetseite zitierten Vergleiche.
Den mit dem Original verbundenen Werten ist noch das Merkmal „Authentizität“ hinzuzugesellen. Vielfach setzen wir Authentizität mit einer Art unverstellter Äußerung gleich. Bei Kunstwerken und anderen Kulturgütern tritt Authentizität nach heutigem Verständnis häufig im Plural auf. Werke können in mehrfacher Weise authentisch sein – etwa durch ihre originale Materialität, als Zeugnis individueller Autorschaft, als Ausdruck künstlerischen Schaffens, vermittels ihrer ursprünglichen Nutzung, der Sichtbarkeit ihres Alters, oder einer ästhetischen Erfahrung, die sie vermitteln können.[8] Für sich genommen ist das Merkmal der Authentizität daher wenig hilfreich, denn es benötigt Konkretisierungen, um sinnvoll in die Bewertung von Kulturgut einzufließen. Je nach Blickwinkel und fachlichem Bezug kann es passieren, dass ein Authentizitätswert – etwa sichtbare Altersspuren, die als authentisch begriffen werden – in Konkurrenz mit anderen, etwa dem künstlerischen Wert, tritt.[9] Daher ist es heute umso wichtiger, dass Eingriffe, die das Werk materiell und womöglich ästhetisch verändern, in Abwägung der möglichen Gewichtungen seiner Authentizitätswerte verhandelt werden. Fallweise kommt es dabei zu äußerlich völlig unauffälligen Sicherungen eines vorgefundenen Zustands. Denn sichtbare Alterungszustände können authentizitätsverstärkend wirken, was an der zurückhaltenden Konservierung des zettelreichen, deutlich abgenutzten Adressbuchs von Hannah Höch (1889–1978) beispielhaft ablesbar ist.[10] Auch die Abnutzungen an den Karlsruher Zeichnungen haben einen Authentizitätswert.
Einzelnachweis
1. Zu den Grundlagen dieser Kunstbetrachtung gehört, dass Kunst in Abgrenzung von anderen sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen zu definieren ist, sich anhand bestimmter Merkmale ausweisen oder aus den ihr eigenen historischen Entwicklungslinien erwachsen muss bzw. über ihre Funktion, durch Experten – seien es Künstler, Kritiker oder Theoretiker – und Institutionen zu identifizieren und beurteilen ist; siehe ausführlich Hubert Locher: Kunstgeschichte als Historische Theorie der Kunst, München 2001. Weitere Ansätze fordern von Kunst einen erkennbaren Wahrheitsgehalt (und einen bleibenden Rätselcharakter), und die Ermöglichung einer ästhetischen Erfahrung als einer bestimmten Form der Erschließung; eine Übersicht über wesentliche Entwicklungsstationen bietet Stefan Majetschak: Ästhetik zur Einführung, Hamburg 2007, siehe bes. S. 111ff. Zeitgenössische Theorien gehen davon aus, dass verschiedene Formen ästhetischer Erfahrung gleichzeitig und überlappend wirksam sind, und damit sowohl erkenntnisfördernd als jenseits eines rationalen Wissenserwerbs existentiell bedeutsam sein können; umrissen von Stefan Deines/Jasper Liptow/Martin Seel: Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte, in: dies. (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin 2013, S. 7–37.
2. Die Diskussion um den ästhetischen Wert historischer Schäden an Kulturgut entwickelte sich anhand der öffentlich sichtbaren Monumente. Als Begründer organisierter Denkmalpflege erkannte schon der preußische Architekt Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) in einem vielzitierten Satz die historischen Herstellungsfehler an Baudenkmälern als relevant für die spätere Erforschung: „Selbst das Fehlerhafte, wenn es aus einem besonderen Geschmack der Zeit hervorgegangen ist, wird in der historischen Reihe ein interessantes Glied sein und, an seinem Platze, manchen Wink und Aufschluß geben.“ Zit. nach Nobert Huse: Denkmalpflege. Texte aus drei Jahrhunderten, München, 2. Aufl. 1996, S. 65. Zum Gebiet der Wandmalerei vgl. die auch über das Fach hinaus aufschlussreiche Darstellung von Julia Feldtkeller: Wandmalereirestaurierung: eine Geschichte ihrer Motive und Methoden, Wien/Berlin/Münster 2008.
3. Unter den von Riegl aufgestellten fünf Wertekategorien war der „formidabelste Gegner“ des Alterswerts als einem Erinnerungswert der stetige Erneuerungsimpuls des Neuheitswerts, vgl. Alois Riegl: Der Moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903, hier S. 46. Dass Riegl die geschichtliche Entwicklung des denkmalpflegerischen Werturteils als damals ausgereift imaginierte, schmälert dieses Verdienst kaum, vgl. Norbert Huse: Denkmalpflege. Texte aus drei Jahrhunderten, München, 2. Aufl. 1996, Denkmalwerte: Alois Riegl und Georg Dehio, S. 124–149, hier S. 126.
4. Für das Museum: Deutscher Museumsbund e.V. gemeinsam mit ICOM-Deutschland: Standards für Museen, Kassel/Berlin 2006; für die Restaurierung: European Confederation of Conservator-Restorers Organizations: Professional Guidelines II: Code of Ethics, Brüssel 2003 (alle eingesehen am 27.12.2021).
5. Schon 1963 verwies der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Cesare Brandi (1906–1988) in Teoria del restauro (Rom 1963) auf das große, zwischen Originalerhalt und Wiederherstellung liegende Abwägungsfeld indem er feststellte: „Die Restaurierung soll danach streben, die potentielle Einheit des Kunstwerks wieder herzustellen, ohne eine künstlerische oder historische Fälschung zu begehen und ohne die vielfältigen Spuren der Zeit am Kunstwerk zu tilgen.“ Zit. nach Ursula Schädler-Saub: Restaurierung und Zeitgeschmack: Vom Umgang mit Fehlstellen, in: Das Denkmal als Fragment – das Fragment als Denkmal. Denkmale als Attraktion. Jahrestagung der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger (VdL) und des Verbandes der Landesarchäologen (VLA) und 75. Tag für Denkmalpflege, Arbeitsheft 21, Regierungspräsidium Stuttgart/Landesamt für Denkmalpflege, 10.–1. Juni 2007 in Esslingen, Stuttgart 2008, S. 141–158, hier S. 142.
6. Das restauratorische Abwägungsfeld auch im Austausch mit Auftraggebern wird am Beispiel der Wandmalerei in norwegischen Kirchen anhand einer Befragung von Restauratoren differenziert erläutert von Christina Spaarschuh/Hanne Moltubakk Kempton: Acting on Behalf of Objects? Conservators’ Reflections on Their Professional Role, In: Studies in Conservation 65, 2020, S. 358–374 (eingesehen am 27.12.2021).
7. Jin Strand Ferrer/Terje Syversen/Tomas Markevicius: The Challenge of the ‘Kill-or-Cure’ Remedy. The Munch Museum’s authenticity problem owing to the interpretation and preservation of Edvard Munch works, in: Aesthetic Investigations 2, 2019, S. 123–143, hier S. 137 (Übers. I. Brückle).
8. Beiträge zur Authentizität als dem wesentlichen Kriterium für den Grad restauratorischer Eingriffe an gealterten und beschädigten Gemälden, Baudenkmälern, Skulpturen sowie zeitgenössischer und digitaler Kunst (Werke auf Papier sind nicht vertreten) sind versammelt in: Erma Hermens/Tina Fiske (Hg.): Art Conservation and Authenticities. Material, Concept, Context, London 2009; vgl. dort insbesondere Authentizitätskriterien bei Isabelle Brajer: Authenticity and Restoration of Wall Paintings: Issues of Truth and Beauty, S. 22–32, hier S. 22f sowie Irit Narkiss: Is this real? Authenticity, Conservation and Visitor Experience, S. 237–245. Ein weiteres, differenziertes Beispiel einer Werteanalyse betrifft ein wiederholt für Besucherzugang konserviertes neolithisches Haus, siehe Elizabeth Pye: Authenticity Challenged? The ‘Plastic House’ at Çatalhöyük, in: Public Archaeology 5, 2006, S. 237–251, siehe auch https://www.catalhoyuk.com/. Zu Authentizität in Bezug auf die Wiederholbarkeit performativer Kunst, vgl. Amy Brost: Reconciling Authenticity and Reenactment: An Art Conservation Perspective, in: Cristina Baldacci/Clio Nicastro/Arianna Sforzini: Over and Over and Over Again: Reenactment Strategies in Contemporary Arts and Theory, Cultural Inquiry, 21, Berlin 2022 S. 183–192. In der jüngeren Geschichte haben gewaltsam zerstörte Baudenkmäler eine Diskussion um die Erweiterung des Authentizitätskonzepts insofern intensiviert, als neben das Prinzip weitmöglichster Erhaltung von Originalsubstanz die gesellschaftliche Bedeutung einer umfassenden Wiederherstellung in den Vordergrund tritt, siehe: Loughlin Kealy/Zaki Aslan/Luisa De Marco/Arma Hadzimuhamedovic/Toshiyuki Kono/Marie-Laure Lavenir/TrevorMarchand: ICOMOS-ICCROM Analysis of Case Studies in Recovery and Reconstruction Report 3, 2021, S. 1–34 (alle eingesehen am 27.12.2021).
9. Wie Anm. 7: Im Fall der zuvor erwähnten Gemälde von Edvard Munch wird dies von Ferrer et al. (2019) erläutert.
10. Ralf Burmeister/Anika Knop: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Das Adressbuch Hannah Höchs. Zum Inhalt und zur Restaurierung eines unikalen Sammlungsobjekts. VDR Beiträge, 2013, S. 8–17; eine bebilderte Projektübersicht findet sich unter https://berlinischegalerie.de/kuenstlerinnen-archive/adressbuch-von-hannah-hoech/ sowie https://www.kek-spk.de/projekt/ein-adressbuch-als-collage.
- Ästhetische Erfahrung
Das in schwarzer Kreide gezeichnete Viertelkreisstück einer Deckendekoration ist eine detailreiche Zeichnung (Abb. 6). Doch deutlich sichtbare Spuren historischer Hantierung beeinträchtigen ihre überlieferte Erscheinung stärker als im Fall der zuvor diskutierten Zeichnung des Wellenrankenreliefs (Abb. 2). Bevor Alterung und schadensartige Nutzungsspuren in den nächsten Abschnitten genauer in den Blick genommen werden, ist die Frage zu stellen, was die ästhetische Erfahrung eigentlich beinhalten kann. Allerdings muss sich im gegebenen Rahmen deren Beantwortung auf einige allgemeine Bemerkungen beschränken.
Abb. 6: Nicolas François Daniel Lhuillier oder Kopie nach Lhuillier (?), Viertelkreisstück aus der Stuckdecke im Treppenhaus des Konservatorenpalastes, vermutlich zwischen 1755 und 1768 (?), schwarze Kreide über Graphit auf Papier, 265 x 355 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-33-2 Die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks entsteht aus unserer Fähigkeit, einen Gegenstand frei von den alltäglichen Zweckbestimmungen, also nur um seiner Erscheinung willen in einer Verbindung von gedanklichen und emotionalen Regungen wahrzunehmen.[1] Im Fall bildlicher Kunstwerke geschieht das in der direkten (auch digital unterstützten) Anschauung. Dabei vollziehen sich nicht allein kognitive Prozesse, mit denen wir das Bild kunsthistorisch und kunsttechnologisch erfassen, um es in seinem bis in unsere Gegenwart reichenden Bezugsfeld zu verstehen. Auch affektive, teils unbewusste Reaktionen fließen in unsere ästhetische Urteilsbildung ein. Dieser Prozesse hat sich außerhalb der Kunstphilosophie auch die wahrnehmungspsychologische und neurowissenschaftliche Forschung angenommen; demnach verläuft unsere Wahrnehmung von unbewussten zu bewussten und von einfachen zu komplexen Inhalten und mündet schließlich im ästhetisch wertenden Urteil.[2] Künstler selbst sind auf dem Gebiet ästhetischer Wahrnehmung insofern Experten, als sie durch Experimentieren mit Formen und Inhalten uns in bestimmter Weise anzusprechen suchen.[3]Auch die äußeren Bedingungen – also etwa die musealen Präsentationsformen, die uns auf eine Kunsterfahrung vorbereiten, oder die Gegenwart und Äußerungen anderer Personen – beeinflussen die Wahrnehmung.[4]
Die materielle Beschaffenheit und die historischen Zusammenhänge der Karlsruher Zeichnung sind relativ leicht zu erkennen: man sieht die beige Farbe des Papiers, die schwarzen Kreidelinien, die abgerissenen Ecken und liest über den Bezug der Zeichnung zum Konservatorenpalast in Rom. Schwieriger sind die bei der inhaltlichen Erfassung des Blattes begleitend entstehenden emotionalen Reaktionen zu fassen. Einige, noch ohne fachliches Vorwissen generierte kognitive und emotionale (kursiv gesetzte) Einsichtssplitter könnte man wie folgt imaginieren: „...eine Viertelkreisform ist angenehm anzusehen... aber einige Blattkanten unklar, unschön ... da sind Formen ansprechend symmetrisch hervorgehoben und kontrastreich gut erkennbar ... und Figuren mit Girlanden und Ranken schön anzusehen... in der Mitte ist das Blatt grau, wirkt alt und schmutzig ... da sind Flecke und Knicke, sieht unschön beschädigt aus ... in der Figur in der Mitte ist die Figur einer Grazie platziert, gut zu identifizieren... .“[5] Aus dem Titel erführe man dann, dass die Zeichnung eine kreisförmige Dekoration mit antiken Motiven darstellt; über die Werkbeschreibung erschlösse sich schließlich der historische Bezug. Vielleicht könnte der Anblick des Rinderschädels (griechisch Bukranion) als Hinweis auf antike Tieropfer verstören. Auch mag der verunklärte Gesamteindruck eine Hürde für die eingehendere Beschäftigung mit der Zeichnung bilden. Und wer im außermusealen Umfeld perfekte Ordnung und Sauberkeit gewohnt ist, womöglich Defektes umgehend entsorgt, wird sich vielleicht am imperfekten Zustand der Zeichnung stören. Restauratoren werden möglicherweise die Schadensspuren intensiv betrachten, Kunsthistoriker sich stärker auf motivische, stilistische oder Datierungsfragen konzentrieren.
Weil Empfindungen über ein betrachtetes Kunstwerk spontan entstehen und in einer Gesprächssituation überdies in Form widerstreitender Geschmacksurteile aufeinandertreffen können, kommen gelegentlich Redensarten auf wie „über Geschmack lässt sich (nicht) streiten“ oder, etwas trotziger, „ich weiß, was mir gefällt“.[6] In solchen Positionierungen sollte man aber nicht einen Endpunkt des Austauschs, sondern einen Anreiz für die weitere Beschäftigung mit dem Gegenstand verstehen. Im Verlauf eines solchen Prozesses vermag man womöglich erste Urteile zu revidieren. Man wird sich von der bloßen Erscheinung nicht ablenken lassen, sondern tiefer zum Kern der Sache zu gelangen suchen. Wer diesen Weg beschreitet, kann erste ästhetische Empfindungen auch als geschmackliches Urteil eingrenzen und dieser Wertung einen zwar fraglos zulässigen, aber doch nicht allein ausschlaggebenden Ort im größeren Zusammenhang der ästhetischen Erfahrung zuweisen. Kunsterfahrung fordert, dass man vorgeprägte Einstellungen an ihren Grenzen auslotet. Kraft unseres beweglichen Geistes können wir uns von einem Standpunkt heraus zu einem neuen Blickwinkel bewegen, der uns möglicherweise auch einem uns zuerst nicht angenehm erscheinenden Kunstwerk näherbringt.
Einzelnachweis
1. Folgender Eintrag zur ästhetischen Erfahrung bietet diese Erklärung: „Emotionale und hedonistische, bewusste Erfahrung einer ästhetischen Qualität eines Reizes; insbesondere beinhalten Episoden ästhetischer Erfahrungen zu einem Bewusstsein der Trias von (i) der ästhetischen Qualität des Reizes, (ii) der ästhetischen Emotion und (iii) der hedonistischen Qualität von (i) und (ii); führt zu einem expliziten ästhetischen Urteil.“ Zitiert aus dem Übersichtsartikel von Eugen Wassiliwizky/Winfried Menninghaus: Why and How Should Cognitive Science Care about Aesthetics? In: Trends in Cognitive Sciences 25, 2021, S. 437–449, hier S. 438 (eingesehen am 27.12.2021) (Übers. I. Brückle).
2. Ein Modell hierfür erläutern Helmut Leder/Benno Belke/Andries Oeberst/Dorothee Augustin: A Model of Aesthetic Appreciation and Aesthetic Judgement, in: British Journal of Psychology 95, 2004, S. 489–508. Erweitert um eine stärker emotionsbezogene Komponente vgl. Helmut Leder*/Marcos Nadal: Ten Years of a Model of Aesthetic Appreciation and Aesthetic Judgments: The Aesthetic Episode – Developments and Challenges in Empirical Aesthetics, in: British Journal of Psychology 105, 2014, S. 443–464 (eingesehen am 27.12.2021).
3. So notiert aus neurowissenschaftlicher Sicht auf künstlerisches Schaffen von Anjan Chatterjee: Neuroaesthetics: A Coming of Age Story, in: Journal of Cognitive Neuroscience, 23, 2011, S. 53–62 (eingesehen am 27.12.2021); vgl. auch Anm. 21, Leder u.a. 2014, S. 494f. Ästhetisches Wissen existiert auch in anderen Fachgebieten; im Pflegeberuf bezeichnet es die Fähigkeit, die Situation eines Patienten auch jenseits notwendiger medizinischer Abläufe zu erfassen, Peggy L. Chin/Maeonka K. Kramer: Knowledge Development in Nursing, St. Louis 2018, S. 10f.
4. Helmut Leder*/Jürgen Goller/Tanya Rigotti/Michael Forster: Private and Shared Taste in Art and Face Appreciation, in: Frontiers in Human Neuroscience 10, 13.04.2016, Artikel 155 (eingesehen am 27.12.2021).
5. Am Beispiel eines restaurierten Freskos wird ein zwischen erhaltenen und restaurierten Bereichen wechselnder Wahrnehmungsverlauf skizziert von einer der interviewten Restauratorinnen in Christina Spaarschuh/Hanne Moltubakk Kempton: Acting on Behalf of Objects? Conservators’ Reflections on Their Professional Role, in: Studies in Conservation 65, 2020, S. 358–374, hier S. 365 (eingesehen am 27.12.2021).
6. Geschmacksbekundungen sind nicht mit dem ästhetischen Urteil gleichzusetzen. Die geschmacksorientierte Umgehung von Sachargumenten bei restauratorischen Projekten bemängelt Isabelle Brajer: Authenticity and Restoration of Wall Paintings: Issues of Truth and Beauty, in: Erma Hermens/Tina Fiske (Hg.): Art Conservation and Authenticities. Material, Concept, Context, London 2009, S. 22–32, hier S. 24. In Bezug auf kunsthistorische Kennerschaft sprach Erwin Panowsky von einer naiven Betrachtung als „appreciationism”, was sich ungefähr als „Anerkennismus“ (meine Übers.) bezeichnen lässt, siehe Erwin Panofsky: The History of Art as a Humanistic Discipline, Reprint eines 1940 erschienen Beitrags, in: ders.: Meaning in the Visual Arts, Chicago 1955/1982, S. 1–25, hier S. 19. Als ein „eingeschränktes... Verständnis sprachlicher Artikulation von Kunsterfahrung“ bezeichnet dies Daniel Martin Feige: Design. Eine philosophische Analyse, Berlin 2018, S. 95–96, vgl. auch S. 27f.
- Ästhetischer Wert einer „Patina“?
Nicht jede Alterungserscheinung an einem Kunstwerk wird gleichermaßen als unangenehm empfunden, weshalb hier der gerne wertschätzend genutzte Begriff „Patina“ anzusprechen ist. Dieser bezeichnet technisch gesehen ursprünglich eine alterungsbedingt eingetretene, häufig grünliche Oberflächenkorrosion kupferhaltiger Metalle, wie sie bei Kirchendächern oder Bronzeskulpturen vorkommen und auf eine gewünschte Oberflächenbehandlung von Metallen insbesondere bei Skulpturen verweisen kann. Heute hat sich „Patina“ als eine allgemeine Bezeichnung für diejenigen Originale unterschiedlichster Art etabliert, die auf manche Betrachter harmonisch gealtert wirken mögen, so etwa ein gewissen Grad der Vergilbung eines Firnisüberzugs auf einem Ölgemälde.[1] Deshalb galt „Patina“ lange auch als ein Authentizitätsindiz, ohne dadurch zwangsläufig einen stichhaltigen Authentizitätsbeweis zu leisten.
Um die Suggestion eines gealterten Objekts hervorzurufen, werden heute auch neue, kommerziell hergestellte Produkte patiniert und ihnen Abnutzungserscheinungen appliziert; überdies werden ehemals ausgefeilt hergestellte Handwerksprodukte heute industriell durch übertrieben unregelmäßige Formgestaltung prononciert, ja geradezu karikiert (Abb. 7). Das Verständnis für materielle Erscheinungsbilder von historischen Produktionsformen und historisch entstandenen Alterungsphänomenen wird durch diese Art einer Alterungsemulation nicht geschult, da sie die speziellen Formen historisch entstandener Merkmale zumeist nicht treffend imitieren können.
Abb. 7a: Teller im Café eines Flughafens
Foto: Irene BrückleAbb. 7b: Tisch im Flur eines Hotels
Foto: Irene BrückleDie gelbliche Farbe der Papiere der Karlsruher Zeichnungen ist in ihrer Tönung heute vermutlich etwas dunkler als bei den frisch hergestellten Bögen vor rund 250 Jahren. Die leichte Vergilbung ist heute ein akzeptierter Bestandteil ihres Erscheinungsbildes. Wären da nicht Knicke, Flecke und Fehlstellen, würde man auch bei Lhuilliers Viertelkreisstück einer Deckendekoration (Abb. 6) von einem gut erhaltenen Werk sprechen. Mit Blick auf das Papier könnte man also anerkennend von seiner „Patina“ sprechen. Eine solche Beschreibung ließe sich damit begründen, dass die Verfärbung auf der gelatinegeleimten Oberfläche – also einer Art Überzug auf dem Papier – auftritt. Fachlich korrekter aber spricht man bei Papier von einer seinem gealterten Status angemessenen Vergilbung, die von Betrachtern positiv gewertet werden kann.[2]
Vermögen derartige Einschätzungen zur Farbe das Alter des Papiers näher einzukreisen, ist doch das gealterte Erscheinungsbild der Karlsruher Zeichnungen allein kein verlässlicher Indikator für Alterung: Materialien altern aufgrund ihrer Zusammensetzung und verschiedener Alterungsbedingungen unterschiedlich schnell, sodass ihr sichtbarer Zustand nicht immer einen eindeutigen Rückschluss auf ihr Alter erlaubt. Die hochwertigen Papiere der Karlsruher Zeichnungen etwa sind schwächer vergilbt als die mindestens 50 Jahre jüngeren, aber minderwertigeren – wahrscheinlich schon herstellungsseitig nicht reinweißen – Papiere der Alben, welche trotz ihrer weniger bewegten Geschichte etwas bräunlicher erscheinen (siehe auch Essay „Die Struktur der Karlsruher Piranesi-Klebebände“).
Einzelnachweis
1. Eine Übersicht über historische Nutzungen des Begriffs, vgl. Julia Feldtkeller: Restaurieren und Saubermachen, in: Anselm Wagner (Hg.): Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur, Tagungsband, Karl-Franzens-Universität Graz, 4.–5. Juni 2008, Wien/Berlin 2010, 2. Auflage 2012, S. 241–249, hier insbesondere S. 243. Ein grundlegendes Buch hierzu schrieb der Restaurator Thomas Brachert: Patina. Vom Nutzen und Nachteil der Restaurierung, München 1995.
2. Das ergab eine begrenzte Umfrage anlässlich einer öffentlichen Präsentation von unterschiedlich stark aufgehellten, als Muster verfügbaren Radierungen, siehe: Marlene Husung/Ute Henniges/Irene Brückle*: How do you rate the color of paper after aqueous treatments?, Poster, Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart 2018.
- Ästhetischer Wert der Nutzungsspuren?
Das Viertelkreisstück einer Deckendekoration (Abb. 6) wirkt durch schadensartige Beschaffenheiten stark beeinträchtigt, sodass man unweigerlich fragt: Verunklären die eingerissenen Ecken, Flecke und Knicke das Bild nicht allzu sehr? Können uns die Girlanden, Figuren und Rankenmotive trotzdem uneingeschränkt erfreuen? Anhand der Zeichnung lässt sich über die ästhetische Wirkung dieser Schadensspuren nachdenken – ausgehend von der Prämisse, dass sie als „hässlich“ und „abstoßend“ gewertet werden können. Solche emotionalen Resonanzen stehen beispielhaft für ästhetische Empfindungen, die beim Betrachten aufkommen können. Würde man die Zeichnung ausschließlich aufgrund einer – hypothetisch unangenehmen – Empfindung bewerten, so blieben ihre weiteren Werte einschließlich der vielen historischen Bezüge deaktiviert (Abb. 8). Die Schäden würden bezuglos bleiben; die Entfernung störender Effekte in Annäherung an einen ideal vorgestellten, harmonisch gealterten Zustand erschiene daher wünschenswert (Abb. 9). Für die Herausbildung von Kriterien für die ästhetische Beurteilung sind einige Überlegungen von Bedeutung: Die schadensartige Beschaffenheit der Zeichnung ist künstlerisch nicht intendiert; sie soll nicht verstörend wirken und ist mit Schäden an Alltagsgegenständen nicht gleichzusetzen. Überdies ist sie nur in einem außerhalb der Zeichnungen selbst liegenden Kontext sinnvoll zu bewerten. Dies soll im Folgenden erläutert werden.
Abb. 8: Nicolas François Daniel Lhuillier oder Kopie nach Lhuillier (?), Viertelkreisstück aus der Stuckdecke im Treppenhaus des Konservatorenpalastes (wie Abb. 6), UVR, schadensartige Spuren erscheinen hervorgehoben Abb. 9: Nicolas François Daniel Lhuillier oder Kopie nach Lhuillier (?), Viertelkreisstück aus der Stuckdecke im Treppenhaus des Konservatorenpalastes (wie Abb. 6), IR, Zeichnung erscheint hervorgehoben 1. Die Schadensspuren an der Zeichnung entsprechen keiner künstlerisch intentionalen Ästhetik. Diese Aussage erscheint für die hier diskutierte Zeichnung (wie auch alle anderen in den Klebebänden) selbstverständlich. Aber gelegentlich gehören Effekte, die in anderen Fällen typischerweise als Schäden gelten, zur künstlerischen Intention.[1] Ein Beispiel hierfür ist eine Zeichnung des römischen Künstlers Guiseppe Cades (1750–1799), der sich auf die Imitation zeichnerischer Werke der großen Renaissancemeister spezialisierte und in den von ihm geschaffenen Zeichnungen absichtlich Schäden einbrachte, um ihnen ein gealtertes Aussehen zu verleihen (Abb. 10).[2] Ohne Täuschungsabsicht wurden etwas vorgealterte, leicht stockfleckige Papiere in Umlauf gebracht, die einige Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufgrund ihres leicht gealterten Erscheinungsbildes für ihre Radierungen bevorzugten; bekannt ist ein solches Vorgehen von James McNeill Whistler (1834–1903) und John Taylor Arms (1887–1953).[3] Auch Edvard Munch (1863–1944) schätzte Verwitterungseffekte an seinen absichtlich im Freien exponierten Ölgemälden.[4] Piranesi selbst könnte, in seinen bildhauerischen Nachahmungen der Antike, eine entsprechende Behandlung durchaus als Stilmittel einbezogen haben. Künstler haben seither immer wieder nachträglich auftretende Alterungseffekte einbezogen, um etablierte Betrachtungsmuster aufzubrechen.[5]
Abb. 10: Guiseppe Cades, Motive Michelangelos aus der Sixtinischen Kapelle (Sündenfall, Vertreibung aus dem Paradies, Sturz der Verdammten), um 1780, schwarze Kreide, Feder in Braun, Lavierung in Braun, 27,5 x 32,5 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Inv. C 2017/5756,19
Public Domain Mark 1.02. Die unbeabsichtigten Spuren an der Zeichnung haben nichts mit der ästhetischen Erfahrung des Verstörenden gemein: Von den historischen Knicken und ausgerissenen Ecken kann man schwerlich behaupten, dass sie verstören sollen (was in den Karlsruher Alben die beiden düsteren Architekturphantasien von Piranesi künstlerisch bewirken können). Die Spuren wurden als unvermeidbare Nebenwirkung künstlerischer Arbeit lediglich toleriert, einige sind vermutlich später entstanden. Insgesamt können sie die ästhetische Wirkung des gezeichneten Motivs bestenfalls nur beeinträchtigen. Daraus folgt aber keineswegs, dass historische Nutzungsspuren nicht auch verstören können. Dies gilt besonders dann, wenn sie in direktem Bezug zu besonderen, historischen Umständen stehen. Das betrifft beispielsweise den Brief eines 1922 in Litauen geborenen Mannes, der vor der nationalsozialistischen Invasion nach Russland floh und an seine dort versprengte Familie schrieb. Hier zeigen Gebrauchsspuren einschließlich einiger nach Kriegsende angebrachter Reparaturen ein prekäres Überleben sichtbar an und sind später zu einem Moment des Gedenkens an den als Soldat der Roten Armee gefallenen Briefschreiber geworden (Abb. 11).[6]
Abb. 11: Boris Gurevich, Brief, datiert 2. Mai 1943, Bukhara (Russland), United States Holocaust Museum, Inv. 2010.125.1
CC0 1.03. Die Schadensspuren der Zeichnung Viertelkreisstück sind keine Alltagszeichen. Sie sind dem Kunstwerk anhängig und im Zusammenhang seiner Werte zu beurteilen. Nehmen wir zum Vergleich an, es gäbe ein mit dem Bild der Zeichnung bedrucktes Kleidungsstück. Dieses nehmen wir zwar ästhetisch wahr, nicht aber losgelöst von seiner Bestimmung. Eine Abweichung (Einriss) in dem von uns als unbeschädigt vorausgesetzten Designprodukt käme einem einschneidenden Wertverlust gleich. Bei der Zeichnung aber bewerten wir den Einriss in einem weniger normativ beengten Feld und lassen uns auf die Besonderheiten des Kunstwerks und seiner Geschichte ein.[7] In welcher Nähe zum künstlerischen Schaffen die Schäden aber zu betrachten sind, entscheidet auch über ihren heutigen Wert. Piranesis skizzenhafte Darstellung eines konzentriert tätigen, aber dabei unbequem auf einem Block hockenden Künstlers (Abb. 12) lässt zwar ein großzügiges Hantieren mit Zeichnungen in seiner Werkstatt assoziieren, welches anderweitig auch heute noch gut erkennbar ist (siehe zum Beispiel Stowe-Vase, Newdigate-Kandelaber). Bei dem Viertelkreisstück sind möglicherweise auch einige Flecke auf ein Abpausen mit geöltem Papier zurückzuführen. Dagegen sind die Knicke und Einrisse keinem spezifischen Prozess historischer Nutzung zuzuordnen. Die gröbsten Knicke und Papierverluste, letztere teils bedingt durch Nagetierfraß, sind sicherlich erst später und vielleicht im Zuge der Werkstattauflösung nach Piranesis Tod entstanden. Aus diesem Grund könnte man sie als weit entfernt von Piranesis Wirkungskreis und daher als wertlos für unser heutiges Verständnis der Zeichnung einschätzen und ihre Restaurierung nahelegen. In früherer Zeit sind solche Spuren oft fraglos getilgt worden. Im Zusammenhang des Karlsruher Konvoluts verkörpern sie aber den nicht spurenfreien Verlauf von dessen bewegter Geschichte und sind daher als erhaltenswert zu betrachten.
Abb. 12: Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) und Nicolas François Daniel Lhuillier (um 1736–1793) oder Kopie nach Lhuillier (?), Sitzende Figur in Rückansicht und Akanthusblatt, 1760er Jahre und vor 1778, 295 x 385 mm, Feder in brauner Tinte, Rötel, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-36-31-1v
Ein weiteres Beispiel, bei dem Schäden als Nutzungsspuren bedeutsam sind, betrifft die Radierung Ballfreuden, die der französische Kupferstecher Louis Gérard Scotin (1690–nach 1755) nach einem Gemälde von Antoine Watteau anfertigte. Diese Druckgraphik wurde im 18. Jahrhundert von der Königlichen Porzellanmanufaktur in Berlin angekauft und diente als Vorlage für die Gestaltung von Porzellanmalerei (Abb. 13).[8] Heute ist das Blatt Teil des KPM-Archivs an der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, deren Sammlung eine Reihe vergleichbar geschädigter Werke beinhaltet. Auch hier erklären sich die Schäden aus dem Gesamtzusammenhang, indem sie eine bestimmte Praxis historischer Nutzung verdeutlichen, auch wenn die einzelnen Schäden sich nicht einer einzelnen historischen Handhabung bei KPM zuordnen lassen und sich möglicherweise teils auch nachträglich durch eine kriegsbedingte Notevakuierung 1943 verstärkt haben.
Abb. 13: Louis Gérard Scotin nach Antoine Watteau, Ballfreuden („Les Plaisirs du bal“), 1731, Radierung/Kupferstich, 58,9 x 72 cm
© Potsdam, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, KPM-Archiv (Land Berlin), o. Inv., Foto: Jakob Kurpik4. Museal bewusst belassene Schadens- und Nutzungsspuren weisen über das betroffene Werk hinaus auf dessen spätere Entwicklungsphasen. Sie informieren über seine Vergangenheit, auch wenn dies in manchen Fällen ästhetisch störend ist und ohne dass damit gesagt wäre, dass alles Ruinöse erhalten werden muss, wenn materielle und ideelle Gründe für eine Wiederherstellung sprechen.[9] Darüber hinaus können solche Spuren unterschiedliche Werke vertieft oder neu miteinander verbinden. So sind an einer Zeichnung am Museum of Fine Arts in Boston (Abb. 14), die Piranesi auf der Rückseite eines Kupferstichs aus dem bekannten Stichwerk über die römischen Antiken der Sammlung Pamphilj ausführte, in allen vier Ecken noch rötliche Klebepunkte mit anhaftenden Papierfragmenten erhalten (Abb. 15).[10] Diese Reste einer ehemaligen Fixierung entsprechen in ihrem Erscheinungsbild einigen Montierungsspuren an den Karlsruher Zeichnungen, die auf eine wohl noch in Rom erfolgte, frühe Montierung der Zeichnungen zurückgehen (siehe etwa IX 5159 35-32-1 oder IX 5159-35-6-2, „Prozesse historischer Nutzung“) oder durch das Zusammenfügen mehrteiliger Zeichnungsblätter entstanden (IX 5159-36-15-1). Die Klebepunkte der Bostoner Zeichnung gewinnen in dieser neuen Verbindung zusätzlich an Bedeutung.
Abb. 14: Giovanni Battista Piranesi, Zwei männliche Figuren, Feder in Braun, 1775–1778, 17,2 x 24,5 cm, Boston, Museum of Fine Arts, Gift of William P. Blake in memory of Ann Dehon Blake, Inv. 19.594
Foto: © 2022, Museum of Fine Arts, BostonAbb. 15: Rückseite der Zeichnung von Giovanni Battista Piranesi (siehe Abb. 14) mit einem Kupferstich von Dominique Barrière: Marmorbüste des Drusus (römische Kaiserzeit), Kupferstich, in: Giovanni Giacomo de Rossi, Villa Pamphilia, eiusque palatium, cum suis prospectibus, statuae, fontes, vivaria, theatra, areolae, plantarum, viarumque ordines, cum eiusdem villae absoluta delineation, 2° (44 cm), Rom 1650/1700, Taf. 60
Foto: © 2022, Museum of Fine Arts, BostonFür alle in diesem Abschnitt besprochenen Objekte gilt, dass sie von Museen, unter Berücksichtigung unterschiedlich gelagerter Werte, bewusst in ihrem imperfekten Zustand präsentiert werden. Das Museum ist dementsprechend der Ort, der uns darauf vorbereitet und uns dazu auffordert, auch solchen zunächst vielleicht unverständlichen Phänomenen ästhetisch nachzuspüren.
Einzelnachweis
1. Wobei zu bemerken ist, dass künstlerische Intention ohnehin nicht unbedingt identisch mit dem sein muss, was sich im Kunstwerk offensichtlich manifestiert und wie es von dem Betrachter wahrgenommen wird, wobei Alterungseffekte nur eines der distanzierenden Momente darstellen, siehe hierzu Steven Dykstra: The Artist's Intentions and the Intentional Fallacy in Fine Arts Conservation, Journal of the American Institute for Conservation, 1996, 35, 3, S. 197–218.
2. Werner Sumowski mit Christel Dietrich: Zeichnungen aus fünf Jahrhunderten. Eine Stuttgarter Privatsammlung, Ausst. Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Ostfildern-Ruit 1999, S. 82 und 210, Nr. 19; einsehbar unter der Inv. Nr. C 2017/5756,19, https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/F104A570AEEA4B14AD336F35B71FC18B.html. Solches Nachahmen war schon in der Renaissance etwa für die Imitation antiker Münzen beliebt, siehe hierzu: Volker Heenes: Copies of ancient coins and inventions all’antica in the work of Jacopo Strada, in: OZeAN, Online Zeitschrift zur Antiken Numismatik, 2020, 2, S. 53–83 (alle eingesehen am 27.12.2021).
3. Whistler schrieb 1893: „I don’t know what you mean by finding the paper dreadfully stained – I like it.” Zit. nach Harriet Stratis: The Lithographs of James McNeill Whistler: Methods of Identifying Lifetime and Posthumous Impressions, in: John Slavon/Linda Sutherland/John O’Neill/Margaret Haupt/Janet Cowan (Hg.): Looking at Paper: Evidence & Interpretation, Symposium Proceedings, Toronto 1999, S. 63–68, hier S. 64. Auch Arms notierte 1941 seine Vorliebe für altes Papier: „[it] assumed, in time, a tone which cannot be obtained by staining modern paper“, zit. nach Deborah Carton/M. Brigitte Yeh: Invoking the Past: John Taylor Arms’ Use of Antique Papers, in: ebd., S. 17–25, hier S. 19.
4. Jin Strand Ferrer/Terje Syversen/Tomas Markevicius: The Challenge of the ‘Kill-or-Cure’ Remedy. The Munch Museum’s Authenticity Problem Owing to the Interpretation and Preservation of Edvard Munch Works, in: Aesthetic Investigations 2, 2019, S. 123–143.
5. Ein Beispiel ist ein in den 1990er Jahren geschaffenes, aus bearbeitetem Obst bestehendes Werk der Künstlerin Zoe Leonard (*1961), für das der New Yorker Restaurator Christian Scheidemann die signifikante Alterung der heute noch erhaltenen Früchte als werkzugehörig herausgearbeitet hat, siehe: Nina Quabeck: Intent in the Making: the Life of Zoe Leonard’s ‚Strange Fruit’, in: Burlington Contemporary, Mai 2019; Auch Dieter Roth (1930–1998) hat den materialbedingten Zerfall konzeptuell in seine Werke einbezogen. Dem Willen des Künstlers entsprechend wird dieser Zerfall moderierend begleitet, nicht aber unterbunden. Ein Beispiel für diese Herangehensweise findet sich bei: Dieter Roth, Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden, 1974, Staatsgalerie Stuttgart, Archiv Sohm, Inv.-Nr.: AS 1999/1271, unter https://www.staatsgalerie.de/sammlung/forschung-projekte/dieter-roth.html; (alle eingesehen am 27.12.2021).
6. Ein weiteres, sprechendes Beispiel für einen Schaden, der ästhetisch den Horror des Nationalsozialismus spiegelt, bietet die von dem französischen Bildhauer Étienne-Maurice Falconet (1716–1791) 1765 geschaffene Marmorfigur L’amitié au coeur, die unter den Nationalsozialisten geraubt und kurz vor Kriegsende unter dieser Herrschaft durch deren Geländesprengung mutwillig beschädigt wurde, was zu einem Verlust des Kopfes und beider Hände führte. Daraufhin lag die Skulptur jahrzehntelang vergraben, was zu auffälligen rötlichen Verfärbungen des Torsos führte; einzusehen im Jüdischen Museum Berlin (Inv. L-2018/1/0). Für die Kenntnis des von ihm aufgearbeiteten Falls sei Christoph Frank sehr herzlich gedankt. Siehe hierzu auch: Christoph Frank: Le „goût“ du Reichsmarschall Göring pour l’art français du xviiie siècle. L’Amitié au coeur de Falconet retrouvée, in: Marie-Catherine Sahut (Hg.): La Coupole de Callet et son étonnant destin: Du Palais Bourbon au musée du Louvre, Paris 2016, S. 122–136. Auch außerhalb von Kriegsgeschehen versinnbildlichen Schäden historische Ereignisse, so etwa die 1847 und 1848 als letzte Lebenszeichen überlieferten Notizen der in der Arktis untergegangenen Teilnehmer der von dem Briten John Franklin geleiteten Expedition (National Maritime Museum, London). Marie Kern sei für diesen Hinweis herzlich gedankt.
7. Daniel Martin Feige sagt in diesem Zusammenhang, dass wir ein Kunstwerk als „den besonderen Gegenstand in seiner Besonderheit“ wertschätzen, vgl. Daniel Martin Feige: Design. Eine philosophische Analyse, Berlin 2018, S. 100f.
8. Der Kustodin des KPM-Archivs (https://www.spsg.de/forschung-sammlungen/sammlungen/sammlungen-des-kpm-archivs-land-berlin/) Eva Wollschläger sei sehr herzlich für das informative Gespräch gedankt, in dem sie das Erhaltungskonzept der Alterungszustände erläuterte und erklärte, dass in der Ausstellung „Antoine Watteau. Kunst – Markt – Gewerbe“ (9.10.2021–9.1.2022) die bei KPM ehemals werkstattlich genutzten Radierungen in Plexiglasvitrinen montiert präsentiert wurden, um damit ihre historische Funktionalität im Vergleich zu den ebenfalls ausgestellten, traditionell gerahmten und besser erhaltenen Abzügen aus dem Besitz graphischer Sammlungen hervorzuheben. Die Ankäufe von Kupferstichen durch KPM ist für den Zeitraum 1764–1780 belegt. Siehe: Eva Wollschläger: Vom Künstler zur preußischen Stilikone. Friedrich II., Watteau und die Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin, in: Antoine Watteau. Kunst – Markt – Gewerbe, Ausst. Kat. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, München 2021, S. S. 214–225, hier: S. 223–225; (das KPM-Archiv eingesehen am 27.12.2021).
9. Instruktiv sind hierzu die Beiträge in Julien Chapuis/Stephan Kemperdick: The Lost Museum, The Berlin Painting and Sculpture Collections 70 Years after World War II, Ausst. Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 2015; Ralph Jaeckel (Exhibiting Ruins?, in: ebd., S. 34–36) sieht im Museum als Ort der Kontemplation und Erfahrung des Schönen auch die Verpflichtung zu einer geschichtsbewussten Darstellung; Bodo Bucynski (Restoration – to What End?, in: ebd., S. 93–113) fragt unter Anderem, inwieweit wir mit Schadenspräsentationen einem Ruinenkult huldigen (S. 95).
10. Die weißlichen Papiere sind stellenweise zweilagig und weisen auf zwei aufeinander folgende frühere Montierungen hin. Die rötliche Farbe des Klebstoffs könnte auf eine Einlagerung von Rötelpulver zurückzuführen sein; Rötelspuren sind auch auf der Vorderseite sichtbar. Für diese Auskünfte über die Montierungsfragmente danke ich Annette Manick sehr herzlich. Der Katalogeintrag zu der Zeichnung am Museum of Fine Arts in Boston ist hier einzusehen. Das Druckwerk, aus dem der Kupferstich stammt, ist hier einzusehen. Der Werkstatt Piranesi zugeschriebene Zeichnungen an der Morgan Library & Museum in New York sind heute weitgehend frei von solchen Spuren, die vermutlich noch vor Eingang in das Museum entfernt worden waren.
- Das Ensemble als Wert
Die Karlsruher Alben gehören typologisch zu einer verzweigten Familie ähnlich gestalteter, zeitgenössischer Klebebände mit dokumentierend ausgerichteten Zeichnungen nach antiken, architektonischen und bauplastischen Motiven in Rom. Solche Alben wurden von Architekten bzw. Architekturunternehmen als Inspirationsquelle für eigene Projekte zusammengetragen. Darin unterstützt und beliefert wurden sie durch eine fluktuierende Gruppe in Rom tätiger Künstler, die Zeichnungen und von diesen wiederum Abklatsche oder anderweitige Kopien anfertigten. Diese wurden dann in Alben eingeklebt, in denen sie heute noch erhalten sind. Wie die kunsthistorische Forschung zu den Karlsruher Klebebände nun erwiesen hat, trug auch der Karlsruher Architekt Friedrich Weinbrenner während seines Rombesuchs ein zeichnerisches Archiv zusammen, dessen unmittelbarer Bezug zu Piranesis Werkstatt diese Gruppe aus vergleichbaren Sammlungen heraushebt und mit Piranesis wenigen eigenhändigen, künstlerisch freien Zeichnungen einzigartig macht. Die Karlsruher Klebealben sind aber trotz ihres besonderen Status ein Teil der damals europaweiten Bewegung, mit der das antike Rom zeichnerisch erfasst und exportiert wurde.
Die Klebealben jener Zeit, die teils schon in Rom entstanden oder nach Reiserückkehr angelegt wurden, teilen untereinander einige wiederkehrende Merkmale, die auch für Klebealben im Allgemeinen kennzeichnend sind: Sie haben eine über das handliche Skizzenbuchformat hinausreichende Größe, einen festen Einband und sind innen meistens mit einem kräftigen Blankopapier und Ausgleichslagen ausgestattet. In engem Bezug zu den Karlsruher Alben stehen einige andere Alben, darunter die beiden in einem separaten Essay vorgestellten Alben der beiden britischen Architekten John und Robert Adam am Sir John Soane’s Museum in London.[1] Relevante Vergleichsmomente sind anhand einer kleinen Auswahl weiterer Klebebände aufzuzeigen. Als wohl bedeutendstes Beispiel eines der archäologischen Erfassung des antiken Rom gewidmeten und der Albumform verpflichteten Sammlungsinteresses ist jedoch das berühmte, antiquarisch angelegte „Papiermuseum“ des römischen Gelehrten Cassiano Dal Pozzo (1588–1657) zu nennen.[2] Im Laufe einiger Jahrzehnte erwarb Dal Pozzo unter Beteiligung beauftragter Zeichner einen immensen Bildkorpus zu unterschiedlichsten Themen zusammen, darunter auch rund 1200 Architekturzeichnungen (Abb. 16). Einige Klebebände der 1703 veräußerten Sammlung sind in später angelegten Klebebänden erhalten. Auch hier finden sich Spuren einer früheren Montierung, die vor der heutigen Albummontierung existiert haben muss und auf einen älteren, möglicherweise ursprünglichen Archivierungsstatus hinweist, in dieser historischen Spur den Karlsruher Zeichnungen vergleichbar. Als weiteres Beispiel seien die Alben des britischen Architekten John Talman (1677–1726) genannt, der vor allem als Antiquar und unermüdlicher Sammler von Zeichnungen nach historischen Denkmälern unterschiedlicher Art Bekanntheit erlangte. Anfang des 18. Jahrhunderts trug er im Verlauf seiner ausgedehnten, insbesondere Italien vertiefenden Reisen eine umfangreiche Sammlung von dokumentierenden Zeichnungen zusammen.[3] Auf der Grundlage dieser heute nur noch teilweise in Alben vereinigten Sammlung hätte später ein groß angelegtes Druckwerk entstehen sollen. Dieses Werk wäre Piranesis Projekt zwar nicht inhaltlich, doch in seinem systematisch dokumentierenden, auf Dissemination gerichteten Anliegen vergleichbar gewesen.[4] Die von Christoph Frank aufgrund ihres engen Bezugs zu den Karlsruher Alben in die Diskussion gebrachten beiden Alben des britischen Architekten Richard Norris (?–1792) beinhalten neben eigenhändigen auch zahlreiche von anderen Künstlern angefertigte Zeichnungen (Abb. 17).[5] Als Bildarchiv seines Romaufenthalts hat Norris die Zeichnungen in der gedrängten Anordnung fixiert, die, neben anderen Albumsammlungen dieser Art, auch die Karlsruher Klebebände charakterisiert. Doppelseitige und für ihre Gesamtansicht über den Rand der Alben auszuklappende Zeichnungen sind auch in den Karlsruher Alben keine Seltenheit. Sie belegen eine ähnlich ökonomische Nutzung der beklebten Folios; die leeren Blätter in der zweiten Hälfte der beiden Karlsruher Bände lassen vermuten, dass hier eine letztlich nicht realisierte Platzierung weiterer Zeichnungen angedacht war. Der im 19. Jahrhundert tätige Pariser Bildhauer Jean-Baptiste Plantar (1790–1879), der ein florierendes Atelier für Zierplastik und Baudekoration unterhielt, versammelte meist gepauste Zeichnungen (auch einige Lithographien), viele davon nach gotischen bis klassizistischen, größtenteils französischen Gestaltungsmotiven (Abb. 18).[6] Diese Alben lassen sich in einigen Punkten ebenfalls mit den Karlsruher Klebebänden vergleichen: Sie bezeugen eine kollektive künstlerische Praxis, an der ungenannte Werkstattmitarbeiter, teils auch in Bearbeitung einer Zeichnung durch mehrere Hände, beteiligt waren. Die Sammlung wurde womöglich später nach eher ästhetischen Gesichtspunkten als nach Projektzusammenhängen in die Alben eingeklebt. Die Bände enthalten außerdem nur vereinzelt eigenhändige Zeichnungen von Plantar. Neben Alben dieser Art, von denen hier nur einige exemplarisch genannt sind, ist zu erwähnen, dass nicht alle Zeichnungssammlungen dieser Gattung in den ehemals angelegten Alben erhalten sind.[7] Eine große Sammlung der von Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780–1867) teils auch in Rom zusammengetragenen Zeichnungen wurde vermutlich noch unter seiner Anleitung in Alben fixiert, ist aber heute lediglich in Einzelfolios mit den darauf fixierten Zeichnungen erhalten (Abb. 19).[8]
Abb. 16: Doppelseite aus dem Cassiano dal Pozzo Album Architectura civile: Disegni di varie antichita Nettuno, Collection of Cassiano Dal Pozzo (1588-1657), Bd. A12, Foliomaß: 55,7 x 42,8 x 5,4 cm, Royal Collection Trust, RCIN 970354
© Her Majesty Queen Elizabeth II 2022Abb. 17: John Talman, Die Mitra des Erzbischofs Boncmpagno, Neapel, Albumseite (Detail), 1710–1712, Tinte auf Papier, Zeichnung 278 x 214 mm
© Victoria & Albert Museum, London, E.91-1940Abb. 19: Doppelseite aus dem Album von Jean-Baptiste Plantar, Décoration et ornement architecturale, 1846–1850?, Folios 19v und 20, Blatt: 22,5 x 30 cm, Paris, Bibliothèque de l'Institut National d'Histoire de l'Art, collections Jacques Doucet, Inv. NUM MS 677
CC0 1.0Abb. 19: Folio mit mehreren aufgeklebten Zeichnungen aus dem Nachlass von Dominique Ingres, Montauban, Museé Ingres Bourdelle, Inv. MIC.9.62
Foto: Montauban, Musée Ingres Bourdelle / Marc JeanneteauKlebealben sind in der Regel als Ensemble, also als ein aus zusammengehörenden Teilen bestehendes und daher erhaltenswertes Ganzes zu verstehen. Die Denkmalpflege entwickelte für mehrteilige Monumente das Konzept des Ensembleschutzes. In dem 1965 von ICOMOS (International Council on Museums and Sites) verabschiedeten Grundlagenpapier, der sogenannten Charta von Venedig, wird die Erhaltung von Denkmälern in einem angemessenen räumlichen Kontext gefordert.[9] Das Denkmal wird demnach unter „Bewahrung eines seinem Maßstab entsprechenden Rahmens“ bewahrt, im Unterschied zu einem alleinstehenden Teilstück, dass sich in einer räumlich entfremdeten Umgebung behaupten muss – etwa wenn ein alter Treppenlauf in einem ansonsten modernisierten Treppenhaus konserviert wird.[10]
Die großformatigen Klebebände bilden den Rahmen und damit den ästhetischen Minimalkontext für unser Verständnis der einzelnen Zeichnungen. Würde man eine einzelne Zeichnung aus den Alben herauslösen, käme das gewissermaßen einer Fragmentierung gleich, auch wenn die Zeichnungen einzeln montiert und gerahmt (siehe Abb. 5b), zweifellos leichter zugänglich und ästhetisch hervorgehoben wären. Allerdings würden Schadensspuren in dieser Isolation ebenfalls deutlicher hervortreten, ein begleitender Hinweis könnte die Erfahrung des Albumkontexts zwar erklärlich, aber nicht ästhetisch anschaulich machen. Das bedeutet nicht, dass die Entnahme einzelner Zeichnungen für Forschungsanliegen und Ausstellungszwecke nicht gerechtfertigt wäre, sofern dies technisch risikofrei möglich ist (siehe hierzu das Essay „Temporäre Ablösung und Remontierung ausgewählter Piranesi-Zeichnungen“). In der Denkmalpflege ist in vergleichbarem Zusammenhang vermerkt worden, dass Bauten, die nach Kriegsende als Mahnmale minimalistisch konserviert worden waren, mit schwindender Erinnerung an die Schadensursache heute in einem inzwischen ringsum modernisierten Umfeld dekontextualisiert stehen und dort ungeachtet ihres historischen Werts verstärkt erklärungsbedürftig sind.[11] Ähnlich wurde für die Osloer Gemälde von Edvard Munch (1863–1944) festgestellt, dass ihre erste Konservierung nach dem Tod des Künstlers noch unter dem lebendigen Eindruck seiner künstlerisch gewollten Verwitterungseffekte zurückhaltend ausfiel.[12] Nach dem Transfer der Gemälde in das 1963 neu eröffnete Munch Museum wurde dieser nur scheinbar vernachlässigte Zustand der Gemälde in diesem eleganten Umfeld anfangs als äußerst unpassend empfunden. Erst später hat man begonnen, diesen Zustand ästhetisch und konservatorisch umfänglich zu würdigen.
Dem Ensemblegedanken folgend werden in jüngerer Zeit unterschiedlichste, aber jeweils dem Codex- beziehungsweise Buchformat verpflichtete Sammlungen von Zeichnungen oder Druckgraphiken in der Bemühung um ihren historischen Kontext konserviert, restauriert und gegebenenfalls auch virtuell rekonstruiert. Dieser konservatorisch erhaltende Ansatz betrifft sowohl Klebebände mit Zeichnungen oder Graphiken als auch bildreiche Druckwerke und Skizzenbücher, die in einem Buchformat überliefert sind oder einem solchen ehemals angehörten. Einige Beispiele seien hier genannt. Im Fall der sogenannten Croÿ Alben (1560–1612) in der Österreichischen Nationalbibliothek erfolgte die umfangreiche Neumontierung der zwischen dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert entstandenen Deckfarbenmalereien auf Pergament unter Auflösung einer früher erfolgten Montierung in Polyestertaschen; nun wurde die Idee der ursprünglichen Papiermontierung rekultiviert und dabei konservatorisch angepasst.[13] Klebebände mit Zeichnungen des schottischen Architekturhistorikers James Stark Fleming (1834–1922) wurden, als Zeugnis seiner Schaffenszeit überliefert und möglicherweise von ihm selbst gestaltet, trotz deutlicher Schäden in ihrer originalen Albumstruktur stabilisiert.[14] An der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel wurde der ehemalige Zusammenhang von Druckgraphiken, die schon im 19. Jahrhundert aus einem Album herausgelöst worden waren, anhand der an den Blättern noch ablesbaren Spuren ehemaliger Heftung und Montierung den noch erhaltenen, aber weiterhin separat konservierten Einbänden zugeordnet.[15]Auch in Bezug auf Skizzenbücher hat die kunsttechnologische Spurensuche die Zuordnung von früh vereinzelten Zeichnungen ermöglicht, so geschehen in einer Untersuchung von Tuschelavierungen von Francisco Goya (1746–1828).[16] Hier erwies sich aufgrund von Papiermerkmalen, erhaltenen Nummerierungen, Tuscheklecksen und über mehrere Folios abgebildeten Stockflecken, dass Goya nicht auf losen Blättern, sondern in einem Skizzenbuch gearbeitet hatte; die Reihenfolge der Zeichnungen und Goyas Arbeitsweise bezüglich der für seinen Privatgebrauch geschaffenen Werke konnte damit rekonstruiert werden. Bei den am Basler Kunstmuseum erhaltenen Zeichnungen von Paul Cézanne (1839–1906) konnte ihre Zuordnung zu den ehemaligen Skizzenbüchern bestätigt werden und einige Details seines zeichnerischen Vorgehens in diesen kleinformatigen Büchern neu entdeckt werden.[17] Bei einem Skizzenbuch des französischen Künstlers Jean-Joseph Chamant (1699–1768) wurde die marode historische Bindung nach historischem Muster wiederhergestellt; heute fehlende Folios wurden zur Stabilisierung der Buchstruktur durch eine Lage Blankobögen ersetzt.[18] Zudem wurde eine digitale Rekonstruktion genutzt, um eine historisch fragmentierte, illuminierte Handschrift virtuell in ihrem ursprünglichen Buchformat zusammenführen.[19]
Nur in Einzelfällen, wenn der Verbleib von Zeichnungen in einem Album mit einem erheblichen Schadensrisiko verbunden ist, wird in den erhaltenen Kontext eingegriffen. Dabei wird entsprechend dem Grundsatz möglichst weitgehenden Originalerhalts vorgegangen. Diesbezügliche Beispiele gehören zwar nicht in den Kontext der Karlsruher Alben, illustrieren aber das Konzept der Erhaltung dieser historisch komplexen Kompositionen. So wurden im Louvre die abgebauten, brüchigen Folios des im 18. Jahrhundert angelegten Fêtes et Mascarade, Théatres & c. de Louis XIV. Tom I betitelten Klebebands durch mehrlagig konstruierte Folios aus Japanpapier ersetzt und damit die im 17. Jahrhundert geschaffenen Zeichnungen konservatorisch gesichert.[20] In Verbindung mit dieser Sicherung können die Zeichnungen auch für Ausstellungszwecke einzeln entnommen werden. Der neue Buchblock mit den darin montierten Zeichnungen wurde in den Einband des 18. Jahrhunderts eingefügt. Die Klebebände der im 19. Jahrhundert von einem Sammler zusammengetragenen Zeichnungen wurden unter Erhaltung ihrer Einbände innen erneuert.[21] Bei einem Album mit einer Gruppe im Jahr 1753 zusammengestellten Radierungen von William Hogarth (1697–1764) an der Lewis Walpole Library der Yale University wurde dagegen aufgrund signifikanter Schäden ein neuer Einband geschaffen; der historische Einband wurde jedoch für künftige Konsultationen erhalten.[22]
In welcher materiellen Form sie auch immer überliefert sind, alle dem Buchformat verpflichteten zeichnerischen und druckgraphischen Sammlungen erfordern für ihre restauratorische Sicherung Entscheidungsprozesse, bei denen der Erhalt des Ganzen in der Abwägung des Erhalts seiner Teile jeweils fallweise ausdifferenziert wird.
Einzelnachweis
1. Die mit den Alben der Brüder Adam verbundenen Zeichnungen in den Karlsruher Klebebänden ist über die Suchfunktion auf dieser Internetseite auffindbar. Bezüge zu anderen Alben, etwa den Hardwick Alben am Research Institute for British Architects in London, sind vergleichbar recherchierbar.
2. Der größte Teil der Sammlung befindet sich heute in der Royal Collection in Windsor. Viele Zeichnungen wurden in ausgeschnittene Fensteröffnungen montiert; die Evidenz einer vorhergehenden Montierung der in dem Antichità Diverse betitelten Album montierten Zeichnungen wurden größtenteils vor ihrem Einkleben entfernt, siehe Amanda Claridge mit Elena Vaiani: The Antichità Diverse Album, in: Arthur MacGregor/Jennifer Montagu (allg. Hg.), Amanda Claridge (Hg. der Serie A): The Paper Museum of Cassiano dal Pozzo, A Catalogue Raisonné, London 2016, S. 15–57, hier S. 30f. Zu Ordnen und publizistischen Dokumentieren von Zeichnungen, siehe auch Ingrid Vermeulen: Paper Museums and the Multimedia Practice of Art History: The Case of Stefano Mulinari’s ‚Istoria Practica’ (1778–1780) in the Uffizi, in: Mala Wellington Gahtan (Hg.): Giorgio Vasari and the Birth of the Museum, Oxfordshire/New York 2016, S. 215–231. Der „Kleine Klebeband“ der Fürsten zu Waldburg-Wolfegg am Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin weist Spuren einer ebensolchen historischen Remontierung auf.
3. Einsehbar neben anderen Zeichnungen von John Talman am Victoria & Albert Museum; Zeichnungen von Talman auf hellen Papieren, die von besserer Qualität sind als die Folios auf denen sie montiert sind (darin den Karlsruher Alben vergleichbar), siehe Courtauld Institute of Art (alle eingesehen am 27.12.2021).
4. Die Sammlung von John Talman wird in einem Forschungsprojekt rekonstruiert (eingesehen am 27.12.2021).
5. Für das Foto und weitere Hinweise sei Christoph Frank herzlich gedankt. Aus einigen Alben wurden zu einem früheren Zeitpunkt einzelne Zeichnungen entfernt und durch Kopien ersetzt (das betrifft auch Zeichnungen in den Alben von John Talman), vgl. am Victoria & Albert Museum (eingesehen am 27.12.2021).
6. Einsehbar neben anderen Zeichnungen in der Bibliothek des Institut national d’histoire de l’art; Kommentar hierzu, siehe: Sophie Derrot: Les albums de Jean-Baptiste Plantar (1790–1879), 23.3.2016 (eingesehen am 27.12.2021).
7. Einzelne Zeichnungen wurden früher aus einem von dem französischen Architekten Charles Percier (1764–1838) zusammengetragen Album mit Werkstattzeichnungen entnommen. Das Album ist im Besitz des Metropolitan Museum in New York (eingesehen am 27.12.2021).
8. Das hier abgebildete Folio gibt den auch von Nicolas François Daniel Lhuillier gezeichneten Fries mit Detailstudien vom Vespasianstempel auf dem Forum Romanum (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. IX 5159-35-24-1) seitenverkehrt und in Rötel statt schwarzer Kreide wieder. Für den Hinweis auf diesen Bestand sei Georg Kabierske herzlich gedankt.
9. Internationale Charta über die Konservierung und Restaurierung von Denkmälern und Ensembles. Siehe auch Michael Petzet: Ensembles (Historic Areas), Their Setting and the Historic Urban Landscape, in: Michael Petzet: Conservation of Monuments and Sites – International Principles in Theory and Practice, Berlin 2013, S. 94–102.
10. Georg Mörsch: Das Fragment in der Denkmalpflege, in: Das Denkmal als Fragment – das Fragment als Denkmal. Denkmale als Attraktion. Jahrestagung der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger und des Verbandes der Landesarchäologen und 75 Tag für Denkmalpflege, Arbeitsheft 21, Regierungspräsidium Stuttgart/Landesamt für Denkmalpflege, Stuttgart 2007, S. 81–89.
11. Thomas Will: Sichtbare Reparaturen – Eine alternative Form des Restaurierens, in: Raumkunst in Burg und Schloss. Zeugnis und Gesamtkunstwerk, in: Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten 8, 2005, S. 155–165.
12. Jin Strand Ferrer/Terje Syversen/Tomas Markevicius: The Challenge of the ‚Kill-or-Cure’ Remedy. The Munch Museum’s Authenticity Problem Owing to the Interpretation and Preservation of Edvard Munch Works, in: Aesthetic Investigations 2, 2019, S. 123–143, hier S. 133: „Man kann sich leicht vorstellen, dass die zerrissenen und fleckigen Leinwände in den eleganten Innenräumen des neuen Museums seltsam deplatziert wirkten und auf einen schmerzlichen Mangel an Ressourcen und Fachwissen hinwiesen [bzw. hinzuweisen schienen; Anm. der Autorin, s. Einleitung zu diesem Essay]. Außerdem waren viele der starken Stimmen, die sich ursprünglich für die Erhaltung [...] eingesetzt hatten, bereits verstorben.“
13. Junko Sonderegger/Uta Landwehr/Christa Hofmann: The Viennese Croÿ Albums: Options and Decisions Leading to the Conservation and Remounting of a Convolute of Double-Sided Gouache Paintings on Parchment, in: Restaurator 37, 2016, S. 2–40.
14. Eine entsprechende Behandlung wird berichtet von an der National Library of Ireland, Claire Dantin: Structure is Essential – the Conservation of Albums, 21.3.2018 (eingesehen am 7.3.2022).
15. Almuth Corbach: Brüche in der Biographie. Eine Spurensicherung, in: Ulrike Gleixner/Constanze Baum/Jörn Münkner/Hole Rößler (Hg.): Biographien des Buches, Göttingen 2017, S. 412–430, 469–473; dort vorgestellte Montierungsformen von Graphiken in Klebealben, siehe S. 418, Abb. 3.
16. Stephanie Buck/Kate Edmondson/Juliet Wilson-Bareau: Reconstructing Goya’s Album D, in: Juliet Wilson-Bareau/Stephanie Buck (Hg.): Goya. The Witches and Old Women Album, London 2015, S. 56–72.
17. Annegret Seger: Die Zeichnungen von Paul Cézanne im Kunstmuseum Basel – Spurensuche und Rekonstruktion seiner Skizzenbücher, in: VDR Beiträge 2, 2021, S. 57–65.
18. Die Konservierung des Skizzenbuchs, dem in früherer Zeit bezeichnete Blätter entnommen worden waren, geschah durch Rekonstruktion seiner historischen Heftung, erläutert durch Morgan Adams/Maria Fredericks: Jean-Joseph Chamant: The Lost Sketchbook, 16.6.2014, The Thaw Conservation Center, The Morgan Library & Museum (eingesehen am 27.12.2021). Für den Hinweis auf dieses Projekt danke ich Margaret Holben Ellis sehr herzlich.
19. Dass auf diese Weise eindrucksvolle virtuelle Wiederherstellungen möglich sind, zeigt das Beispiel von elf um 1460 datierten Miniaturmalereien, die in einem Album aus der Zeit Louis-Philippe I (1773–1850) überliefert sind, aber durch eine digitale Rekonstruktion in die ausgeschnittenen Lücken der originalen Grandes Chroniques de France – Châteauroux BM ms. 5 eingefügt wurden (alle eingesehen am 27.12.2021).
20. Für die Erläuterung dieses Projekts sei Ariane de la Chapelle sehr herzlich gedankt. Einzelne Zeichnungen (nicht aber der Klebeband) sind hier einsehbar (eingesehen am 27.12.2021).
21. Rhea DeStefano: Treatment of the J.O. Halliwell-Phillipps Collection of Albums with Shakespearean Rarities at the Folger Shakespeare Library, in: Restaurator, 31, 2010, S. 75–91.
22. Richard Greenberg/Cynthia Roman/Laura O’Brian Miller: Conserving a Rare Album of William Hogarth Prints (eingesehen am 27.12.2021).
- Die Zeichnungen in Bewegung
In dem posthumen Portrait, welches Pietro Labruzzi (1739–1805) von Giovanni Battista Piranesi ein Jahr nach dessen Tod malte, bildet die Darstellung von Piranesis Händen einen zentralen Blickpunkt. Die Linke hält einen porte crayon (Kreidehalter) und einen Zirkel als klassische Ausstattung eines Künstlers und Architekten, das Resultat von zeichnerischer Analyse ist eine halb ausgerollte Radierung. Die Rechte des Künstlers ist im Weisegestus auf uns gerichtet (Abb. 20). Als Rezipienten seiner eigenen Durchdringung der Antike scheinen wir gestisch dazu aufgefordert zu werden, diese mit seiner Hilfe fortzusetzen (Abb. 21). Die neu zugeschriebenen Karlsruher Zeichnungen bieten reichlichen Anlass, Piranesis einladender Aufforderung Folge zu leisten.
Abb. 20: Pietro Labruzzi, Giovanni Battista Piranesi, 1779, Öl auf Leinwand, 71 × 58 cm, Rom, Museo di Roma, Inv. MR 3440
© Roma -Sovrintendenza Capitolina ai Beni Culturali - Museo di Roma, Foto: Archivio IconograficoAbb. 21a: Begutachtung des Klebebands 1 während des von dem Forschungsteam an der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe veranstalteten Workhops im April 2018 (zu sehen ist Folio IX 5159-35-46) Abb 21b: Rückseite einer Zeichnung nach Ablösen zweier Klebepunkte und bei erster Betrachtung der Rückseite (zu sehen ist IX 5159-35-34-1v)
Foto: Maria KrämerAngesichts ihrer bewegten Geschichte lässt sich fragen, ob man diesen Zeichnungen eine eigene Biographie zusprechen sollte. Die Idee einer Objektbiographie wurde in den 1980er Jahren in der Anthropologie entwickelt.[1] Seither ist man bewusster darum bemüht, Objekte nicht nur aus ihrer Ursprungsbedeutung heraus, sondern in Aufwertung ihrer weiteren zeitlichen Entwicklung zu begreifen. Objekten gesteht man seither eine eigenständige Rolle als Auslöser der auf sie bezogenen, über längere Zeiträume wirkenden und sich dabei wandelnden Handlungen zu. Dieser objektbiographische Erklärungsansatz sucht auch Phasen des Vergessens, Ereignisse der Fragmentierung sowie örtlichen Verlagerung in den Verlauf der Objektexistenz einzubetten. In der Restaurierung ist der Umgang mit historisch und altersbedingt veränderten Originalen auch ohne einen objektbiographischen Erklärungsansatz ein notwendiges und vertrautes Thema, denn von dem Verständnis aller dieser Veränderungen hängt das Konzept jeder erhaltenden oder wiederherstellenden Maßnahme ab. Aber auch in der Restaurierung wird ein biographisches Erklärungsmodell gelegentlich genutzt, um die Lebenswege von Objekten nachzuzeichnen, insbesondere wenn nüchterne Fachbegriffe deren Situation nicht ausreichend verständlich machen können und ist somit ein nützliches Erklärungsmodell.[2] Problematisch wird die Metapher des Lebensweges allerdings dann, wenn dem Objekt damit indirekt eine eigene Entscheidungsfähigkeit in Bezug auf seine Erhaltung oder Instandsetzung zugesprochen und damit die Entscheidungsverantwortung der mit seiner Pflege betrauten Fachleute ausgeblendet wird.[3] Zumal ein biographisches Erklärungsmodell nicht alle Zustände von Objekten adäquat abbilden kann, denn weder sind Vandalismus und Zerstörung von Objekten ohne weiteres mit Verstümmelung und Mord, noch ihre Wiederentdeckung mit einer „Auferstehung“ gleichzusetzen. Auch in der Anthropologie ist man daher auf den weniger auf die Autonomie aktiver Handlungsspielräume eines Objekts anspielenden Begriff „Reisewege“ ausgewichen, um die wechselhaften Existenzstadien von Objekten besser zu erfassen.[4] In Bezug auf die Zeichnungen in den Karlsruher Klebebänden ließen sich ihre historische Ortsveränderung wohl als „Reiseweg“ begreifen, die Spuren ihrer Nutzung und Alterung vielleicht eher als Teil ihres „Lebenswegs“ hervorheben, ohne dass hiermit fachlich-restauratorische Erklärungen verbunden wären.
Während Piranesi in Labruzzis Bild eines seiner eigenen druckgraphischen Blätter noch lässig einrollen durfte, betrachten wir die konservierten Werke heute mit schützender Vorsicht. Die Schäden und Alterungseffekte sind nun museal vereinnahmt und werden als dem Kunstwerk zugehörig akzeptiert und vielleicht sogar ästhetisch goutiert. Damit ist die Geschichte der Zeichnungen aber sicherlich noch nicht zu Ende erzählt.
Dass Kunstwerke uns dauerhaft interessieren können, begründet sich aus einer Unerschöpflichkeit der Betrachtungsebenen, die Originale im Allgemeinen und daher auch die Karlsruher Zeichnungen offerieren. Man kann sie gar nicht vollständig „fertig“ betrachten. Jede erneute Erfahrung mit ihnen kann ein Vertrautes wiederbeleben, Neues inspirieren und Etabliertes herausfordern, etwa „so wie Musiker Partituren lesen und neu interpretieren“.[5] Musealen Objekten, die historische Alltagskulturen dokumentieren, hat man treffend einen „Bedeutungsüberschuss“[6] und darüber hinaus ein Maß an „Ungezähmtem“ oder „Unkontrolliertem“[7] zugesprochen. Das ist vielleicht eine ungewohnte Charakterisierung, denn das Museum präsentiert ja schließlich, seiner Verpflichtung zur Erhaltung und Vermittlung nachkommend, gepflegte Objekte in wohleingerichteten Räumlichkeiten. Aber selbst der naheliegende Vergleich mit einem Archiv macht die Klebebände als Betrachtungsgegenstand keineswegs gefügiger, denn auch das Archiv muss nicht als stille Ablage, sondern kann als lebendiger „Verteilerknoten zwischen Zeiten“ verstanden werden.[8] Wie auch immer man die Alben zuordnen oder charakterisieren mag, in jedem Fall muss man mit ausreichend Zeit und auch gedanklich nahe vor den Zeichnungen verweilen, um das ihnen in diesen Zitaten zugeschriebene, eigenwillige Potential zu erfahren. Selbst die historisch genau identifizierende und technisch exakt analysierende Beschreibung vermag nicht alle in diesen Werken zu erschließenden Betrachtungsmöglichkeiten auszuloten, die auch dort bestehen, wo Piranesi und die für ihn zeichnenden Künstler sich mit dokumentarischer Genauigkeit um ein gegenständliches Motiv bemüht haben.
In dem Bedeutungsüberschuss der Kunstwerke liegt ein besonderer Reiz, aber auch eine Unbequemlichkeit. Denn mit jedem Bedeutungsüberschuss entstehen auch Uneindeutigkeiten beziehungsweise Ambiguitäten. Diese lassen sich nicht einfach auflösen. Daher liegt eine der großen Anforderungen, die ein Kunstwerk an uns stellen kann, darin, Ambiguität auszuhalten und als bereichernd wertzuschätzen – eine Erfahrung, die vielleicht auch außerhalb des musealen Kontexts unser Verständnis für die Komplexitäten der modernen Welt erweitern kann.[9] Die Zeichnungen in den beiden Karlsruher Piranesi-Klebebänden mit ihren verunklärenden Spuren der Nutzung und des Alterns bieten auch in diesem erweiterten Sinn eine Erfahrung des Sehens, dass sich auf Uneindeutigkeiten einlässt und im Unschönen Schönheit entdecken kann.
Einzelnachweis
1. Das Konzept geht zurück auf Igor Kopytoff: The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process, in: Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, New York, 1986, S. 64–91. Es ist seither in einigen objektbezogenen, häufig an archäologischen Gegenständen orientierten, kulturhistorischen Publikationen aufgenommen worden, z.B. in einem Themenheft der Zeitschrift World Archeology 31, 1999, in dem der Blick auch auf die kulturpolitisch kritischen Dimensionen prominenter Objektgeschichten gelenkt wurde, siehe dort Yannis Hamilakis: Stories from Exile: Fragments from the Cultural Biography of the Parthenon (or 'Elgin') Marbles, S. 303–320.
2. Vgl. z.B. Anm. 52, Ulrike Gleixner/Constanze Baum/Jörn Münkner/Hole Rößler (Hg.): Biographien des Buches, Göttingen 2017. Vgl. auch Anm. 15, Elizabeth Pye, 2006, die hierzu schreibt: „Eine Möglichkeit, die Akkumulation von Werten und Zustandsveränderungen zu verstehen, ist es, den Objekten Biographien zuzusprechen“, S. 241 (Übers. I. Brückle).
3. Im Sinne von „das Werk braucht diese Maßnahme”, vgl. hierzu Christina Spaarschuh/Hanne Moltubakk Kempton: Acting on Behalf of Objects? Conservators’ Reflections on Their Professional Role, in: Studies in Conservation 65, 2020, S. 358–374, hier S. 366.
4. Rosemary A. Joyce/Susan D. Gillespie: Making Things out of Objects that Move, in: Rosemary A. Joyce/Susan D. Gillespie (Hg.): Things in Motion. Object Itineraries in Anthropological Practice, Santa Fe 2015, S. 3–20.
5. Elizabeth Pye, Caring for the Past: Issues in Conservation for Archeology and Museums, London 2001, S. 11.
6. Gudrun König: Dinge zeigen, in: Gudrun König (Hg.): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübinger kulturwissenschaftliche Gespräche, Bd. 1, Tübingen 2005, S. 9–28, hier S. 18.
7. Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung. In: Museen für Geschichte (Hg.): Online-Publikation der Beiträge des Symposiums „Geschichtsbilder im Museum” im Deutschen Historischen Museum, Berlin, Februar 2011, 8 Seiten oder auf Wissen und Musen (Uni Tübingen) (eingesehen am 27.12.2021).
8. Uta M. Reindl/Ellen Wagner: Zukunftsresource Archiv. Kunst als Medium von Erinnerung und Imagination, in: Kunstforum International 220, März–April 2022, S. 42–43, hier S. 42. Die sich verändernde Betrachtung von Archivobjekten ist in einem für die Diskussion zukunftsweisenden Projekt thematisiert worden in: Ingrid Schaffner/Matthias Winzen (Hg.): Deep Storage, Collecting, Storing, and Archiving Art, München 1998. Die diesbezügliche Rolle der Restaurierung wird in dieser Publikation auch in Bezug auf die Veränderlichkeit der Wertschätzung von Objekten thematisiert.
9. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer notierte im Kontext seiner weit ausgreifenden Analyse der Bedeutung von Ambiguität in unserer zunehmend auf Eindeutigkeit gerichteten Welt, dass „Kunst als Lebensbereich die höchsten Ambiguitätsanforderungen“ stellt; siehe Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, Stuttgart 2018, S. 11. Auch aus wahrnehmungspsychologischer Sicht ist ein gewisses Maß an Uneindeutigkeit ein positives Merkmal von Kunstwerken, siehe hierzu Martina Jakesch/Helmut Leder: Finding Meaning in Art: Preferred Levels of Ambiguity in Art Appreciation, in: Quarterly Journal of Experimental Psychology 62, 2009, S. 2105-2112. Mit dem Thema ausgiebig befasst haben sich insbesondere Verena Krieger/Rachel Mader (Hg.): Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln/Weimar/Wien 2009.
GND-Begriffe
Permalink | piranesi.kunsthalle-karlsruhe.de/de/essay/14/die-werte-der-karlsruher-klebebaende
Der Permalink führt Sie immer zur neuesten Version des Beitrags.Zitierfähiger Link | piranesi.kunsthalle-karlsruhe.de/de/essay/14/die-werte-der-karlsruher-klebebaende/1
Mit dem zitierfähigen Link können Sie zukünftig auf diese Inhalte zugreifen, ohne dass Änderungen am Text vorgenommen wurden.
Kommentare
Hier können Sie uns Anmerkungen und Kommentare zu unseren Objekten hinterlassen, die nach Sichtung durch unsere Mitarbeiter*innen allen Leser*innen angezeigt werden.